Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 2/12)
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3– Teil 4 – Teil 5 – Teil 6 – Teil 7 – Teil 8 – Teil 9 – Teil 10 – Teil 11 – Teil 12
Die Form von Konflikten
Sachliche, soziale und zeitliche Ausformung von Konfliktsteigerung und -minderung
Es ist ziemlich offensichtlich, dass Konflikte sich anheizen lassen. Jeder kann mit etwas Nachdenken in jeder Beziehung und in jeder Gruppe etwas aussprechen oder tun, was mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zum Konflikt führt oder ihn verschärft: Nicht-Zuhören-wollen, Nur-Sprechen-Wollen, Verallgemeinern, Schuld zuweisen, Verabsolutieren, Kränken und Beschämen, Aburteilen, Aufregen, Drohen, Taten statt Worte, vollendete Tatsachen schaffen – die Liste ist endlos.
Gleichzeitig werden die meisten von uns von klein auf so sozialisiert, dass man Wissen und Handlungskompetenz aufbaut, wie man Konflikte mildert oder beendet: Entschuldigungen aussprechen, Nachgeben, Über-anderes-Reden, taktvoll etwas Nachsehen, Gemeinsamkeiten suchen, Worte statt Taten, Bekundungen von „Ich-habe-dich-doch-lieb“, Verhandeln, eigene Anteile benennen, Empathie für die Not des anderen zeigen, Nachdenken und Zuhören – auch diese Liste ist endlos.
Lässt sich das irgendwie ordnen? Lässt sich das in Form bringen? Ich meine ja. Im Folgenden möchte ich einen Überblick geben, wie man die jeweils einzigartige Form eines Konflikts beschreiben kann. Denn wer die Form eines Konfliktsystems zeichnen kann, der hat einen hilfreichen Ausgangspunkt, um die Stellhebel und Interventionen zu suchen, die diesen (konkreten) Konflikt beruhigen oder deutlicher werden lassen können. Je nachdem was gerade ansteht. Mit dieser Aussage möchte ich an die fundamentale These im ersten Teil der Serie erinnern:
Konflikte wie Konfliktlosigkeit können fruchtbar und furchtbar sein!
Konfliktregulation und – moderation brauchen beides: Kompetenzen für und gegen Konflikt! Zugleich wird somit schon am Anfang eine leicht skeptische Note gegenüber allgemeinen und grundsätzlichen Rezepten gesetzt, die einseitig auf Konfliktlösung und Konfliktlösungstechniken setzt.
Konfliktsysteme – so unsere These des 1. Teils – dienen dem Infragestellen und Herstellen von Ordnung. Um etwas zu regulieren, müssen Entscheidungen getroffen werden („Mehr oder weniger Hitze am Ofen? Nachtisch oder besser nicht?“). Doch welche Entscheidungen treffen Konfliktsysteme? Sie müssen die Intensität des Konflikts gestalten. Wenn man sich nun anschaut, welche Stellhebel es gibt, um Konflikte zu steigern oder sie zu mindern, dann kann man neun Felder identifizieren, in denen Konfliktkommunikation sich bewegt und unterbrochen Entscheidungen trifft. Wir nennen diese Felder die „Leitunterscheidungen der Konfliktdynamik“ (Hier ein Schaubild). Sie bewegen sich jeweils zwischen zwei Polen. Der eine Pol verschärft und steigert den Konflikt, der andere Pol mildert und schwächt ihn ab. Beides kann nützlich und schädlich sein. Ich möchte diese neun Leitunterscheidungen und ihre Pole nun zunächst hier benennen und nur rudimentär erläutern, da es zu jeder dieser Leitunterscheidungen einen gesonderten Artikel in dieser Reihe geben wird.
