Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 6/12)
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3– Teil 4 – Teil 5
Der Kontaktmodus
Ist die Haltung der Parteien dialogisch oder feindlich geprägt?
Die vierte Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
„Du bist nicht mehr meine Freundin!“ Solche Ansagen lernen und gebrauchen Kinder schon früh. Sie entwickeln ein untrügliches Gespür dafür, wie wichtig für das soziale Miteinander (stabile) Erwartungen sind. Das soziale Feld bietet Orientierung damit die Menschen wissen, wer Freund und wer Feind ist. Diese Unterscheidung ist seit Jahrtausenden in Gebrauch, obwohl es unglaublich viel Appelle und Versuche gibt, sie zugunsten einer reinen Freundorientierung zu ersetzen: „Alle Menschen werden Brüder bzw. Schwestern!“ wäre dafür ein Beispiel. Aber wäre das wirklich wünschenswert oder nur hilfreich, wenn es sich realisieren ließe? Schon aus der Tatsache, dass die Bemühungen bislang in der Menschheitsgeschichte vergeblich waren, könnte man die Vermutung ableiten, dass das Schema Freund/Feind eine Funktion hat, die für soziales Miteinander unerlässlich ist. Unsere These hier ist, dass diese Unterscheidung unabdingbar ist, damit Konfliktsysteme sich regulieren können. Also ungefähr genauso wie Atmen nicht aufgegeben werden kann, um die Sauerstoffregulation des Körpers zu erhalten.
Vom Freund zum Feind
„Kontaktmodus“ nennen wir das Feld, in dem Konflikte die Erwartungen regulieren, die die Konfliktparteien aneinander entwickeln und pflegen. Was ist damit gemeint? Wir nehmen ein Beispiel aus dem familiären Kontext. In einer stabilen, unauffälligen und entspannten Situation sagt der Vater zur zehnjährigen Tochter „Komm, jetzt gibt Dein Handy her, heute ist genug mit Daddeln. Lass uns zusammen Essen machen.“ „Kommt gar nicht in Frage, blöder Papa!“. Die Bezeichnung „blöd“ ist ein erster Schritt von der dialogischen Erwartung des Vaters – sie wird ihm das Handy (unwirsch) geben – hin zu einer feindlichen Erwartung auf beiden(!) Seiten. Diese besteht darin, dass beide Seiten sich negativ im Hinblick auf die Wünsche des anderen einstellen und gleichzeitig mit Ablehnung der eigenen Wünsche rechnen. Es wird nichts Gutes vom anderen mehr erwartet. Das mag milde und unauffällig beginnen, aber die Verhältnisse ändern sich oft schnell. Man vermutet im anderen nicht nur ein „Nein“ auf die eigenen Anliegen, man erwartet, dass die oder der andere seinerseits etwas mitteilt, was beschwerlich ist und sich negativ auf die eigene Situation auswirkt. Beide Seiten fokussieren (zunehmend) auf die eigenen Interessen, richten ihre Aufmerksamkeit auf sich und reduzieren ihre Bereitschaft sich empathisch mit den Interessen oder Argumenten des anderen auseinanderzusetzen. Die Erwartung, dass der andere „dialogisch“ auf eigene Mitteilungen reagiert, sinkt, weil er „ja eh gegen einen ist!“. Die Leserin, der Leser mag sich selbst ausmalen, wie obige Einstiegsszene sich entwickelt und nach 5 Minuten Tochter wie Vater einander anbrüllen und gleichzeitig maßlos voneinander enttäuscht sind.
Ist der Konflikt ganz am Feind-Pol gelandet, dann lassen sich insbesondere Anschuldigungen beobachten. Das Kontaktgeschehen kann vollständig durch Schuldzuweisungen, Generalisierungen und der Botschaft „Du bist unmöglich, machst mir absichtlich das Leben schwer oder willst mich (oder meine Bedürfnisse) aus dem Weg räumen!“ geprägt sein. Jeder kennt solche Situationen und wie sehr sie alle Beteiligten innerlich einnehmen, gegeneinander aufbringen und schnelle Affekte die Kommunikation prägen. Gemeinsam ist beiden Seiten oft, dass sie sich auf der „schwächeren“ Seite sehen, der etwas widerfahren ist oder der vom anderen etwas angetan wurde (dazu mehr im 9. Teil beim Leitprozess „Erklärungsmodus“). Die Fähigkeit von uns Menschen, dem anderen von nun auf gleich das Zutrauen zu entziehen, dass er gute Motive haben könnte, auch wenn er sich anders verhält als man sich das wünscht, ist nötig, damit die Konfliktdynamik Schwung bekommt. Es gibt nicht mehr Zwei, die (unterschiedliche) gute Motive haben, sondern jeder sieht sich selbst auf der lauteren, berechtigten Position. Gründe können dafür immer gefunden werden – für die Feindseligkeit des anderen wie für die eigene Rechtschaffenheit oder Berechtigung zur „Selbstverteidigung“.
Warum ist Feindorientierung so häufig?
Wieso etabliert sich dieses Muster so verlässlich? Sich für eine Feinderwartung zu entscheiden ist riskant, weil man meist nicht weiß, wie es ausgeht. Was tun, wenn der andere nicht nachgibt? Was tun, wenn er nicht aufgibt? Was tun, wenn der Konflikt mehr Kräfte bindet, als man will oder hat? So betrachtet, wird es immer merkwürdiger, dass Feindbilder so beliebt sind. In unserem Theorieansatz sind dialogisch/feindlich die Pole der Leitunterscheidung ‚Kontaktmodus‘. Es sei hier daran erinnert, dass ein roter Faden dieser Konflikttheorie ist, dass immer beide Pole nötig und unter entsprechenden Bedingungen wertvoll sind. Es geht darum wählen zu können, sonst lassen sich Konflikte nicht regulieren, sondern werden vermieden oder enden in Zerstörung.
