Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 8/12)
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Der Aktionsmodus
Ist die Kommunikation im Konfliktfall in Sende- oder Erkundungsaktivität?
Die sechste Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
Ist die Kommunikation im Konfliktfall in Sende- oder Erkundungsaktivität?
Üblicherweise gilt es ja als höherwertig, wenn jemand Fragen stellt und anteilnehmend zuhört, als wenn er andere zutextet und mit dem virtuellen Megafon seine Sendung der Welt zustellt. In Konfliktkommunikation nehmen häufig beide Seiten ein derartiges Megafon in die Hand. Alle senden, keiner empfängt. Nur Lautsprecher, keine Mikrofone. Das scheint mir der Grund zu sein, dass der Pol „Sendend“ unserer 6. Leitunterscheidung „Aktionsmodus“ einen eher schlechteren Ruf hat als sein Gegenspieler „Erkundend“.
Der Pol „Sendend“ und seine Funktion
Daher möchte ich mit einem Beispiel anfangen, welches illustrieren soll, dass es für soziale Konflikte sehr funktional sein kann, auf jegliches Erkunden und Eingehen auf andere zu verzichten. So gut wie alle sozialen Protestbewegungen senden ihre Botschaft laut, deutlich, oft zugespitzt, vereinfacht und anhaltend in die Welt: „How dare you?!“ wurde zum Wahlspruch von Friday for Future. Der Konflikt wird gesucht. Der Konflikt wird auch nicht gleich wieder beendet. Die Bereitschaft, die – bekannten – Argumente der Gegenseite zu hören und zu erkunden, warum das alles nicht so schnell geht und nicht so einfach ist, ist wenig ausgeprägt. Zu Recht. Denn in solchen Fällen – ein eingespieltes Machtsystem, welches für aus seiner Sicht radikale Ideen nicht offen ist – braucht sehr häufig ein Megafon, um überhaupt in eine Auseinandersetzung einzutreten. Der soziale Konflikt muss erst virulent werden. Diese asymmetrische Machtstruktur – eine Seite will von den Anliegen einer anderen Seite nichts wissen – gibt es im Kleinen (Familie, Team, Verein, Gemeinderat etc.) wie im Großen (Politik, Organisationen, Verbände etc.). Die ungehörten, unterrepräsentierten oder vernachlässigten Kräfte brauchen den „Senden“- Pol des Aktionsmodus, um die andere Seite zu „zwingen“, sich für Mitteilungen zu interessieren, die sie bislang erfolgreich ignorieren konnten.
Die sinnvolle Funktion von „Senden“ kann es also sein, aus einem verborgenen Konflikt einen offenen werden zu lassen. Dabei sind Haltungen wie stur, verbohrt, ausufernd, über die Stränge schlagend, uneinsichtig, unbeeindruckbar, konfrontierend, selbstbezogen u.v.a.m. von hohem Wert. Das Konfliktsystem sucht sich geradezu Menschen, die solche Features bereitstellen können. Jeder hat selbst vermutlich Personen vor Augen, die in solchen Konfliktlagen Rollen und Führung übernehmen. Sie machen in Konflikten Karriere und finden Gefolgschaft. Sie werden zur Identifikationsfigur, hinter der sich andere versammeln. So entsteht im sozialen Feld die nötige Wucht und ggf. die mediale Aufmerksamkeit, die es braucht, damit über bestimmte Themen auf „Augenhöhe“ diskutiert werden kann.
Der Pol „Erkundend“ und seine Funktion
Wird immerzu von beiden Seiten gesendet, eskaliert auf Dauer der Konflikt oder die Konfliktparteien verlieren das Interesse an der Kommunikation und brechen sie ab – sofern sie das können. In Ehen, Familien, Teams, Tarifkonflikten, Koalitionsverhandlungen, Rechtsstreitigkeiten etc. ist das ja oft keine so leicht zu wählende Möglichkeit. Auch wenn man das, was der andere sagt, schon längst nicht mehr hören kann und will. Will man also ins „Gespräch kommen“, muss man hören, was der andere sagt und darauf Bezug nehmen. Man muss eigene Inhalte zurückstellen und sich mit den vorgetragenen Inhalten beschäftigen.
Dieser Schritt ist deshalb in Konflikten anspruchsvoll, weil er häufig von einer Seite wie eine Art Vorleistung erbracht werden muss. Wer im Aktionsmodus auf Erkundung umschaltet, weiß in der Regel nicht, ob der andere das zu einem späteren Zeitpunkt auch tun wird. Im Gegenteil, man läuft Gefahr, dass dies eher „ausgenutzt“ wird: „Jetzt, wo Du schon mal zuhörst, will ich Dir auch noch sagen…!“ Spätestens dann erstirbt oft der Wille zum Erkunden wieder und der Konflikt landet neuerlich beim Sende-Pol. Daran wird die Selbststabilisierung des Konflikts auf dem Sende-Pol verständlich. Der Erkundungs-Pol ist der unattraktivere. Es nimmt nicht Wunder, dass sich daher die eingangs geschilderte Wertung dieses Kommunikationsverhaltens verbreitet hat. So wird die Regulation des Konflikts leichter, weil das Risiko für den Gesprächsverlauf durch eine Aufwertung der Selbstsicht – „Wir sind hier die Konstruktiven!“ – bisweilen ausgeglichen wird.
