Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 1/12)
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3– Teil 4 – Teil 5 – Teil 6 – Teil 7 – Teil 8 – Teil 9 – Teil 10 – Teil 11 – Teil 12
Die Funktion von Konflikt
Herstellen und Auflösen von Stabilität
Habe ich einen Konflikt oder hat der Konflikt mich?
Diese einfache Frage führt in tief verborgene, unbewusste und verbreitete Vorannahmen über Konflikte. Gilt doch die Annahme als gesetzt, dass Menschen die Akteure von Konfliktkommunikation sind. Warum aber sollten Wesen, die Konflikte nicht mögen, gleichzeitig diejenigen sein, die sie ununterbrochen hervorrufen? Klar kann man dafür Gründe konstruieren: Die aggressive Natur des Menschen, sein Hang zum Neid, seine Fähigkeit zur Kränkung und Beschämung, die ungleiche Verteilung von Gütern, Machtunterschiede und Herrschaftsverhältnisse, Ungerechtigkeiten in der Welt, gegensätzliche Wertvorstellungen – die Liste der vermeintlichen oder möglichen Konfliktursachen ist fast endlos. Wer – wie ich – in der Tradition systemtheoretischen Denkens steht, wird bei kausalen Begründungen leicht skeptisch. Denn, Ursachen für Konflikte kann man viele entdecken. Damit hat man aber weder die Funktion eines Phänomens erkannt, noch hat man die Form erfasst, die für den Vorgang typisch ist.
Die hier startenden Reihe von zwölf Texten zur Dynamik von Konflikten versucht einen etwas anderen Zugang zu schaffen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Konflikte (= Destabilisierung) und Konfliktlösung (= Stabilisierung) eine evolutionäre Errungenschaft sind, die gar nicht entstanden wäre, wenn sie nicht Nutzen stiften würde. Wären Konflikte nicht nötig, gäbe es keine. Wären Konfliktlösungen nicht auch schädlich, wären sie nicht so labil. Wenn Konflikte für (irgendetwas) gut sind, dann heißt es noch lange nicht, dass sie für uns Menschen gut oder hilfreich sind! Vielleicht dienen sie vielmehr sozialen oder biologischen Belangen? Bringt man diese Frage nach dem Nutzen ins Spiel, landet man automatisch immer bei der Folgefrage: Nutzen – für wen oder was oder in welcher Hinsicht? Mit diesem Fokus starten wir und konzentrieren uns bei den möglichen Antworten zunächst auf zwei besonders wichtige Gesichtspunkte.
1. Die evolutionäre Bedeutung von Konflikt
Eines der erstaunlichen und nicht leugbaren Merkmale der Evolution ist es, dass sie die Komplexität des Lebens, des Bewusstseins und der sozialen Systeme immer weiter steigert. Evolution ist asymmetrisch und baut immer komplexere Ordnung auf. Dies geschieht in Ebenen und Krisen. Es wird Stabilität erzeugt und wieder aufgelöst. So entstehen Mutationen – also Alternativen zum Bestehenden – und werden verworfen oder werden zum neuen „Normal“. Das Neue kann der Feind des Alten werden oder verschwindet wieder. Ohne solche konkurrierende Alternativen ist keine Entwicklung denkbar. Neues ist selten eine einfache Verbesserung des Alten, sondern seine Vernichtung.
Ohne Konflikt kein Leben.
Gleichzeitig bleibt das Meiste stabil, aufeinander eingeschwungen, ineinandergreifend, einander nutzend und aufeinander bezogen. Gleichmässiger Rhythmus, verlässliche Erwartungen, Vertrautheit und nicht hinterfragte Erwartungen sind die Bedingung für gedeihliches Leben – biologisch, seelisch und sozial.
Ohne Konsens kein Leben.
Dynamische Systeme brauchen somit beide Fähigkeiten: Sie müssen für Bestätigung ebenso wie für In-Frage-Stellung empfänglich sein. Andernfalls würden sie entweder erstarren oder sich im Chaos auflösen. Völlige Spannungslosigkeit oder ständige Anspannung rauben jedem System seine Fähigkeit sich zu regulieren. Wer mit allem einverstanden ist, erlahmt; wer alles bekämpft, reibt sich auf. Daher kann man einfach sagen: Konflikte können, dürfen und müssen nicht gelöst werden, sondern reguliert. Konsens kann, darf und muss nicht das erstrebte Ziel sein, da sonst jede Entwicklung ersterben würde. Der Traum vom ewigen Frieden würde in der Hölle der Selbstfesselung enden. Der Alptraum des ewigen Krieges würde alle Ressourcen im Gegeneinander verbrauchen. Die Alternative liegt also in der Kompetenz, zum rechten Moment Konsens aufzugeben und Konflikt zu erzeugen oder – andersherum – Konflikte zu beenden und Konsens zu etablieren.
