Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 9/12)
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Der Erklärungsmodus
Wird nach Schuld gesucht oder verstanden, was alle zusammen zum Konflikt beitragen?
Die siebte Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
Wer ist schuld? Wer hat angefangen? Das sind beliebte Fragen in Konflikten. Fast alle wissen, dass sie Konflikte weiter vorantreiben. Dennoch werden sie gestellt, oft durchaus in guter Absicht. Wieso ist das so?
Soziale Konflikte sind zeitliche Phänomene. Daher werden sie auch zeitlich gesehen und dann passt die Frage nach dem Anfang des Ganzen durchaus. Verbunden mit dem bei uns herrschenden Denken in Ursache und Wirkung ist der Anfang dann nicht nur ein Anfang, sondern er ist eben auch eine Ursache. Und Ursachen haben Urheber. So hofft man mit der Frage nach dem Anfang den Urheber zu finden. Dieser ist – das ist das attraktive Ergebnis! – dann für die Folgen des Konflikts verantwortlich. So einfach ist es. Ist es das? Nein, ist es nicht! Jeder weiß das im Grunde und doch wird häufig so gedacht, geredet und gehandelt. Daher lohnt sich ein genauerer Blick auf die Verhältnisse.
Von der Willkür des Anfangs
Die Antworten auf Fragen nach der Ursache sind letztlich immer willkürlich. Irgendwann ist man zu erschöpft, zu ungeduldig, zu ratlos, zu interessengeleitet ist, zu uninspiriert, um noch weiter nach noch früheren Anfängen zu fragen: Was hat der Bruder getan, bevor seine Schwester ihn gebissen hat? Was hat die Frau getan, bevor der Mann eine Affäre begann? Welche Bedrohungen hat der eine Staat in den Augen des anderen aufgebaut, bevor der Krieg durch den, der sich bedroht gefühlt hat, begonnen wurde? Wer hat den Urknall verschuldet? In jedem Kontext kann man nach der Ursache der Ursache fragen! Und weil das so ist, muss man irgendwann auch aufhören zu fragen oder mit der willkürlichen Festlegung zufrieden sein.
Das ist der theoretische Grund, warum jedes Konfliktsystem immer auch dadurch gekennzeichnet ist, wie es seine Ursache begreift. Diesen Prozess erfassen wir in der Leitunterscheidung „Erklärungsmodus“ (LINK). Wird der Konflikt linear erklärt (=Ursache auf einer Seite) oder wird er als zirkulärer Prozess verstanden (= Alle tragen zum Entstehen und zum Erhalt des Konfliktes bei und sind immer Urheber und Betroffene zugleich). In jedem Konflikt ist explizit oder implizit eine Entscheidung enthalten, wie Verantwortung für den Konflikt getragen wird. Kein Konflikt kommt um diesen Punkt herum. Und wie schon bisher, auch bei diesem 7. Leitprozess unserer Konflikttheorie können beide Pole hilfreich und schädlich sein.
Der Pol „linear“ (LINK)
Erklärung wie „Du hast angefangen!“ sind das Merkmal einer sich entwickelnden und steigernden Konfliktdynamik. Konflikte machen es sich zunutze, dass Menschen wie Gruppen nicht gern beschuldigt werden. Wäre das anders, käme schwerlich ein Konflikt in Gang. Wenn auf „Du hast angefangen!“ folgt „Du hast recht. Tut mir leid!“ entwickeln sich keine stabilen Verneinungen, auf die der Konflikt angewiesen ist. Die (psychische) Abneigung, beschuldigt zu werden, ist also eine ganz wesentliche Voraussetzung für die kommunikative Wirksamkeit dieses Pols. Kombiniert ist diese Abneigung mit der Attraktivität der Position, die sich rühmen kann, die Ursache erkannt zu haben und sich damit häufig als betroffen, geschädigt, beeinträchtigt, in Frage gestellt, benachteiligt etc. erlebt. Betroffene haben es kommunikativ (!) leicht. In stabilen, geordneten sozialen Verhältnissen ist es oft nötig, dass ungünstige Betroffenheit offensichtlich werden kann. „Wir sind Opfer von schlechten Entscheidungen des Managements/der Politiker/der Behörden/der Mächtigen/etc.!“ Ganze Kriege brechen vom Zaun, weil eine Partei nicht mehr das geduldige Opfer der anderen Partei sein möchte und deshalb in Anschuldigungen gegen andere geht. Daher – Konflikte brauchen die Erklärungsform „linear“, wollen sie die Möglichkeit haben, eine bestehende Ordnung in Frage zu stellen.
Daher entdecken Kinder im sozialen Feld auch sehr rasch, wie wichtig es ist, dass man erklären kann, dass der andere angefangen hat bzw. warum man selbst das Opfer ist. Konflikte bringen uns Menschen früh bei, wie das geht. Sie sind wie eine weitere Sprache, die wir lernen: Beschuldigung ist eine der Sprachen im Land des Konflikts. Sie ist deshalb wichtig, weil der Konflikt auf der Ebene sachlichen Widerspruchs sich nur begrenzt verschärfen kann. Im sachlichen Widerspruch kann man nur sagen „Ich sehe das anders!“, aber irgendwann ist das einfach gesagt und eine weitere Wiederholung nutzt wenig. Im zeitlichen Widerspruch kann man sagen „Du bist für die Situation verantwortlich!“, besser „Du bist schuld!“. Dieser Vorwurf lässt sich zeitlich endlos wiederholen, erbitterter vortragen, mit immer wieder anderen, ungünstigen Auswirkungen verknüpfen und dem anderen signalisieren: Du bist der Täter! Dies hat fast zwangsläufig eskalierende Auswirkungen auf die soziale Ebene. Der Beschuldigte wird zum Feind, von dem nichts Gutes mehr zu erwarten ist (siehe Teil 6 der Serie). So vereinfacht sich der Konflikt seine Umwelt. Die Menschen und Teams werden schlichter, ambivalenzloser, primitiver. Wer glaubt beschuldigen zu dürfen, der fühlt sich im Recht und damit ist all die Legitimation aus der Vergangenheit gewonnen, die man braucht, um sich in der Gegenwart gegen den anderen durchzusetzen oder ihn für die Zukunft zu bedrohen.
