Klaus Eidenschink
Anders entscheiden?
Gängige Fehler beim Begründen von kritischen Entscheidungen
Seit vielen Jahren beobachte und begleite ich Manager, Vorstände und Geschäftsleitungsteams bei Entscheidungen. Fast ausnahmslos sind es Entscheidungen, bei denen viel auf dem Spiel steht. Dabei ist auffällig, dass viele Entscheider und Entscheiderteams nicht wirklich unterscheiden, wie die Situation ist, in der sie handeln müssen. Der Prozess wie sie zur Entscheidung kommen und die Art und Weise wie sie begründet wird, ist meist gewohnt und gleich. Stabile, wenngleich anspruchsvolle Verhältnisse brauchen jedoch meist ein anderes Entscheidungsverhalten als wenn die Lage, ausgesprochen neuartig ist und sich krisenhaft zuzuspitzen droht. Wer dann auf bewährte Routinen zurückgreift, droht eine kritische Zuspitzung hervorzurufen. Wenn im Folgenden der Begriff „Krise“ gebraucht wird, dann ist damit nicht ein akuter Notfall (Schiff im Taifun) gemeint, sondern eine neuartige, unbekannte krisenhafte Lage, deren Bedeutung schwer zu erfassen ist.
Bei Entscheidungen unter unklaren Verhältnissen, hohem Druck und großen Auswirkungen kommt der Begründung dieser Entscheidungen eine besonders hohe Bedeutung zu. Man kann die Fahrt in die Sackgasse oder an die Wand exzellent begründen und merkt es nicht. Dafür zu sensibilisieren, ist der Wunsch dieses Artikels.
Zunächst, man sollte meinen, dass es ein – im Bildungssystem verankertes und gelehrtes – Wissen gibt, das den Verantwortlichen in Wirtschaft wie in Politik in solchen Situationen hilft und sie vor naheliegenden Fehlern bewahrt. Dem ist aber nicht so. Die Allermeisten zehren von ihrer „Erfahrung“, machen es nach Gutdünken, sind – oft, ohne es sich einzugestehen – von Ängsten, Schuld und Scham gesteuert. Narzisstische seelische Muster, die in die einsame Rolle der heroischen Entscheider und in Bunkermentalität verfallen, verschärfen die ungünstige Lage.
Die Dynamik in den jeweiligen Teams, Gremien und Entscheidungsrunden erzeugt häufig zusätzlich schlechte Entscheidungsbedingungen:
- Mangelnde Vielfalt in den Gruppen fördert „Group Think“, also den Ausschluss von Möglichkeiten, ohne dass dies bewusst wird,
- Vorschnelle Einigungen, um bedrohliche Binnenkonflikte zu vermeiden,
- Einigung durch Ausschluss missliebiger Andersdenkender,
- Pseudo-Einigungen durch vordergründige Zustimmung und anschließend andersartigem Handeln,
- Angstfördernde Bedrohungsposen, die subtil oder explizit Anpassungsverhalten befördern.
Organisationen und politische Gremien haben häufig ebenfalls ungeschriebene Regeln, welche komplexe Entscheidungssituationen ungünstig vereinfachen oder zu gewagte Entscheidungen durch unendliche „Abstimmungsprozesse“ unmöglich machen. Machtpositionen und -prozesse werden nicht hinterfragt. All das dient der Selbststabilisierung der organisationalen Muster. Wie dysfunktional dies in Entscheidungssituationen ist, die durch Krisen, instabile soziale Gefüge, extern stimulierte Bedrohungslagen und beim Auftauchen neuartiger Herausforderungen gekennzeichnet sind, wird meist nicht erkannt bzw. hingenommen.
So ist auf allen relevanten Ebenen – Person, Team und Organisation – die Wahrscheinlichkeit hoch, dass bewährte Vorgehensweisen, die für Normalzeiten passen, in Krisenzeiten dennoch ungünstig aufrechterhalten werden. Ich liste im Folgenden die zehn häufigsten Argumentationslinien auf, die benutzt werden, um mit oft richtigen Argumenten trotzdem falsch zu liegen. Die Dramatik liegt also darin, dass in kritischen Situationen mit guten Gründen Entscheidungen legitimiert werden, die das Potential haben, großen Schaden anzurichten.
