Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 7/12)
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3– Teil 4 – Teil 5 – Teil 6 – Teil 7 – Teil 8 – Teil 9 – Teil 10 – Teil 11 – Teil 12
Der Reaktionsmodus
Sind die Konfliktparteien auf Widerspruch (=Nein) oder auf Wahlmöglichkeit (= Nein oder Ja) ausgerichtet ?
Die fünfte Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
Die Leitunterscheidung ‚Reaktionsmodus‘ ist ganz besonders wichtig zu verstehen. Wird an ihr doch besonders deutlich, was es heißt, dass ein Konflikt ein Eigenleben führt. Zur Illustration ein alltägliches Beispiel: Person A: „Könntest Du die Musik leiser stellen?“; Person B: „Jetzt soll ich mich schon wieder nach Dir richten! Kann ich nicht einmal so laut hören, wie ich will?“. Person A: „Du hast doch erst gestern laut Musik gehört, als ich nicht da war, wie Du mir erzählt hast. Dann geht es doch jetzt wohl ein wenig leiser!“
Zur Eigendynamik des Widerspruchs – oder von der Macht der Rückbezüglichkeit
Um Konflikte zu verstehen, muss man sich ein paradoxiefähiges Denken erarbeiten. Ich gehe das Beispiel oben diesbezüglich Schritt für Schritt durch und bitte die Leser die denkerische Anstrengung ggf. mitzumachen.
Person A hat eine Mitteilung gemacht und dabei die Erwartung gehabt, dass seine Bitte bei B auf ein positives Echo stößt. Er hat also keinen Konflikt begonnen. Aber er gibt den Anlass zu dem Konflikt. Denn – ohne diese Mitteilung, gäbe es nichts, was B nun mit „Nein“ beantworten könnte. Dass sich eine Konfliktdynamik entwickelt, entscheidet also nicht die Aussage von A, sondern das Verstehen von B und dessen Entscheidung nicht nur anderer Meinung zu sein, sondern A zu widersprechen! Denn B versteht die Mitteilung als Dominanzwunsch gegen den er sich wehren möchte. Für dieses Wehren entscheidet sich B aus eigenem Antrieb, nicht (kausal) wegen der Aussage von A. Dass seine Mitteilung Anlass für einen Konflikt wird, konnte A vor der Reaktion von B gar nicht wissen. Gleiches gilt nun allerdings auch für B. Er kann nicht wissen, ob A nun einfach sagt „Gut, dann geh ich in den anderen Raum!“ oder ob er – wie oben – die Dominanzvermutung von B geflissentlich überhört und auf der Sachebene die Diskussion im Sinne seines Wunsches führt und weiter im Widersprechen bleibt. Also auch hier entscheidet die Antwort über die Wirkung der Aussage, auf die sie reagiert.
Der Konflikt ist also durch Widersprechen „in Gang gekommen“ und mit jedem Gesprächszug wird die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein Nein des Reagierenden die Aussage vorher als Beweis für die Notwendigkeit weiteren Widerspruchs ansieht. Der Widerspruch – Nein! – verdoppelt in gewisser Weise die Kommunikation: Er stellt fest, dass es zum einen unterschiedliche Meinungen über etwas gibt und dass es zum anderen darauf ankommt eine der beiden Meinungen abzulehnen! Es wird also immer kommuniziert „Ich sehe es anders UND ich lehne deine Sicht ab!“ Damit wird die Konfliktdynamik stabil.
Der Konflikt beginnt sich durch sich selbst zu nähren – solange bis mindestens einer Ja sagt (=sich unterwirft) oder nichts mehr sagt (=geht) oder anfängt den Kommunikations-Pol in seinem Reagieren zu ändern. Man kann nicht wählen, wie man verstanden wird. Man kann nur wählen, wie man versteht und reagiert.
Der Pol des Widerspruchs: „Verneinen“
Der große Trumpf des „Verneinungspols“ ist seine Geschwindigkeit und seine Eindeutigkeit im Widerspruch. Es geht dann vielleicht auch noch um die Sache, aber es geht eben auch immer um den Widerspruch. Daran hängt auf Seiten der Konfliktbeteiligten oft die Notwendigkeit zur Abwehr unangenehmer Gefühle wie Ohnmacht, Ängste, Minderwertigkeit, Verlust, Demütigung, Scham, Schuld etc. Je mehr dieser inneren Vermeidungsstrategien virulent sind, desto wahrscheinlicher bleibt der Widerspruch – auch und gerade dann, wenn die Unterschiede in den Sachperspektiven das schon längst nicht mehr hergeben. Die Funktion von Verneinung für die Selbststabilisierung der am Konflikt beteiligten Parteien (Personen wie Gruppen) wird häufig unterschätzt. Bei Kindern lässt sich dieses „Hineinsteigern“ besonders gut in Reinform beobachten.