1. Beschreibungsmodus – Einfältig oder vielfältig?
Ein Problem oder eine strittige Situation lassen immer sehr unterschiedliche Einschätzungen der Lage zu. Selbst wenn es scheinbar so einfach ist wie bei der Frage „Zu viel oder zu wenig Salz in der Suppe?“, kann man verschiedener Ansicht sein. D.h. es gibt eine vielfältige Situation und zwei oder mehr einfältige Ansichten darüber. So entzünden und steigern sich häufig Konflikte in der Kommunikation darüber, ob ein Problem vorliegt, worin es besteht, wie es zu lösen ist, wer etwas zu tun oder zu lassen hat, wann dies geschehen soll und wohin es zu führen hat. Andersherum werden sie ruhiger und milder, wenn sich darauf verständigt wird, dass es mehrere Wahrheiten und Möglichkeiten gibt, die Situation zu sehen und diese nicht zwangsläufig gegeneinander ausgespielt und auf eine Variante verdichtet werden müssen. Einfältig auf etwas zu beharren, kann der Beginn einer Änderung des Weltbildes sein (Die Erde dreht sich um die Sonne) oder eine Dummheit, die genau eine solche Änderung zu verhindern sucht.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob ein- oder vielfältig kommuniziert wird. So nehmen sie ihre Form an.
2. Aufmerksamkeitsmodus – Generalisiert oder spezifisch?
Die berühmte Mücke, die zum Elefanten mutiert, ist sprichwörtlich geworden. Was klein – also spezifisch – anfängt, entwickelt sich – generalisiert – zu einer großen Sache. Aus einer bedeutungsarmen Differenz über die Wahl des Restaurants wird eine Grundsatzdebatte über Geld oder den Zustand der Ehe. Der Hang von Konflikten immer allgemeiner, grundsätzlicher und umfassender zu werden, ist jedem bekannt. Der konfliktverschärfende Pol hat es leichter als der konfliktschwächende Pol, der sich darin zeigt, dass man sehr genau untersucht, worin die Unterschiede im Detail liegen, wo man sich bei allem Streit einig ist oder verbunden fühlt. Dieser Pol wird oft als ausschließlich positiv gesehen, wird aber z.B. in einer Ehe, wo die Frau geschlagen wird und sie sich immer wieder klar macht, dass sie den Mann liebt und er nur „manchmal“ so gewalttätig ist, zum selbstschädigenden Verhalten und dient dem Erhalt einer ungünstigen „Ordnung“.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob generalisiert oder spezifisch die Aufmerksamkeit verteilt wird. So nehmen sie Form an.
3. Bewertungsmodus – Verabsolutiert oder unklar?
Rechthaberei gilt vielen als Kennzeichen von Konflikten. Zu recht. Solange unklar ist oder wieder wird, wer recht hat, bleibt der Konflikt milde oder schwächt sich ab. Wenn jedoch verabsolutiert von einer oder beiden Seiten davon ausgegangen wird, dass der eigene Standpunkt das einzig Wahre ist, ist dies ein probates Mittel, um den Konflikt anzuheizen. Gibt es wirklich oder vermeintlich nur eine (!) Lösung (=der eigene Standpunkt), kann und darf man nicht mehr nachgeben. Man vertritt ja in diesem Fall die richtige oder gerechte Sache und würde sich schuldig machen, wenn man dem Falschen zustimmt. Der Bewertungsmodus in dem die Konfliktparteien unterwegs sind, bestimmt, wie leicht oder schwer sachliche Kompromisse erzielt werden können bzw. ob die Form „Kompromiss“ sich für diesen Konflikt als Zielpunkt überhaupt eignet. Eine Diskussion mit einem Einbrecher darüber, wie viel er mitnehmen darf, wäre eher ungewöhnlich.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob verabsolutiert oder unklar bewertet wird. So nehmen sie Form an.
