Klaus Eidenschink
Konflikte und ihre Dynamik (Teil 4/12)
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Der Aufmerksamkeitsmodus
Ist man in der Sache spezifisch uneins oder ganz generalisiert im Streit?
Die zweite Leitunterscheidung der Konfliktdynamik
Es beginnt mit der Mücke. Es endet mit dem Elefanten. Uneinigkeit entzündet sich oft an isolierten, spezifischen Widersprüchen. Kleinigkeiten, wenn man so will. Ein Beispiel aus dem (früheren) Büroalltag gefällig? „Ich würde gern das Fenster aufmachen!“, „Auf keinen Fall, da erkälte ich mich!“. Damit kann man es auf sich beruhen lassen, aber der Sog den Fokus zu weiten ist nicht unerheblich: „Fällt Ihnen eigentlich auf, dass Sie immer dagegen sind, wenn ich hier für mein Wohlbefinden sorgen möchte?“, „Ach, wenigstens beim Lüften könnten sie einmal auch auf mich hören.“ Schon nimmt der Konflikt Fahrt auf. “Ich kann sagen, was ich will, es ist immer falsch!“ Fast jeder kennt diese Schwelle in Konfliktdynamiken, die – wenn sie überschritten ist – dazu führt, dass alles abgelehnt wird, was vom anderen kommt. Es wird nicht mehr nur einzelnen Behauptungen oder einzelnen Verhaltensweisen kritisch begegnet, sondern alles, was geschieht, dient der Verneinung. Nicht mehr „Da irrst Du Dich!“, sondern „Du kannst nicht denken!“. Viele Konflikte pflegen diese Asymmetrie, weil sie die Lage einfacher macht. Man muss sich nicht mehr im Detail mit den Aussagen des anderen auseinandersetzen. Das spart Zeit und beschleunigt die Antwort. Zudem schafft es mehr Gewissheit darüber, dass man selbst richtig liegt, ohne es jeweils begründen zu müssen.
Es macht einen großen Unterschied, ob der sachliche Fokus des Konflikts spezifisch ist und gehalten wird („An diesem (einen) Punkt sind wir uns uneinig!“) oder ob Verallgemeinerungen die Kommunikation dominieren („Du verstehst davon einfach geradezu überhaupt nichts!“). Langläufig kann man in Konfliktratgebern lesen, dass man folglich auf Generalisierungen wie „immer, nie, alles, nichts“ etc. verzichten soll. In allen Konflikttheorien kommt der Unterscheidung, worauf die Konfliktparteien ihre Aufmerksamkeit richten, meist große Bedeutung zu. So auch hier. Will man eine in Verallgemeinerungen sich ergehende Konfliktkommunikation beeinflussen, kann es hilfreich sein, die Aufmerksamkeit vom Weiten hin zum Engen zu verlagern. Sind sich die Parteien wirklich in allem uneins? Oder gibt es Gemeinsamkeiten? Wo genau liegen die Unterschiede? Zur Deeskalation des Konflikts kann es wichtig sein, solche spezifischen Ablehnungen zu identifizieren. Dadurch können auch die Bereiche, die nicht von der Konfliktdynamik beherrscht sind, wiederentdeckt werden. Gemeinsamkeiten in den Fokus zu bringen und das Trennende einzugrenzen, ist für Entspannung unabdingbar. „Eigentlich lieben wir uns doch!“ wäre ein Satz, wo dies einem streitenden Paar wieder bewusst wird. In Organisationen kann dann wieder deutlich werden: „Genauer besehen, wollen doch beide Teams eine Lösung für das Unternehmen!“.
Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn – den Fokus auf dem Spezifischen zu halten, kann leider genauso auch einer Konfliktsymbiose dienen, also schädlich sein. Der vom Geschäftsführer abgekanzelte Assistent sagt auf Nachfrage, wie er das findet: „Das ist nicht so schlimm. Das macht er ja nur manchmal und er meint es auch nicht böse. Ansonsten ist er ein netter Kerl!“. Eine solche Einschätzung dient dazu, Gewalt und Unterdrückung zu erhalten und zu festigen. In Paarbeziehungen kommt dies besonders oft vor. Folglich ist es zum Aufbrechen solcher Kommunikationsverhältnisse wichtig zu erkennen, dass die Bewertung von Vorfällen als “ Einzelfall“ der Bagatellisierung dient. So bleibt der Konflikt latent und eine problematische Asymmetrie bleibt erhalten. Dies kann ganz unauffällig sein. In den obigen Beispielen einer generellen In-Frage-Stellung der Kompetenz eines anderen, verbunden mit Beschämungen, ist es offensichtlich. Wenn es sich aber in Teams eingebürgert hat, dass zu bestimmten Fragen einem Mitglied oder der Führungskraft nie widersprochen wird oder Aussagen auch nur hinterfragt werden, dann ist die symbiotische Struktur des Konflikts kaum sichtbar. Schaut man genauer hin, wird bewusst, dass sich die Aufmerksamkeit des Teams wie von selbst darauf fokussiert, dass Person A immer recht hat und man deshalb auf sie hört. In solchen Fällen ist es geradezu notwendig, auch mal ganz generell in Frage zu stellen, dass man nichts in Frage stellen darf.