Bei der Unterscheidung dialogisch/feindlich scheint dieses Ansinnen besonders kontraintuitiv. Ist nicht der Dialog das, was angestrebt und erhalten werden soll? Was könnte die Funktion des so schlecht beleumundeten Pols „feindlich“ sein? Um es hier kurz zu machen: Konflikte schaffen Klarheit in unklaren Verhältnissen. Zumindest versuchen sie das. In obigem Beispiel: Es ist ungeklärt, wie das Miteinander zwischen Vater und Tochter weitergehen kann, wenn nicht entschieden wird, ob die Tochter weiterspielt oder der Vater mit ihr zu kochen beginnt. Sind auf beiden Seiten stabile und unvereinbare Erwartungen an die Zukunft im Spiel – Weiterspielen versus gemeinsames Kochen -, wird eine Entscheidung nötig. Dafür hilft eine Feindorientierung.
Konflikte brauchen den Feind: Sie brauchen ihn, um aus Symbiosen zu Lasten einer Partei auszubrechen. Sie brauchen ihn, damit beteiligte Parteien den Mut finden, mal Klartext zu sprechen, ungeschminkte Wahrheiten auszudrücken. Sonst droht die Schonung, die aus einem empathischen, dialogischen Kontakt erwächst, und die die Prägnanz des Konflikts sehr leicht überlagert. Wer mit Dialog anfängt, kommt oft nicht zum Punkt und auch nicht zum Ende. Der Konflikt schwelt und glimmt und nimmt auch auf diese Weise die Luft zum Atmen. Viele Menschen brauchen einen Feind, um wütend werden zu dürfen. Und der Konflikt braucht bisweilen Feinde, um enden zu können.
Warum ist Dialog so nötig?
Aufgrund dieser Überlegungen überrascht es nun überhaupt nicht mehr, dass der Pol „dialogisch“ in der Bewertung von menschlichen Verhaltensweisen das bessere Ende für sich hat. Er bildet ein Gegengewicht zur Macht der Feindorientierung. Moralische Aufladung ist hier Teil des Versuches die beiden Pole in ihrer Asymmetrie abzumildern bzw. die Schwelle, an der die Rücksicht fahren gelassen wird, zu erhöhen. Denn die Kosten eines Konflikts im Feindmodus können erheblich sein – Rosenkriege, Kriege, Ansehensverlust, teuer Gerichtsverfahren etc.
Dialogisch hat sich als Begriff für all jene Kommunikationsformen eingebürgert, die auf ein Miteinander, Gemeinsamkeiten und Aufeinander-Eingehen setzen. Diese Form der Bezogenheit hat also eigentlich die Funktion, die Lasten und Kosten der Feindorientierung zu vermeiden und auch in Interessens- und Auffassungsgegensätzen das soziale Feld aufrechterhalten zu können. Soziale Konflikte müssen ein Interesse haben, das Miteinander nicht bei jedem Gegensatz zu zerstören. Eben deshalb braucht der Konflikt Regulationsfähigkeit und die braucht ein äquivalentes Gegenstück zur Feindorientierung.
Im Dialog-Modus ist das Wesentliche, dass die Konfliktparteien eine kommunikative Haltung pflegen, in der eine Einflussnahme aufeinander möglich ist. Vom Feind will man nichts wissen, sondern sich nur schützen – durch Abwehr oder Angriff. Unter Dialogpartnern erhofft man sich, dass ein Geben und Nehmen von Argumenten, Anliegen, Zielen und Lösungen stattfinden kann. Der Konflikt schafft in diesem Dialog-Modus ein Klima, in dem es offen wird „Wie-der-andere-ist“. Das bedeutet nicht, dass es auf der inhaltlichen Ebene es ohne Spannung sein muss. Sachlicher Widerspruch geht auch ohne Beschuldigung oder Bedrohung. Widersprechen kann man auch Freunden. Nicht zuletzt deshalb wählen erfahrene Diplomaten in Verhandlungen oft schöne Orte, gutes Essen, gemeinsame Aktivitäten – allesamt Kulturstätten unter Freunden, um in schwierigen Situationen Bewegungen zu ermöglichen.
Fazit
Vielleicht ist es gelungen, in aller Kürze verständlich zu machen, dass Konflikte zwei Gefahren ausgesetzt sind: Sie drohen entweder die Kommunikation, in die sie sich einnisten, zu zerstören oder sie drohen durch Angst vor ihrer zerstörerischen Kraft in ihrem Klärungspotential unterentwickelt zu bleiben. Konflikte sind folglich entweder magersüchtig oder aber monströs! Regulieren lassen sie sich nur, wenn die psychischen und sozialen Systeme weder nur „konstruktiv“ noch nur „destruktiv“ sind, sein wollen oder sein müssen. Gewalt wie Gewaltlosigkeit können Schaden anrichten und Schaden abwenden. Der Mangel an Freiheit zwischen beidem zu wählen ist „der Kern im Pudel des Konfliktgeschehens“. Diese Wahl setzt auf bei den beteiligten Personen viel voraus. Man muss diese Fähigkeiten erlernen. Weil dieses Lernen oft scheitert, leben wir in einer Welt, in der Konflikte zu Kriegen werden, und in der Unterdrückung oft nicht in Frage gestellt wird. Die einen setzen sich mit Mitteln durch, wo die Folgen selbst- und fremdzerstörerisch sind, und die anderen geben nach, wo sie nicht sollten und dürften.
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