Hier nun meine Hitliste aus drei Jahrzehnten Beratungsarbeit, in denen ich Begründungen von Entscheidungen, gesammelt habe, die für „normale“ Entscheidungen sehr passend sein können und für Entscheidungen in komplexen Verhältnissen meist fatal sind.
1. „Wir können doch nicht alles in Erwägung ziehen!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil man bei begrenzter Verarbeitungskapazität immer mit begrenzter Faktenlage arbeiten muss, will man sich nicht selbst lähmen. Das Vernachlässigen von Wissen spart in stabilen Zeiten Ressourcen und kraftraubende Konflikte.
→ Das ist in Krisen eher falsch, wenn damit geleugnet wird, dass man eben sehr wohl für die Auswahl dessen, worüber man überhaupt diskutiert, verantwortlich ist. Der Tunnelblick wird so heilig gesprochen!
2. „Wer das nicht mitträgt, nimmt billigend in Kauf…!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil es unabdingbar ist, dass bei Entscheidungen in Gremien und Teams klar gemacht wird, welche Folgen es hat, wenn von der vereinbarten Entscheidung im Nachhinein abgewichen wird. So stabilisiert man die Entscheidung.
→ Das ist in Krisen eher falsch, wenn es dazu benutzt wird, durch die negative Bewertung der Folgen anderer Entscheidungsalternativen, deren Vertreter (moralisch) zu diskreditieren und damit zu verschleiern, dass auch die eigene Entscheidung ungünstige Nebenfolgen hat, die man in Kauf nimmt.
3. „Der einzige Weg, um das Ziel zu erreichen, ist …!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil es notwendig ist, für die getroffene Entscheidung entschieden einzutreten.
→ Das ist in Krisen eher falsch, wenn damit aus dem Blick gerät, dass es zum einen immer viele Wege nach Rom gibt und man immer auch diskutieren könnte, ob Rom wirklich das einzige Ziel sein kann. Wer also verschleiern will, dass das Ziel durchaus viele Alternativen hatte, neigt dazu, die Diskussion von der Wahl des Ziels zur Wahl des Wegs zu lenken. Auch hier dient die Argumentation also der Ausblendung von verworfenen oder von vornherein nicht ins Kalkül genommenen Alternativen.
4. „Wir haben gründlich diskutiert…!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil in der Tat sehr oft lange und intensiv diskutiert werden muss, um ein Einvernehmen zu erzielen, welches sich von blosser Teilnahme unterscheidet.
→ Das ist in Krisen eher falsch, weil häufig der Kreis der Diskutanten und die Wahl der Argumente zu wenig unterschiedlich sind. Beispiele? Das umfangreiche Diskutieren im CSU-Kreis wird keine Beschlüsse hervorbringen, die den Grünen entsprechen. Ein Gespräch unter Männern kann die Perspektive der Frauen nicht erfassen. Virologen gleicher Schule bilden nicht das Spektrum der Virologie ab. Unter bekannten und stabilen Bedingungen stört das nicht. In komplexen, kritischen Verhältnissen wird es zum großen Problem, da so dann nicht in den Blick gerät, dass man nicht redet, worüber zu reden wäre. Folglich hilft die Gründlichkeit einer Diskussion nichts, wenn alle ähnlich gestrickt sind.
5. „Die Experten sagen…!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil es zu so gut wie jeder Frage Fachwissen gibt, das berücksichtigt werden muss, soll die Entscheidung nicht reine Willkür sein.
→ Das ist in Krisen eher falsch, denn es gibt immer Experten, die etwas anderes sagen. Fachwissen für neuartige Sondersituationen ist in den seltensten Fällen kohärent und widerspruchsfrei. Zu jedem Experten gibt es einen Gegenexperten. Die vermeintliche wissenschaftlich oder ingenieurseitig abgesicherte Meinung des Experten wird so zum vermeintlichen Beweis einer bestehenden Alternativlosigkeit. Das „Objektivitätsdenken“ der klassischen Naturwissenschaften droht zu verdecken, wie widersprüchlich „die“ Wissenschaft ist. Daher können Experten – auch Wissenschaftler – keine Entscheidungen ersetzen. Sie sind bestenfalls Begründungsfußnoten für Entscheidungen, um die Herleitung nachvollziehbar zu machen. In komplexen Krisen weiß niemand, welche Expertise stimmt.