Der Pol „zirkulär“ (LINK)
Bei der Frage, ob die Henne oder das Ei der Anfang war, gibt man besser gleich auf und wechselt zu der Einsicht, dass am Anfang beides war: Henne und Ei! Soll der Konflikt von Eskalation auf Stabilisierung wechseln, dann geschieht das auf gleiche Weise: Am Konflikt haben alle Schuld, zum Konflikt haben alle beigetragen (Zur Ausnahme siehe weiter unten):
- Die Konfliktparteien selbst,
- ihre jeweiligen vergangenen und gegenwärtigen Umwelten,
- insbesondere auch die Menschen und Gruppen, die es vorgezogen haben, sich nicht einzumischen und damit den Anfang zu verhindern.
Spielen wir die Verhältnisse an einem Beispiel durch, das sich vermeintlich für eine klare lineare Erklärung eignen würde: Jemand passt beim Ausparken nicht auf und fährt das Auto, dessen der vor ihm parkt, an! Der Geschädigte – ein Anwalt – regt sich fürchterlich auf und spricht Worte, die man nicht zitieren kann. Klarer Fall von Urheber des Konflikts, oder? Hat man im Blick, dass der Geschädigte sehr knapp – zu knapp? – geparkt hatte. Hat man im Kalkül, dass der Geschädigte dringend eine Spannungsabfuhr für sich brauchte, weil er gerade von seiner Frau verlassen wurde? Weiß man, dass es ein Firmenwagen ist und nicht der seine? Ist berücksichtigt, dass der Verursacher – ein Chirurg – dringend zu einem OP-Nottermin ins Krankenhaus musste? Alle diese „Ursachen“ kommen gleichzeitig zusammen und erzeugen eine unentwirrbare Situation, in der die Wahrscheinlichkeit von wechselseitigem „Nein-Sagen“ sehr hoch wird. Keiner der Beteiligten hat dies so haben wollen. Trotzdem haben sie den Konflikt bekommen und füttern ihn fast automatisch.
Denn – weil der Chirurg angespannt ist und der Anwalt auch, trifft Spannung auf Spannung. So kommt Dynamik ganz ohne einseitige Verursachung in Gang. Jeder hätte anders können – langsamer ausparken, großzügig und gelassen bleiben -, keiner hat es getan.
Versteht man das Prinzip der zirkulären Erklärung von Konfliktdynamiken, dann kann jederzeit genau darauf die Aufmerksamkeit gerichtet werden. Statt Anklage sucht man die Selbstanklage, statt anderen Vorwürfe zu machen, macht man sich selbst welche. Wenn man damit durch ist, hat man all das Material, das es braucht, um zu verstehen, dass es kontinuierlich Entscheidungen braucht – und eben nicht Gründe oder Anlässe im Außen -, die am Konflikt festhalten lassen.
Zirkuläres Denken ist notwendig, damit den Konfliktparteien deutlich wird, dass sie selbst es sind, die am Kampf um Schuld des anderen festhalten. Soll der Konflikt seine Aufgabe erfüllen – eine neue Ordnung und Klarheit erzeugen – dann ist die Alternative zur Klärung von Schuldfragen, ein Verständnis dafür zu erzeugen, was jeder beigetragen hat oder im gegenwärtigen Streit beiträgt. Weiß man das, kann man gemeinsam klären, ob man es auch lassen oder reduzieren kann.
Zirkuläres Denken kann allerdings auch fatal sein. Denkt man etwa an eine Ehe, in der der alkoholisierte Partner regelmäßig gewalttätig wird und in der die geschlagene Frau in der eigenen Person und dem eigenen Verhalten („Ich liebe ihn nicht genug!“), dann wird das sofort klar. Hier ist es – siehe oben – wichtig, dass die Frau „linear“ denkt und fühlt. Dann erblickt sie in dem Mann den Täter sieht und ihr eigenes Tätersein besteht bestenfalls darin, dass sie sich selbst schlecht behandelt. Hier zirkulär zu denken – Die Frau ist selbst schuld, indem sie unbewusst dazu einlädt – wäre zynisch, falsch und ein Missbrauch dieses Konfliktpols.
Fazit
Die Art und Weise, wie ein Konflikt von den Beteiligten aus der Vergangenheit erklärt wird, spielt für den Erhalt der Eskalation und den möglichen Weg in die Deeskalation eine große Rolle. Oft können die Beteiligten nicht einfach „nach vorne schauen“. Zu sehr spielen vergangene Verletzungen in denen Opfer und Täter erlebt wurden, eine zu große Rolle, um Schuldfragen einfach hinter sich zu lassen. Darum ist oft eine Aufarbeitung von linear erlebten Prozessen hin zu einem Verständnis von Zirkularität unabdingbar.
In festgefahrenen Strukturen, in denen dysfunktionale Machtverhältnisse zementiert sind, ist eine klare und ambivalenzfreie Benennung von Täter-Opfer-Beziehung unerlässlich. Hier braucht es meist lineare Zuschreibungen von Verantwortung, um überhaupt einen Konflikt zu bekommen, der sich dann anschließend bearbeiten lässt.
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