Sich vom Widerspruch zu lösen, fällt den Konfliktparteien also meist eher schwer als leicht. Und zwar aus Gründen, die nicht nur in den psychischen Notwendigkeiten liegen, sondern sich aus der Dynamik der Konfliktkommunikation speisen. Wenn nämlich Person B entscheidet, was A gesagt hat, dadurch dass B dem A unterstellt, das gesagt zu haben, wogegen B in Widerspruch geht, ist A einem hohen Sog ausgesetzt, seinerseits dem von B unterstellten, zugeschriebenen Sinn zu widersprechen. Jeder widerspricht also dem vom anderen unterstellten Sinn seiner Aussage, die dieser braucht, um selbst widersprechen zu können. Komplizierter Gedankengang? Ja, wie immer, wenn Rückbezüglichkeiten und zirkuläre Prozesse ins Spiel kommen! Aber diese Form der Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten erzeugt die eindeutige und stabile Form des sozialen Konflikts.
Jeder der Beteiligten hat die Macht, dass er selbst anfängt (wieder) zu „wählen“, den anderen so zu verstehen, dass er darin nichts hört, dem er widersprechen will. Denn darin ist jeder Konfliktbeteiligte frei: Er muss nicht widersprechen. Zwischen Ja, vielleicht, unentschieden, unverständlich, nein und weiteren Möglichkeiten zu entscheiden, ist aufwändig, mühsam, auf keinen Fall nur mit guten Gefühlen verbunden und immer riskant.
Der Pol „Wählend“
Was muss geschehen, damit der Konflikt wieder die Option bekommt, zu wählen, wie geantwortet wird? Man kann das Nein verweigern, indem man „Ja“ sagt oder aufhört zu kommunizieren. Wie kann der Konflikt anders als durch Komplettunterwerfung einer Seite oder durch Abbruch der Kommunikation enden? Dazu braucht es Regulation und diese besteht in der Freiheit, eine andere Wahl als Verneinung zu treffen.
Das geht oft nur, wenn der Konflikt sich reflektiert. Es braucht eine Kommunikation, in der alle Beteiligten sich gemeinsam der Frage widmen, wie es von statten geht, dass man immer etwas hört, dem man anschließend widersprechen will. Es geht also beim Pol „Wählend“ gerade nicht darum „Ja“ statt „Nein“ zu sagen. Das wäre keine Regulation des Reaktionsmusters, sondern nur seine Umkehr. Es geht um die Befreiung vom Sog zum Nein. Damit ist auch schon ein erster Hinweis enthalten, was Menschen hier motivieren könnte: Das Gefühl, dem Konflikt zu dienen, ist alles andere als angenehm. Die Sehnsucht, dafür frei zu sein, den anderen so zu verstehen, dass man nicht widersprechen muss, sondern abwägen kann, muss irgendwie wieder ins Spiel kommen. Sonst bricht der Konflikt ab oder geht endlos weiter.
Was unterstützt Menschen in der Entscheidung, sich nicht auf Widerspruch festzulegen? Und was lässt das soziale System nach zustimmungsfähigem Sinn fahnden, den alle in das von anderen Gesagte hineinlegen können? Um die Antwort zu finden, muss die psychische Ebene von der sozialen unterschieden werden.
- Psychisch geht darum, die Abhängigkeit von den eigenen Projektionen zu erkennen. In Konflikten werden die anderen (im eigenen Erleben) so, wie man sie braucht, um ihnen zu widersprechen. Wer sehen kann, dass die anderen, anders sind, als man sie sieht, wird frei von den eigenen Festlegungen. Wer das nicht tut, wird zum Sklaven der eigenen Projektionen. Diese Selbstversklavung dient häufig der eigenen Stabilisierung und der Abwehr unangenehmer Empfindungen wie Scham, Schuld, Trauer und Entwertung. Darum wählen Menschen oft lieber den Kampf im Außen als schlechte Gefühle im Innen. Für Berater ist es daher oft besonders wichtig, die Aufmerksamkeit der Konfliktparteien auf den inneren Konflikt zu lenken, der den Widerspruch im Außen nötig macht. Das geht selten nur intellektuell, sondern setzt ein Einlassen auf die Selbstwahrnehmungsebene voraus, gewollt oder ungewollt. Der Fähigkeit des Beraters das Vertrauen der Menschen an seine Person zu binden, ist folglich von enormer Bedeutung.
