Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 5/12)
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3– Teil 4 – Teil 6
Der Bewertungsmodus
Werden die Ansichten über die Sache verabsolutiert oder ist unklar wer recht hat?
Die dritte Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
Jede sachbezogene Auseinandersetzung lebt davon, dass man argumentiert. Im Argumentieren gibt man mehreres zu erkennen: Erstens erkennt man an, dass der andere verstehen könnte, was man sagt. Zweitens reagiert man auf die Argumentation des anderen, weil man ja dagegen Gründe anführt. Drittens investiert man in die Erwartung, dass der andere auf das, was man ihm sagt, eingehen könnte, und seinen Standpunkt aufgibt. Argument und Gegenargument leben davon, dass unklar ist, welche der Parteien am Ende Recht bekommt. Der Pol „unklar“ ist somit einer der beiden Pole unserer Leitunterscheidung „Bewertungsmodus“. Auch wenn alle ihren Argumenten zum „Sieg“ verhelfen wollen, weil sie ihre Sichtweise für die „richtige“ halten, so bleibt die Kommunikation auf diesem Pol kontingent. Es ist offen, welche Bewertung am Ende die Oberhand gewinnt. Man findet Teile der Argumente anderer auch selbst sinnvoll, man hat Teileinigungen, die man gleichermaßen positiv sieht und man hat den Eindruck, dass die anderen sich mit eigenen Mitteilungen auseinandersetzen und diese z.T. übernehmen. Das ist die häufig „konstruktiv“ genannte Form von Konflikten, weil das Spiel von Entkräftung und Begründung von Argumenten zu (Sach-)Lösungen führen kann und Irrtümer aufdeckt.
Der Konflikt gewinnt eine andere Form, wenn er auf den Pol „verabsolutiert“ wechselt: „So kann man das doch nicht sehen!“ Ein solcher Satz ist ein milderes Beispiel dafür, wie dann gesprochen wird. Hier ist das Vertrauen darin, den anderen mit Argumenten zu erreichen, weitgehend verloren gegangen. Ebenso sinkt die Bereitschaft sich selbst durch Mitteilungen der anderen Partei irritieren oder gar zur Zustimmung verleiten zu lassen. Unnachgiebigkeit ist dann nicht das Mittel, um die eigene Einflussnahme mit Kraft und Entschiedenheit zu versorgen, sondern wird zur Haltung, um jede Einflussnahme der anderen Partei auf sich selbst auszuschließen. Beide Lager wägen die Argumente der anderen nicht mehr ab, sondern der Widerspruch ist gesetzt.
Bewertungen vernichten immer Freiheit
Das wesentliche Mittel, um diese Festlegung zu bewerkstelligen und sicherzustellen, sind Bewertungen. Was aber sind Bewertungen? Bewertungen sind Wahlvorgänge: „Das ist gut, das ist schön, das ist richtig, das ist lustvoll…“ – also will man das! Bewertungen führen also zu Handlungen. Sie helfen dabei zu entscheiden. Sie ordnen die Welt in erwünscht und unerwünscht. Sie vernichten also Freiheit zugunsten klarer Orientierung. Bewertungen sind immer auch anders möglich und sind damit immer auch „individuell“. Jede Person, jede Gruppe, jedes andere soziale System hat eigene Bewertungen. Das kann natürlich auch bedeuten, dass man sich entscheidet, die Bewertungen der anderen zu übernehmen. Autoritäten aller Art bieten sich hier als Bewertungsspender an: Eltern, Lehrerinnen, Priester, Trainer, Wissenschaftlerinnen, oder – abstrahierter – die Tradition, die Kirche, die Sippe, die Wissenschaft, die Monarchie, die Rebellion, die Erfahrung, die Kultur, die Nation, die Rasse etc.! Aber wie auch immer die Bewertung zustande kommt, sie bleibt eine Wahl. Selbst Schmerz und Tod, was die meisten als Unlusterfahrungen wohl schlecht finden und deshalb meiden würden, sind für Märtyrerinnen, Attentäter, Eltern, die ihre Kinder schützen wollen o.ä. etwas, das sie wählen, weil sie es als „richtig“ ansehen.
Nun gibt es viele Möglichkeiten etwas zu bewerten. Das kann mit Inanspruchnahme von Argumenten (richtig/falsch), von Gefühlen (angenehm/unangenehm), von Moral (gut/böse), von Ästhetik (schön/hässlich) oder von Erfahrung (nützlich/schädlich) geschehen. All das ist für soziales Zusammenleben und psychische Selbstregulation unabdingbar. Im Hinblick auf Konflikdynamiken kommt einem bestimmten Aspekt eine zentrale Bedeutung zu: Wie identifiziert ist die Person oder die soziale Gruppe mit ihrer (vorgenommenen) Bewertung?
