Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 10/12)
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3– Teil 4 – Teil 5 – Teil 6 – Teil 7 – Teil 8 – Teil 9 – Teil 11 – Teil 12
Der Zielmodus
Zielt der Konflikt auf das Durchsetzen einer Partei oder ist unentschieden, wie eine Klärung aussehen könnte?
Die neunte Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
Die 9. Unterscheidung im Konfliktmodus, die hier erläutert werden soll, besteht aus Durchsetzen oder den Ausgang unentschieden halten. Unentschieden heißt, dass offen ist, ob sich im Konflikt eine Partei durchsetzt, ein Konsens gefunden wird oder ein Kompromiss gesucht wird. Doch zunächst zum Durchsetzen!
Der Pol „Durchsetzend“
Wer möchte sich in Konflikten nicht durchsetzen? Eben, kaum jemand! Deshalb eskalieren Konflikte so leicht – beide wollen gewinnen. Wenn gegensätzliche Kräfte – etwa Bizeps und Trizeps – sich gleichzeitig anspannen und durchsetzen wollen, führt das zum Krampf. Wenn soziale wie psychische Systeme auf „durchsetzen“ setzen, dann ist ein Ende dieses Konfliktsystems nur möglich ist, wenn jemand den Verlierer macht. Ohne die Kompetenz eines der Beteiligten, zu verlieren, bleibt nur Vernichtung (was ja auch eine Form des Verlierens ist). Durchsetzungsstrategien sind demnach für die Beteiligten riskant, da man entweder in ein endloses Geschehen eintritt oder in Gefahr kommt, unfreiwillig verlieren zu müssen. Der Konflikt selbst bleibt am Leben, solange niemand verlieren will. Dieser Gesichtspunkt – Fritz B. Simon betont dies auch stark – wird leicht übersehen. In einen Konflikt einsteigen ist leicht, aus ihm wieder herauszukommen – das ist die eigentliche Schwierigkeit. Darum schadet Selbstreflexion gemäß dem lateinischen Sprichwort „Was immer Du tust, bedenke das Ende!“ in konflikthaft sich entwickelnden sozialen Situationen überhaupt nicht.
Warum Durchsetzen?
Woher kommt diese Neigung am Durchsetzen, am Gewinnen, am Stärker sein? Darüber ist psychologischerseits viel geschrieben worden. Freud nannte es Aggressionstrieb, der nicht getilgt, nur gemässigt werden kann. Ich halte den eigentlichen Grund für einen anderen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, Konflikt ist ein soziales Phänomen. Da liegt es aus meiner Sicht nahe, die Begründung für das Phänomen „Durchsetzen (gegen andere)“ primär auf der sozialen Ebene zu suchen. Wofür braucht es für das Zusammenleben von Menschen den Willen zur Durchsetzung? Soziales Miteinander bedarf einer Ordnung. Diese Ordnung kann und darf nicht vollkommen stabil sein und erstarren. Sonst würde sich nichts mehr verändern. Soll sich aber etwas verändern, dann geht das „Neue“ oder „Andere“ mit der bestehenden Macht in Konkurrenz. Veränderung von sozialen Verhältnissen braucht Konflikte, bei denen eine (neue) Kraft in den Ring steigt.
Im Leitprozess ‚Zielmodus‘ wird besonders deutlich, dass das, was am Ende jeden Konflikt dsyfunktional zu machen droht – die Vernichtung der Alternative -, am Anfang funktional ist: Das Auftauchen einer Alternative. So sehe ich den wichtigsten Grund der Durchsetzungsneigung von Menschen, dass sie ein Interesse daran haben müssen, dass sich im sozialen Feld etwas verändert. Andersherum – es erscheint mehr als unwahrscheinlich, dass Menschen, die aufeinander bezogen sind, keine Freude am Gewinnen entwickeln. Wäre man allein, wäre das überflüssig. Ist man in Gemeinschaft, dann entsteht zwangsläufig ein Ringen um bessere Lösungen und andere Interessen. Die Gegenwart wird zum Schauplatz des Ringens um eine bessere Zukunft. Da aber Neues meist der Feind des Alten ist, ist nicht zu erwarten, dass dies ohne Konkurrenz geht. Selten sagen die Profiteure der alten Ordnung einfach „Ja“ zu einer neuen Ordnung, die sie benachteiligen könnte oder wird. Selten sagen die Erfinder der alten Lösungen einfach „Ja“ zu neuen Ideen, sondern finden sie eher seltsam, komisch, verrückt oder verderbenbringend. Folglich braucht es den Pol „Durchsetzend“ im Zielmodus der Konfliktdynamik.