- Soziale Systeme bilden Regeln aus, die Widerspruch erleichtern oder erschweren. „Den Eltern/dem Chef widerspricht man nicht!“ ist etwa so eine alte, aus der Mode gekommene Erschwernis. Solche Regeln unterbinden in vielen Fällen die Verneinung. Ist die Schwelle diese Regel zu brechen erstmal überschritten, wird der Konflikt jedoch meist schnell scharf. Andersherum: Ist Widerspruch durch Regeln des sozialen Miteinanders erleichtert, tun sich Konfliktsysteme leichter sich zu regulieren. Wenn Kritik beispielsweise grundsätzlich auch gegenüber Hierarchie willkommen ist, muss die Chefin/der Chef sie nicht persönlich nehmen! Die Normalisierung von Widerspruch schafft für soziale Systeme einen gewissen Schutz davor, dass sich Konflikte rasch etablieren und verfestigen. Denn auch im Konfliktfall kann man sich dann wechselseitig an die „eigentlich“ gültige Regel erinnern, dass der Konflikt willkommen ist. Dies erleichtert eben dann die Wahl zwischen Ja und Nein. Konfliktmoderation ist ihrerseits ein Rahmen, in dem Widerspruch erkundet und auf seine Grundlage hin untersucht werden kann. Allein dies bringt oft Entlastung bzw. Freiheiten ins Spiel. Stellen dann beide Seiten fest, wie sie zu oben beschriebenem Zirkel beitragen – „Ich unterstelle Dir, dass Du das gesagt hast, wogegen ich mich empöre, so dass Du in meiner Empörung leicht etwas hören kannst, was Dich gegen mich aufbringt!!“ -, dann entstehen Reflexions- und Handlungsräume. Diese können dann Stück für Stück andere Arten der Verständigung wieder ermöglichen, die man nicht Konflikt nennt.
Die Wichtigkeit beider Pole
Auch bei dieser Leitunterscheidung für Konfliktdynamiken ist es wichtig im Auge zu behalten, dass beide Pole hilfreich und schädlich sein können – für was, wen oder wann auch immer. Viele verdeckte Konfliktlagen können sich nur verflüssigen und neu ordnen, wenn eine Partei entschieden aufbegehrt und widerspricht, egal was die Gegenseite an Argumenten ins Feld führt. Das ist oft dann besonders wichtig, wenn es keine Gleichheit in der Fähigkeit gibt, rhetorisch und argumentativ geschickt zu formulieren. Ein Nein, welches Nein bleibt, auch wenn es sich nicht „vernünftig“ begründen kann, ist oft unerlässlich, um Konfliktsymbiosen aufzubrechen.
Ebenso kann es dysfunktional sein, zu früh oder am falschen Thema den guten Willen oder gute Absichten in den anderen hineinzulesen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es von der Gegenseite genutzt wird, um mit einigen nachrangigen und nicht-entscheidenden Zugeständnissen den Konflikt wieder ruhig zu stellen. Der Nutzen der Renitenz und der Schaden des Konstruktiven gilt es als Beteiligter wie als Moderator eines Konflikts immer im Auge zu behalten.
Fazit
Der Leitprozess „Reaktionsmodus“ ist für die Stabilität und Verflüssigung von Konfliktlagen von immenser Bedeutung. Die Zirkularität wie Konfliktparteien die Mitteilungen der anderen Seite so auswerten, dass nichts anderes zu bleiben scheint, als den unterstellten Sinn von sich zu weisen, ist gewaltig. Das ist wichtig zu verstehen. Ist doch die Energie daran gebunden, dem Anderen(!) zu beweisen, dass man nicht gesagt hat, was er verstanden hat. Dieser Versuch ist ebenso verständlich wie fatal und wirkungsarm. Besser ist es, wenn man grundsätzlich seinen Frieden damit macht, dass einem andere im Konflikt „Falsches“ unterstellen. Weil viele Menschen es nicht aushalten und stehen lassen können, wenn sie aus ihrer Sicht „falsch“ verstanden worden sind, eignen sie sich so großartig für das soziale System „Konflikt“. Daher geht nichts ohne den Willen, dass man immer und ausnahmslos davon ausgehen muss, dass man in seinem eigenen Reagieren dem eigenen Verstehen des anderen widerspricht – und nicht dem, was der andere gesagt hat. Man bekämpft also im Grunde immer sich selbst. Diese Einsicht macht frei, weil darüber, wie man andere verstehen will und wie man auf sie reagieren will, hat man Kontrolle. Wenn man will…!
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