Wenn evolutionäre Entwicklung Spannung (=Konflikt) braucht, so ist auch Kommunikation auf Widerspruch angewiesen. Damit kommen wir zur zweiten wichtigen Funktion von Konflikt.
2. Die kommunikative Bedeutung von Konflikt
Warum sprechen wir überhaupt (miteinander)? Wäre immer klar und entschieden, dass wir zu dem, was der andere sagt, ja sagen, dann würden sich die allermeisten Gespräche erübrigen. Das kann jeder selbst mit Freunden mal ausprobieren. Es wird langweilig und nutzlos, da ja alle das Gleiche denken und reden würden. Die Funktion von Kommunikation ist es, Unterschiede zu bearbeiten. „Magst Du auch so gern Fenchel?“, „Um Gottes Willen: Nein!“, „Gut, dann ess ich ihn ganz allein, um so besser!“ oder eben „Wenn Du ihn nicht freiwillig isst, dann stopfe ich ihn Dir rein!“. Beim ersten bleibt die gemeinsame, geordnete Welt erhalten, beim zweiten entsteht Konflikt. An diesem so schlichten Beispiel lässt sich erkennen, dass Kommunikation auf Widerspruch angewiesen ist, damit sie am Laufen bleibt. Luhmann hat dies als erster in aller Konsequenz herausgearbeitet. Verständigung in Form von Konsens ist folglich immer fragil, da es sehr viel mehr Möglichkeiten gibt „nein“ als „ja“ zu sagen. Es gibt viele andere sachlich vernünftige Ideen und Vorgehensweisen. Es gibt immer unterschiedliche Interessen und die Notwendigkeit, die Zeitpunkte, an denen man beginnen kann oder glaubt fertig sein zu sollen, sind deren viele. Konflikt ist also letztlich ein anderer Begriff für Kommunikation über Unterschiede, die nicht leicht aufzugeben sind oder nicht aufgegeben werden.
Die Regulation von Unterschiedlichkeit
Konflikte regulieren zwei Formen von Unterschieden:
- Sie stellen eine vorhandene unpassende Ungleichheit in Frage – man kann das Rebellion oder Revolution, aber auch Pubertät oder Emanzipation nennen.
- Oder sie versuchen Unterschiede, die nicht bestehen bleiben können, in eine ungleiche Ordnung überzuführen – dies wird dann im Ergebnis mit Sieg/Niederlage, Kompromiss, Normgebung, Wertsetzung u.v.a.m bezeichnet.
Aber egal ob neue Ordnung hergestellt oder bestehende Ordnung in Frage gestellt wird, dienen Konflikte in beiden Fällen der Veränderung. Was verändert sich aber durch Konflikte? Konflikte verändern bestehende Erwartungen: „Bitte sei um 22 Uhr zu Hause!“, „Ich denk gar nicht dran, da geht die Party doch erst richtig los!“ Ändern sich Erwartungen („Ich bin doch keine 12 mehr!“) muss die neue Unterschiedlichkeit auch in andere Ordnungen, Regeln, Normen etc. ihren Ausdruck finden. Weder biologische, noch psychische, noch soziale Systeme sind erpicht, eingeschwungene, gewohnte und bewährte Mustern aufzugeben. Also brauchen sie jemand, der das für sie erledigt. Dieser „Jemand“ ist das Konfliktsystem! Denn Konflikte bestehen nicht aus Menschen, sondern nutzen Menschen, um ein soziales, kommunikatives System zu gestalten. Sie haben ein Eigenleben. Was ist mit dieser Aussage gemeint?
Konflikt haben ein Eigenleben
Vermutlich hat jede Leserin, jeder Leser an sich selbst schon mal erlebt, dass man sich in Konflikten selbst kaum wiedererkennt. Man sagt Dinge ohne es zu wollen, man tut Dinge, von denen man ahnt, dass man sie bereuen wird, man fühlt sich genötigt sofort und unmittelbar zu reagieren, auch wenn man weiß, dass es sinnvoll wäre, erstmal eine Nacht drüber zu schlafen, man geht Koalitionen mit Menschen ein, die einem vorher verhasst waren und bricht mit Menschen, die man gern in seinem Leben behalten hätte. Das alles ist kein Zufall, sondern hat System! Es liegt daran, dass das SYSTEM „Konfliktdynamik“ die Menschen am Wickel hat und das aus ihnen herauslockt, was die Konfliktdynamik braucht, um ihre Fortsetzung zu finden. Menschen, die im Konfliktsystem (genauer in seiner Umwelt) gelandet sind, sind nicht mehr die gleichen, die sie in anderen Kontexten sind. Der Konflikt macht etwas mit einem! Konflikte legen sich die Menschen so zurecht, wie sie für den Konflikt benötigt werden. Darum ist es erforderlich, zu verstehen, wie dieses Eigenleben von Konfliktdynamiken sich gestaltet. Welche „Formgebungsgesetze“ bestimmen die Gestalt und den Verlauf von Konflikten? Wie schaffen es Konflikte sich zu verselbständigen? Wie erhalten sie sich und wie verschwinden sie wieder? Diese Fragen sind wichtiger, als die Frage nach den Ursachen. Wichtiger deshalb, weil Überlegungen sich dann nicht mehr darauf richten können, wie Konflikte gelöst oder zum Verschwinden gebracht werden können, sondern wie man Konflikte gestalten und regulieren kann. Zerstörerisches kann dann ein Platz bekommen, wo es funktional sein könnte und Konstruktives kann daraufhin untersucht werden, wo es schädlich wird.