Der Pol „Unentschieden“
Nun enden viele Konflikte, wenn sie Kriege werden, in der Tat so: Sie vernichten die Alternative, die sie bekämpft haben. „Der Diktator ist tot, es lebe der Neue!“. Das ist deshalb attraktiv, weil solange der Feind lebt, könnte er zurückschlagen. Sofern man aus dem Blick verliert oder dies keine Bedeutung hat, dass man selbst dran glauben muss, könnte man sagen: „Okay, klärt das, indem Ihr Euch die Köpfe einschlagt!“. Es gab schon immer den Vorschlag, dass statt dem Heer besser die Generäle kämpfen sollen. Dann wäre der Blutzoll, den die Klärung erfordert, nicht so hoch. Die Nachteile der Durchsetzungsstrategie sind offensichtlich. Man weiß nicht, ob sie ein Ende findet, man nimmt hohe Schäden in Kauf, man weiß nicht, ob an dem Bestehenden wirklich alles falsch ist, man weiß nicht, ob die eigenen Vorstellung wirklich nur besser sind. Diese Nachteile haben daher in der Evolution der Konfliktdynamik dazu geführt, dass sich Strategien entwickelt haben, die einen Wert in „Unentschiedenheit“ gesehen haben. Wenn Konflikte nicht durch Vernichtung einer Alternative enden sollen, sondern mit ihrer Verbesserung (Innovation), mit ihrem zeitweiligen Zurückstehen (Wahlen, Entscheidung, Abstimmung), mit einem Best-of-both (Kompromiss), mit einer Verbindung von beidem (Konsens) oder einer freiwilligen Einsicht (Nachgeben), dann braucht es dieses „Un-entschieden“. Man kann das Institutionalisieren (siehe Demokratie, Rechtssprechung, Verwaltung, Gewaltmonopol etc.), im frei laufenden Konflikt braucht es kommunikative Elemente, die vor Durchsetzen schützen.
Solange klar ist, wer der Feind ist, worin die Bedrohung besteht, was das Thema ist, wo die Inkompetenz liegt, wo der Fehler ist, wer Schuld hat, wer nicht zuhört und was falsch läuft – solange bleibt der Konflikt am Laufen. Die Entscheidung, das eben gerade Genannte, auf „un-entschieden“ im Sinn von „es ist offen“ zu setzen, bildet im Leitprozess ‚Zielmodus‘ den zweiten Pol. Er hat die Funktion, dem Konflikt die Möglichkeit zu geben, eine Form anzunehmen, in der die Parteien sich nicht vernichten müssen. Das liegt – wie oben beschrieben – im Interesse des Konflikts, da sonst zu viel verloren geht an Menschen, Ideen, Interessen und Zeit.
Menschen wie Gruppen neigen mehrheitlich zum Durchsetzen wollen. Was aber befähigt zur Un-entschiedenheit? Das entscheidende Merkmal auch hier ist, Distanz zur eignen Meinung bekommen! Je mehr Menschen und Gruppen darauf angewiesen sind, sich mit den eigenen Gefühlen und den eigenen Gedanken zu verwechseln, desto unfreier sind sie in Konflikten und desto höher sind die Kosten, die sie in Kauf nehmen oder in Kauf nehmen wollen. Wer sich mit der Nation, seinem politischen oder moralischen Überzeugungen, seinem Besitz, seinem Körper etc. verwechselt, wird sich schwerer tun, vom Durchsetzen zu lassen. „Selbst-losigkeit“ hat man das genannt: Sich lösen können von den Interessen, die man für die eigenen hält. Dies weiter auszuführen sprengt hier den Rahmen. Für die Konflikttheorie ist hier wichtig, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen den Einschränkungen der psychischen Selbstregulation und der Eskalation von kommunikativen Konflikten.
Wann Unentschiedenheit ungünstig?
Der dysfunktionale Aspekt des Unentschiedenheits-Pols kommt zum Tragen, wenn in bestehenden Verhältnissen ein wichtiges Thema, ein wichtiges Ziel oder eine wichtige soziale Gruppe keinen Einfluss bekommt. Oft entstehen durch Reflexion („An der Gegenposition ist ja was dran!“), Selbstzweifel („Vielleicht irren wir uns ja!“), humane Werte („Das können wir doch so nicht machen!“) auf der Handlungsebene Schwäche, Vorsicht, Zögern und Kraftlosigkeit. Damit schürt sich die Asymmetrie im Konfliktsystem durch Duldsamkeit und Selbstaufgabe. Im Effekt führt dies dazu, dass die ungehemmten Kräfte einen Durchsetzungsvorteil bekommen. Dies dient allerdings nicht immer der konfliktären Sachlage, eher im Gegenteil, es droht die oben angesprochene Vernichtung oder Marginalisierung der „unterbutterten“ Alternative. Es geht dann darum – um mit Nietzsche zu sprechen -, dass böse Taten auch den „Guten“ zur Verfügung stehen müssen.
Fazit
An diesem Konfliktmodus wird die asymmetrische Struktur der Dynamik besonders begreiflich. Konflikte regulieren sich auf Kosten von Menschen und Gruppen oder sie regulieren sich über weniger hohe Kosten. Das nennt man Verlieren. So können Menschen wie Gruppen wählen, ob sie sich vom Konflikt in Durchsetzungs- und damit Vernichtungsprozesse hineinziehen lassen, oder ob sie gesteuert, geplant und im Dialog das Verlieren aushandeln. Das kostet äußerlich weniger und auf der Innenseite zwingt es zur Persönlichkeitsentwicklung. Denn es tut niemandem – auch jenseits von Konflikten gut, seine Identität nicht auf Selbstwahrnehmungen sondern auf Selbstzuschreibungen und -konzepten aufzubauen. So gesehen ist jeder Konflikt ein Chance für die Beteiligten. Denn wer seine Feinde (auch) lieben kann, der kann sich auch selbst lieben, jenseits von dem, mit dem er sich identifiziert.
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