6. „Wir können nicht anders, weil …“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil in stabilen Verhältnissen „Sachzwänge“ bestehen, denen man sich manchmal weder entziehen kann oder darf.
→ Das ist in Krisen eher falsch, wenn man sich damit hinter etwas, was nicht mehr in Frage gestellt werden darf, versteckt. Weil „der Markt“, „der Kunde“, „der Aufsichtsrat, „der Vorstand“, „das Volk“, „die Basis“ es „so will“ oder „nicht tolerieren würde“, muss so entschieden werden. Gerade in Drucksituationen werden solche vermeintlichen Kenntnisse über externe Bedingungen gerne benutzt. Damit wird die Illusion erzeugt, jemand könne über Umweltverhältnisse ein nicht diskutierbares Spezialwissen haben. Es gibt immer Alternativen.
7. „Es ist nichts schief gelaufen!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil man immer gut begründen kann, dass bestimmte Randbedingungen der Entscheidung gesetzt waren und es daher so gut lief, wie es eben laufen konnte.
→ Das ist in Krisen eher falsch, weil damit die Entscheidung reingewaschen wird, indem man die Risiken nicht als etwas ansieht, das man sehr wohl mit in Kauf genommen hat. Man leugnet also, dass es eben doch anders gegangen wäre, wenn man über den Tellerrand hinausgesehen und z.B. für diese Entscheidung Regeln und Vorschriften, die für Normalzeiten passen, außer Kraft gesetzt hätte.
8. „Jetzt haben wir angefangen, jetzt müssen wir es zu Ende bringen!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil das vorschnelle Zurückrudern oft ein Grund ist, warum Entscheidungen sich schlecht auswirken. Eine Robustheit gegenüber Kritik und Nebenfolgen ist unabdingbar. Ohne Entscheidungsstabilität entsteht Chaos und Selbstauflösung.
→ Das ist in Krisen eher falsch, denn eine falsche Entscheidung wird nicht besser, wenn man sie nicht korrigieren kann. Daher ist robuste Konsequenz zu unterscheiden von selbstgefälliger Immunisierung. Durch Verleugnung veränderter Erkenntnisse und unerwarteter Entwicklungen wird aus Durchhaltevermögen das Fahren gegen die Wand. Was nun zutrifft, kann so gut wie nie nur im Kreis derer gefunden werden, die für die anfängliche Entscheidung verantwortlich waren. Hier schlägt die Stunde von Aufsichtsräten, Kontrollorganen, Beratern, Supervisorinnen oder guten Freunden. Verbohrtheit kann sich selbst nie im Spiegel erkennen! Dazu braucht es andere.
9. „Im Nachhinein ist man immer klüger“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil es immer richtig ist, dass man bestimmte Dinge nicht vorher sehen konnte und die auftretenden Schäden im Zuge des Vorgehens erst erkennbar werden.
→ Das ist in Krisen eher falsch, wenn mit dem Satz begründet wird, dass man nichts lernen und nicht umdenken muss. So versucht man sich, Vorwürfe zu ersparen und kann den Dialog über eigene Unzulänglichkeiten im Entscheidungsprozess kaschieren. Diese liegen häufig – siehe Punkt 4 – in der frühzeitigen Ausgrenzung Andersdenkender.
10. „Natürlich wissen wir, wie schwer das für manche sein wird…!“
→ Das ist normalerweise eher richtig, weil es bei jeder Entscheidung Verlierer und Benachteiligte geben wird und man so zu erkennen gibt, dass man das weiß.
→ Das ist in Krisen eher falsch, wenn es rational daherkommt und die Betroffenen gleichzeitig wissen (können), dass die Entscheider selbst so etwas noch nie erlebt haben und selbst nicht betroffen sind. Dann wirkt so ein Satz im Wesentlichen zynisch und wird als moralisches Feigenblatt erkennbar. In komplexen Verhältnissen ist eher wichtig, in der Begründung von Entscheidungen deutlich zu machen, dass man es nicht überblicken kann, wie schlimm es sich auswirken könnte, und es trotzdem so entschieden hat.