Die asymmetrische Dynamik von Konflikten
Beschäftigt man sich mit den etabilierten Konflikttheorien – etwa die von F. Glasl, aber auch anderen – dann fällt auf, dass fast alle Autoren und Forscher eine asymmetrische Form von Konflikten feststellen. Der wesentliche Grund dafür wurde oben schon angedeutet. Die Wahrscheinlichkeit liegt auf der Seite des Konflikts! So gibt es
- sachlich gesehen für ein Problem meist viele Lösungen, die schwer zur Kooperation zu bringen sind,
- sozial gesehen viel Eigensinn der jeweilig Beteiligten, aber nur wenige Formen der Koordination,
- zeitlich gesehen viele Möglichkeiten sich zu verpassen, aber nur einen Moment, um zur gleichen Zeit am selben Ort mit der selben Sache beschäftigt zu sein (Synchronität).
Daher sind Lösungsstreit, Widerspruch und Terminprobleme wahrscheinlicher als Ineinandergreifen von Aktivitäten, Einigkeit und gemeinsamer Rhythmus. Die Menschheit hat viele Tools entwickelt, um dieser Wahrscheinlichkeit entgegen zu wirken und sich nicht mit Dauerkonflikten zu überlasten. Regeln, Normen, Verträge, Gesetze, Tabus, Belohnungen, Bestrafungen, Ausbildung von Gewaltmonopolen, Gewaltenteilung – die Liste der Mittel, die bestimmte inhaltlichen Erwartungen sicher stellen sollen, ist endlos. Sozial hat man die Unterschiede des Eigensinns durch Rudelbildung, definierte Reviere, stabile Familien, Clans, Gilden, Stände, Rollen in Gruppen, Genossenschaften, Vereine, Organisationen, Parteien, Staaten, NGO u.v.a.m. eingegrenzt. Zeitlich ist die Erfindung der Uhr und des Kalenders das wesentliche Werkzeug, um sicher zu stellen, dass man der Zukunft Ordnung gibt. Aber alle diese Mittel können scheitern, können in Frage gestellt werden, können sich geschichtlich überleben und untauglich werden. So droht immer und überall latent der Konflikt das Kommando zu übernehmen. Also nicht weil die Menschen böse oder schlecht sind, sondern weil wir unterschiedlich sind. Die Frage, wie lösen wir Konflikte, wird dann abgelöst von der Frage, wie machen wir sie uns nutzbar? Anders formuliert: Wie kann man Sorge tragen, dass Konflikte fruchtbar und nicht furchtbar werden? Furchtbare Konflikte sind sich selbst überlassen, fruchtbare Konflikte dienen neuem Ordnungsaufbau oder dem Abbau ungünstig gewordener Stabilität. Da auch die Frage günstig/ungünstig sich nie einstimmig, eindeutig und geschichtslos beantworten lässt, ist auch darüber Konflikt möglich und wahrscheinlich.
Daher lässt sich an dieser Stelle festhalten: Wenn man es den Konflikten erlaubt, dann eskalieren sie. Sie unterliegen einer Aufschaukelungsdynamik und enden leicht in Resonanzkatastrophen. Hält man sich das vor Augen, bekommt man eine Ahnung davon, dass es anspruchsvoll sein könnte, Konflikte zu regulieren. Um zu entscheiden, ob sie hilfreich sind oder nicht, gibt es kein objektives Mass, keine Regeln, keine Normen. Dazu braucht es andere Kompetenzen. Will man diese erwerben – als Person, als Team, als Organisation, als Gemeinschaft – dann wird man nicht umhin kommen, die merkwürdige Asymmetrie in der Dynamik von Konflikten genauer zu verstehen und beschreiben zu können.
Diesem Anliegen dienen die kommenden elf weiteren Teile dieser metatheoretischen Überlegungen zur Dynamik von Konflikten. Im 2. Teil wird es darum gehen, neun Leitunterscheidungen vorzustellen, die in jeder Konfliktdynamik zu beobachten sind. Damit entsteht eine Landkarte der kommunikativen Prozesse, die Konflikte fördern oder einschränken. Je nach dem, was die Situation erfordert.
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