Bewertungen und Identität
Bewertungen leisten psychologisch und sozialpsychologisch einen hohen Beitrag zur Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ bzw. „Wer sind wir?“. Einfach gesagt: Wer weiß und sagen kann, was gut und richtig ist, kann damit seelische und soziale Stabilität erzeugen. Damit haben wir den wichtigsten Grund gefunden, warum sich Menschen und Gruppen so gut eignen, um eine leichte Beute von Konflikten zu werden. Wenn andere den eigenen Bewertungen widersprechen, dann ist immer dann die eigene Identität gefährdet, wenn man mit seinen kognitiven und emotionalen Bewertungen identifiziert ist. Dann widerspricht der andere nicht meinen oder unseren Interessen, sondern er widerspricht damit meiner Person oder unserer Gruppe! Damit steht in der Konfliktkommunikation häufig sehr viel mehr auf dem Spiel als Interessen oder das Ringen um Problemlösungen. Es geht um die Wahrung dessen, ob man richtig, gut, schön, erfolgreich oder sozial anerkennenswert ist. Nicht „Handle ich gut?“ sondern „Bin ich gut?“ ist das Eisen, das im Feuer liegt.
Funktion des Pols „Verabsolutiert“
Hat man das verstanden, wird klar, warum für Identitätsänderungen häufig Konflikte unabdingbar sind. Anders ändern Menschen und Gruppen oft nicht ihr Selbstverständnis. Die Funktion des Pols „verabsolutiert“ ist es also, den eigenen Bewertungen eine identitätsnahe Bedeutung zu geben und damit eine Partei mit dem – subjektiven – Recht auszustatten, sich gegen Einflussnahmen von außen abzugrenzen bzw. diese zu verhindern. Bewertungen dieser Art haben also eine Doppelfunktion: Stabilität für die Identität und Eskalation oder Hyperstabilität im Konflikt! Versucht man Konflikte dieser Art zu moderieren, kommt es darauf an, diese doppelte Funktion im Blick zu haben. Eine Bewegung im Bewertungsmodus in Richtung des Pols „unklar“ wird nur möglich sein, wenn Wege gefunden werden, die bedrohte Identität anders zu stabilisieren bzw. Wege zu finden, sich in geschützer Form mit der Angst auseinanderzusetzen, die an den potentiellen Identitätsverlust gekoppelt ist als über die Identifikation mit Bewertungen. Aus meiner Sicht ist die Vernachlässigung dieses Zusammenhangs ein Hauptgrund für das Scheitern von Konfliktberatungen.
Funktion des Pols „unklar“
Sucht man nach der Funktion des Pols „unklar“, dann ist das Wichtigste, dass es für Konfliktmilderung nötig ist, sich von eigenen Bewertungen distanzieren zu können und in anderen Parteien mehr zu sehen als die Bewertungen, mit denen sie identifiziert sind. Im buddhistischen Kontext nennt man diese Art der Identifizierung auch „Anhaften“. Das Christentum hat mit dem Begriff „Feindesliebe“ ebenfalls ein gutes Gespür dafür gehabt, dass die ausschließliche Liebe der eigenen Position (=Person) sich ungünstig auf die Regulationskompetenz in Konflikten auswirkt. Beide oder mehrere Bewertungen als möglich und wertvoll ansehen zu können, ist unabdingbar. Aber dann wird es eben „unklar“, welche und wessen Bewertungen wie einzuordnen sind. Die Unsicherheit, die damit einhergeht, ist vielen Menschen unangenehm. Ambiguitätstoleranz ist der Fachbegriff für diese Fähigkeit mit Bewertungsunklarheit gut zurechtzukommen.
Fazit
Konflikte brauchen also beide Pole: „verabsolutiert“ und „unklar“. Den einen, um Standpunkte mit Kraft, Eindeutigkeit und Entschlossenheit aufzuladen. Das geht oft nicht, ohne diese Standpunkte mit Bewertungen zu versehen, mit Worten wie „gut“ und „richtig“ zu etikettieren. Zum anderen braucht es die Möglichkeit, Bewertungen zu labilisieren und zu verändern. Ohne dem kann sich keine neue Stabilität ausbilden und formen. Die Fähigkeit zu unterscheiden, wann das eine oder das andere angesagt ist, um sich in Konflikten funktional zu bewegen, ist für Menschen wie für Gruppen alles andere als leicht zu erwerben. Auch deshalb drehen sich viele Konflikte, die schon lange nach Befriedung suchen, so nachhaltig im Kreis.
Will man diese Überlegungen für sich selbst als Grundlage der Reflexion und Erkundung eigener Muster nutzen, dann bieten sich folgende Fragen an:
- Was sind besonders starke Überzeugungen von mir, die ich auf gar keinen Fall in Frage gestellt sehen möchte?
- Warum ist das eigentlich so?
- Was würde geschehen, wenn ich daran Zweifel aufkommen lassen würde?
- Welche besonders starke Überzeugungen anderer kann ich nicht unwidersprochen stehen lassen?
- Warum ist das eigentlich so?
- Was würde geschehen, wenn ich den Sinn im vermeintlichen Unsinn suchen würde?
- Welche inneren Überzeugungen würden mich in starke Konflikte führen, wenn ich ihnen mehr Bedeutung schenken würde?
- Bei welchen Überzeugungen anderer bin ich im Grunde froh, dass diese mich damit nicht groß behelligen?
- Worüber kann ich mich endlos aufregen? Was hängt daran für meine innere Stabilität?
Solche und andere Fragen helfen der Verknüpfung von gedanklichen und emotionalen Meinungen mit der Identitätsbildung auf die Schliche zu kommen. Viel Spass dabei!
Haltung zeigen statt hassen - Teil 3 : SynTraum
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Haltung zeigen statt hassen - Teil 2 : SynTraum
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Haltung zeigen statt hassen : SynTraum
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