4. Kontaktmodus – Feindlich oder dialogisch?
Hat sich ein Konflikt etabliert, haben sich meist auch die Erwartungen der Beteiligten aneinander deutlich verändert. Einfach gesagt: Man erwartet nichts oder nicht mehr viel Gutes vom anderen. Das übliche Adjektiv für eine solche Erwartungshaltung ist feindlich. Den zweiten Pol des Leitprozesses „Kontaktmodus“ haben wir dialogisch genannt. Damit ist die Erwartung bezeichnet, dass die andere Partei Wertvolles zur Bearbeitung der Lage beitragen kann und es sich lohnt, darauf zu vertrauen, dass Wichtiges für einen selbst im Konflikt durch den anderen entstehen kann. Ein solches Vertrauen ist immer riskant und kann daher auch blind sein, wie eine Feindfixierung sich selbst bestätigen und damit ebenfalls blind werden kann.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob sich feindlich oder dialogisch aufeinander bezogen wird. So nehmen sie Form an.
5. Aktionsmodus – Sendend oder erkundend?
Sind zwei Lautsprecher aber kein Mikrofon im Raum, findet keine Signalübertragung statt. Auch nicht, wenn man die Lautstärke erhöht! Konfliktsteigerung geht daher im Kommunikationsstil oft damit einher, dass alle Parteien die Mitteilungen der anderen Seite zum Anlass nehmen, (neuerlich) das eigene Argument vorzutragen. Das Gesagte wird für das Gegenüber zum Reiz seinerseits zu senden. Abschwächung der Konfliktdynamik erfolgt, wenn ein Inhalt der Kommunikation für einen gewissen Zeitraum erkundend aufrechterhalten wird. Der Wahl des Pols im Aktionsmodus bestimmt also ganz wesentlich, ob und wie sehr die Bearbeitung des sachlichen Anteils des Konflikts möglich ist. Andererseits kann es nachgerade unabdingbar sein, die Inhaltsebene zu meiden und erstmal nur sendend zu protestieren, bis die Gegenpartei zum Hören bereit ist (etwa: „Wir sind das Volk!“)
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob sie sendende oder erkundende Kommunikation betreiben. So nehmen sie Form an.
6. Reaktionsmodus – Verneinend oder wählend?
Konflikte entstehen dadurch, dass jemand ‚Nein‘ zu dem Gesagten eines anderen sagt und dieser das Nein nicht akzeptiert, also seinerseits nein sagt. Dieses Doppel-Nein erhält den Konflikt am Laufen. Wenn die Option ins Spiel kommt, bei einzelnen Aussagen, die im Raum sind, zu wählen, ob man mit Zustimmung oder Ablehnung reagieren will, dann weicht dies Konflikte in der Regel auf. Der Wechsel auf alleinige Zustimmung wäre Unterwerfung. Damit würde der Konflikt enden – was natürlich immer eine Möglichkeit ist. Deswegen kann der Verzicht auf Zustimmung und die Wahl eines unerbittlichen Neins nötig sein, um aus ungünstigen Unterwerfungslagen herauszukommen und ein soziales System oder eine Beziehung in Veränderung zu bringen. Somit auch hier: Beide Pole sind nötig, sollen soziale Konflikte angemessen reguliert werden.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob sie verneinend oder wählend an Mitteilungen anschließen. So nehmen sie Form an.
7. Erklärungsmodus – Linear oder zirkulär?
Wenn der Versuch unternommen wird, Schuldfragen zu klären, kann man wissen: Man ist in einem Konfliktsystem gelandet. Der eskalationstreibend Pol besteht darin, dass diese Schuld einseitig linear beim jeweiligen anderen gesucht wird. Konflikte lieben das, da das eines der sichersten Mittel ist, wenn sie voranschreiten wollen. Der (vermeintliche) Anfang von lässt sich nämlich immer noch weiter in der Zeit nach hinten schieben. „Du hast vorhin damit angefangen!“, „Nein, ich habe das nur gemacht, weil Du gestern …!“ Usw. Der andere Pol der Leitunterscheidung „Erklärungsmodus“ ist die zeitliche Stabilität des Konflikts durch zirkuläre Aktivitäten beider Seiten zu begreifen. Geht das Konfliktsystem diesen Schritt, dann kann es sich mit der Zukunft beschäftigen und muss weniger die Vergangenheit aufklären. Beides kann nützlich und schädlich sein.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob sie lineare oder zirkuläre Ursachen in der Vergangenheit suchen. So nehmen sie Form an.