Fazit
Der Bezugspunkt dieser Liste sind Entscheidungssituationen, die dadurch gekennzeichnet sind,
- dass viel auf dem Spiel steht,
- die Verhältnisse neuartig und komplex sind,
- die Zahl der von der Entscheidung Betroffenen oder deren Auswirkungen hoch und intensiv sind,
- die Folgen der entschiedenen Maßnahmen ungewiss sind,
- die Situation in gewisser Hinsicht singulär ist,
- die Möglichkeiten, die Entscheidung zu bereuen, hoch sind und
- viele Ängste auf Seiten der Entscheider im Spiel sind.
Konkret können das im Großen z.B. Umstrukturierungen und Strategiewechsel großer Organisationen, groß angelegte Hilfsaktionen in globalen Krisen, die gegenwärtige Pandemie, Fusionen großer Unternehmen sein. Im „Kleinen“ fallen Entscheidungen zu Studien-, Berufs- und Partnerwahl, Kinderkriegen, Trennungen, Kündigungen oder größere Investitionen darunter Im Mittleren kann man etwa an Unternehmensgründungen, Expeditionen, Nachfolgeregelungen, Stadt- oder Schulentwicklun-gen u.v.a.m. denken.
Zusammenfassend – was sind für Personen, Teams und Organisationen in Krisenzeiten die größten Fehler beim Entscheiden?
- Auf Seiten der handelnden Personen ist der größte Fehler, sicheren Boden zu erwarten und zu suchen. Es gibt hier keine Regeln, keine Rezepte, keine Gewähr. Darum ist die immerwährende Bereitschaft zur Selbstkorrektur, zur Demut und zum Loslassen-Können eigener Meinungen so bedeutsam.
- In Teams ist der größte Fehler, dass man sich zu ähnlich ist. „Group Think“ nennt die Forschung das. Gleichschaltung des Denkens durch mundtot machen, abbügeln, ausschließen oder dergleichen lässt sich leider immer wieder beobachten. Wenn in Krisenmomenten unbequeme Meinungen, abweichende Voten und auch heftige Konflikte keinen Platz in der Kommunikation finden, dann verarmt der Entscheidungsraum und man sieht gemeinsam nicht, wie blind man geworden ist.
- In Organisationen und politischen Strukturen ist der größte Fehler, mangelnde Transparenz über den Weg zur Entscheidung und die verworfenen Alternativen herzustellen. Die Kommunikation von Entscheidungen und Entscheidungsprozessen wird in komplexen Kontexten wichtiger als die Entscheidung selbst. Denn passende Entscheidungen, die nicht befolgt und untergraben werden, helfen nicht. Stabile Spaltungen auf der sozialen Ebene schwächen die Organisation immens. Unpassende Entscheidungen, die nicht mehr diskutierbar und revidierungsfähig sind, entkoppeln und entbinden Andersdenkende von den Entscheidungen.
Bei Entscheidungen in komplexen und kritischen Lagen kommt es also sehr viel mehr auf den vorgängigen Entscheidungsprozess, die Entscheidungskommunikation und das Überwachen der Entscheidungsfolgen an, als dies in stabilen und bekannten Verhältnissen der Fall ist. Kennt man die Verhältnisse, dann kennt man in der Regel auch die Wege, die man grundsätzlich gehen könnte. Sind die Verhältnisse neu, werden die Entscheidungen am Anfang sehr leicht zu Scheuklappen. Es wird zu viel ausgeschlossen und bleibt für alles Folgende unberücksichtigt. Das sorgt natürlich für Stabilität. Genau darin liegt aber die Gefahr: Wenn dann diese Stabilität heiliggesprochen wird und als unantastbar gilt, dann geraten zu viele sachliche Alternativen, zu viele Interessen oder zu viele künftige Möglichkeiten aus dem Blick. Die Entscheidung fährt sich quasi selbst fest. Sie wird Opfer ihrer eigenen Geschichte und findet aus der selbsterzeugten Verengung nicht mehr heraus. Je länger also eine Krise andauert, desto wichtiger wird es, Andersdenkende, Kritiker und Gegner zu hören, einzubinden und sich für deren Alternativen offen zu halten. Sonst führt die Selbstverliebtheit derer, die an der „Macht“ sind, dazu, dass sich das Team, die Organisation oder die Gesellschaft spalten. Diese Spaltung führt zu einem Zustand, der so gut wie immer die Krise weiter verschärft. Beispiele für genau diese Vorgänge gibt es in der gegenwärtigen Lage von Wirtschaft und Gesellschaft genug.
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