Dass Generalisierungen ein notwendiges Mittel sind, um etablierte Strukturen zu verflüssigen, kann man z.B. auch gut an der Emanzipations- und Gleichstellungsbewegung erkennen. Diese musste sich erstmal gegen den Dominanzanspruch der Männer in Summe wenden. Dass dabei in einzelnen Aspekten und gegenüber konkreten Personen „über das Ziel hinausgeschossen“ wurde, mag nicht nur sein – aus Sicht dieser Theorie war und ist es geradezu notwendig. Allgemeine Vorwürfe können also durchaus notwendig sein. Sie lassen sich immer angreifen oder machen angreifbar. Ist das Ziel aber, Etabliertes aufzubrechen, ist es nötig, um keinerlei Unklarheit darüber aufkommen zu lassen, dass man nicht im Detail sprechen, sondern eben Grundsätzliches in Frage stellen und verändern will.
Somit haben wir ein zumindest rudimentäres Verständnis gewonnen, dass beide Pole unserer konfliktdynamischen Leitunterscheidung „Aufmerksamkeitsmodus“ – nämlich spezifischer oder generalisierter Konfliktfokus – sowohl günstig wie ungünstig sein können.
Wenden wir uns der Frage zu, die am Beginn schon aufgetaucht war. Wieso entsteht so leicht ein Sog in Richtung „generalisierend“? Systeme streben immer nach Einfachheit. Wenn die einfache Antwort bzw. das bestehende Muster, wer sachlich recht hat, situativ erstmal ins Wanken gekommen ist, kommt damit meist auch das Vertrauen in die Sach-Autorität der anderen Partei ins Wanken. Man glaubt nicht mehr so leicht, dass der andere recht haben könnte. Ist dieses Vertrauen verloren, ist der Sog leicht zu erklären. Vertrauen wird durch Mißtrauen in den anderen und (übersteigertes) Vertrauen in sich selbst ersetzt. Auf diese Weise ist es immer möglich, wieder eine einfache Antwort (=Orientierung) zu gewinnen: Der andere hat eher unrecht und deshalb ist ihm zu misstrauen.
Bestimmt grundlegendes Misstrauen in die Kompetenz des Gegenübers den Konflikt, versorgt dies das Konfliktsystem mit hoher Stabilität. Wer misstraut, der ist auf „Nein“ gepolt und damit erhält der Konflikt ständig die Zufuhr, die er zu seiner Fortsetzung braucht. Zudem lässt sich Misstrauen im Gegensatz zu Vertrauen schnell etablieren. Vertrauen baut sich langsam auf, Misstrauen wird oft schon durch ein einziges Ereignis gerechtfertigt. Darum tun Personen wie soziale Systeme gut daran, Vertrauen nicht leichtfertig zu gefährden, jedenfalls dann, wenn man weder Zeit noch Ressourcen für den Aufwand hat, den Konflikte mit sich bringen.
Andersherum wird so verständlich, warum es oft längere Phasen von Vertrauensaufbau braucht, bevor Konfliktsysteme ihr Ende durch einen Kompromiss finden können. Das Aufgeben generalisierter negativer Erwartungen im Hinblick auf das, was der Konfliktpartner sagt, wird in der Regel als riskant empfunden und braucht daher „Absicherungen“, die meist vom anderen wiederum als konfliktschürend empfunden werden („Was? Du willst das von Deinem Rechtsanwalt überprüfen lassen? Dann ziehe ich das Angebot wieder zurück!“).
Genau für diesen Schritt braucht es oft Hilfe durch Dritte. Warum? Das Konfliktsystem muss in dem Kommunikationsmuster, dass der/die andere/n grundsätzlich falsch liegen, irritiert werden. Es braucht also Suchbewegungen, in denen Erkundungen stattfinden, die Gemeinsamkeiten, gemeinsame Interessen oder eben auch Respekt vor den Lösungsideen der Gegenseite in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Da dabei meist sofort Sorgen vor falschen Kompromissen auftreten, die man später bereut, brauchen die Konfliktparteien das Bewusstsein, dass es – wenn die Unterwerfung der anderen Partei nicht möglich ist – Verluste geben wird. Egal ob auf
- der Ebene des Selbstwerts – man steht da als jemand der eine Idee hatte, die nichts taugt oder nicht akzeptiert wird -,
- der Ebene der Selbstbestimmung – es läuft anders, als man es selbst für richtig hält und das schürt Unsicherheit und Sorgen – oder
- der Ebene der Bindung – es läuft so, dass man Nähe und Verbundenheit mit Anpassung und Selbstaufgabe zu bezahlen hat.
Man sieht, sich auf Sachkompromisse einzulassen, löst bei den allermeisten Menschen auch emotional etwas aus. Es aktiviert alte seelische Muster. Behalten diese die Oberhand, dann behält der Konflikt die Oberhand und wird sich nur auf Zeit zur Ruhe legen, bis die unaufgearbeiteten psychischen Themen sich wieder in die Kommunikation einhaken.
Das Interesse des Konflikts ist hoch, Menschen zu binden, die Mücken finden, welche zum Elefanten mutieren. Erst wenn es zu kostenintensiv wird, diesen zu ernähren, oder das Konfliktziel erreicht ist, findet der Konflikt Wege, wieder die Mücken als Mücken schwirren zu lassen.
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