Die Funktion von Konfliktberatung
Grundsätzlich liegt in diesem Leitprozess auch eine besondere Bedeutung von Konfliktberatung. Das Konfliktsystem wählt ohne Rahmensetzung und äußere Begrenzungen (Ressourcen, Zeit, etc.) eine Aktion-Reaktions-Form, die sich aufschaukelt. Das liegt daran, dass es grundsätzlich unwahrscheinlich ist, dass die Konfliktparteien gleichzeitig die Pole wechseln. Hier kommt Beratung ins Spiel. Ein Konfliktmoderator – das kann im Einzelfall auch einer der Beteiligten sein – kann vorschlagen, dass sich nun alle mal auch damit beschäftigen, was der andere (aus dessen Sicht) gesagt hat und nicht nur selbst zum anderen kommunikativ vordringen wollen. Nur so kann sich die Form des Konflikts verändern.
Auch für den gegenteiligen Fall – dass eine Partei nie und die andere immer sendet – braucht es oft Unterstützung von außen. Ohne die Ermutigung durch Rückendeckung und Schutz von Dritten (Freunde, Anwältinnen, Hilfsorganisationen, Moderatorinnen, Vorgesetzte etc.) finden Menschen und Gruppen, die sich chronisch nicht vertreten und behaupten (können), nicht aus dem kalten Konflikt mit anderen heraus, die das bewusst oder unbewusst ausnutzen. Diese Rolle ist für Berater im Außen besonders heikel, da dies von den „Profiteuren“ leicht als „Aufhetzen“ der anderen Partei und überhaupt als Parteinahme interpretiert wird. Daher meiden Konfliktmoderatoren solche Intervention unbewusst häufig, da sie es mit der Allparteilichkeit ihrer Rolle nicht vereinbar halten. Das erscheint im Licht dieser Konflikttheorie als ein Fehler. Es gilt stattdessen: Der Partei, die das „Sende-Recht“ okkupiert hat, zu helfen zu erkennen, welche enormen Nachteile und Risiken ein solches asymmetrisches Muster auf Dauer haben kann.
Der Sonderfall „Führung“
Es ist relativ offensichtlich, dass immer dann, wenn Rollen ins Spiel kommen, die in ihrer Funktion beinhalten, dass „gesendet“ wird, die Leitunterscheidung Aktionsmodus in ein besonderes Licht kommt. Führung – egal ob als Eltern, Vereinsvorstand, Managerin, Unternehmer, Lehrerin etc. – muss senden. Muss sie auch zuhören und erkunden können? Ja – mindestens im Krisenfall! Ein Lehrer, der Mathe erklärt, muss dann erkunden können, wenn die Schüler mit dem Unterricht nicht klarkommen. Eine Managerin, die eine Entscheidung trifft, muss erkunden können, warum ihre Entscheidung nicht befolgt wird. Besteht dieses Reflexionsvermögen nicht, drohen die Rollen, die mit Senden verknüpft sind, im Krisenfall sofort in ein Konfliktsystem zu wechseln. Das ist also der theoretische Grund, warum Führungskräfte wie Eltern lernen sollten, zu erkunden. Können sie nicht zwischen den beiden Polen des Aktionsmodus „senden/erkunden“ wählen, kommen sie aus Konflikten überhaupt nicht mehr heraus.
Fazit
Die Leitunterscheidung Aktionsmodus lenkt die Aufmerksamkeit der Beteiligten des Konfliktsystems auf ihr eigenes, aktives Mitteilungsverhalten. Der Konflikt richtet im Eskalationsfall die Kommunikation der Beteiligten auf das, was sie sagen wollen und zieht die Aufmerksamkeit ab von dem, was andere mitteilen. Die Mitteilungen anderer werden zum bloßen Reiz, um selbst wieder etwas sagen zu wollen. Eine solche Konfliktatmosphäre hat einen hohen Ansteckungswert. Alle reden im Zuspitzungsfall gleichzeitig und durcheinander. Die meisten kennen solche Situationen. Nimmt man das hier Geschriebene ernst, gibt es in dem Fall eine einzige Regel, um die desintegrative Form des Konflikts zu bremsen und die ordnende Funktion zu aktivieren: Es muss Erkundungsaktivität ins Spiel kommen. Konfliktpausen wie Durchatmen, Spazierengehen, Verhandlungsunterbrechungen etc. sind unerlässlich. Diese Art von Regulationskompetenz verlangt innerpsychisch und gruppendynamisch den Beteiligten einiges ab. Je weniger Selbstwert, je weniger Urvertrauen, je weniger Bindungssicherheit, desto verbissener müssen Menschen am Kampf ums Reden festhalten und anderen sagen, was Sache ist. Je weniger Verbundenheit, je weniger Vertrauen ineinander, je weniger geklärte Rollen untereinander, desto eher werden sich Teams schwertun, den Erkundungspol einzunehmen.
Menschen, die auf der Seite des Erkundungspols beheimatet sind, fehlt oft die Freiheit, Kraft und Durchsetzungsstärke in sich zu mobilisieren. Sie neigen dazu, das Erkunden heilig zu sprechen – Zuhören ist gut! – und diejenigen, die sich lautstark hervortun, abzuwerten, ihnen aus dem Weg zu gehen oder mit ihnen in symbiotische Beziehungen („Kämpfe Du für mich!“) zu gehen. Das führt zu allem möglichen, nur nicht zu eigener Regulationskompetenz. Vergleichbares gilt für Teams.
So ergibt sich also auch bei dieser Leitunterscheidung der Befund: Konfliktsysteme, die auf Menschen und Gruppen mit wenig Regulationskompetenz stoßen, werden rasch dysfunktional eskalierend oder ungünstig starr. Sollen Konflikte ihre fruchtbare Funktion für Gesellschaft und Gemeinschaft erfüllen, brauchen sie Menschen, die sowohl loslassen wie kämpfen können, sie brauchen Teams, die sich untereinander stärken können, um sich zu behaupten, und die sich untereinander, bremsen können, wenn es gilt, Fremdes und scheinbar Falsches oder Feindliches zu erkunden.
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