8. Zielmodus – Durchsetzend oder unentschieden?
Die berühmte Win-Win-Strategie gilt vielen als der Königsweg der Konfliktbearbeitung. Im Licht dieser Theorie ist das eine voreilige und einseitige Setzung. Die DDR-Führung hat verloren. Und man möchte sagen „Das ist gut so!“. Daher ist es wichtig anzuerkennen, dass im Hinblick auf die Frage, ob der Konflikt einen Zustand erreichen möchte, an dem eine der Parteien sich durchgesetzt haben wird, oder ob offen bleiben kann, wie das Ende für beide Seiten ausschaut, keine einseitig „richtige“ Variante definiert werden kann. Wer zu früh Kompromisse anbietet, kann sich schwächen oder ans Messer liefern. Erfahrende Verhandler wissen das. Wer von Anfang an auf Gewinnen setzt, kann übersehen, dass er die Niederlage, die er vermeiden möchte, genau dadurch heraufbeschwört. Es unentschieden zu belassen, wie der Konflikt enden soll, kann entscheidend sein. Beide Pole sind für gelingende Konfliktregulation nötig.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob sich in der Zukunft eine Partei durchsetzen soll oder es unentschieden ist, wie es für beide ausgeht. So nehmen sie Form an.
9. Machtmodus – Drohend oder verhandelnd?
Macht hat man dann, wenn man in der Gegenwart die Zukunft der anderen beeinflussen kann. „Du gehst ohne Essen ins Bett, wenn Du jetzt nicht aufhörst!“ Drohungen spielen in Konfliktkommunikation meist eine große Rolle. Selten am Anfang, aber häufig nach gewisser Zeit. Wird die Kommunikation von einem Stil getragen, der verhandelnd unterwegs ist, dann kommt der Konflikt eher in ruhigere Gewässer. Drohungen sind nicht ungefährlich, da sie eingelöst werden müssen, soll die Glaubwürdigkeit nicht leiden. Folglich kommt der Leitunterscheidung „Machtmodus“ bei Konflikt eine erhebliche Rolle zu, in der Formierung von Konfliktdynamiken. Die Regulation dieser Pole hat für die Beeinflussung von Konfliktsystemen meist hohe Brisanz und Priorität, sofern der Drohungs-Pol intensiv bespielt wird. Das Gleiche gilt, wenn Verhandlungen sich festgefahren haben. Dann können Drohungen notwendig und funktional sein. Tarifkonflikt sind dafür ein anschauliches Beispiel.
Konflikte entscheiden also kontinuierlich, ob sie in der Gegenwart drohen oder verhandeln, um Einfluss zu gestalten. So nehmen sie Form an.
Diese neun Unterscheidungen bieten ein sehr taugliches Schema, um ohne Wertungen und Normen zu untersuchen, ob die Ausformung eines Konfliktes funktional oder dysfunktional ist. Diese Frage kann dann gleichermassen die Problemstellungen wie die Interessenslagen der Beteiligten in den Blick nehmen. So ergibt sich vor allem auch für Moderationsrollen ein Analysewerkzeug, das die erforderliche Allparteilichkeit gewährleistet. Optiert der Moderator nämlich auf Lösung oder Befriedung, kann es sein, dass er schon allein damit die Interessen einer eskalierenden, aber bislang unterlegenen Partei verletzt. Zugleich lassen sich so mit den Beteiligten im Konfliktsystem gemeinsam Analysen anfertigen, die Orientierung geben, wie eine Klärung, eine Beruhigung oder eine entscheidungsfördernde Zuspitzung wahrscheinlicher gemacht werden kann. Aber dazu dann ganz am Ende dieser Artikelserie mehr.
Im nächsten, dritten Teil werde ich ausführlicher den Leitprozess „Beschreibungsmodus“erläutere. An Hand von Beispielen aus Konfliktmoderation, Teamentwicklungen und Paartherapien wird so anschaulich werden, was sich mit Hilfe der Pole einfältig/vielfältig erkennen und bearbeiten lässt.
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