Teil 7/8 der Skizze einer Metatheorie der Teamdynamik (von Klaus Eidenschink)
Über die Wichtigkeit von Transparenz und Intransparenz
„Alles muss auf den Tisch!“, „Hier gibt es ein massives Tabu!“ oder „Jetzt müssen wir endlich mal ansprechen…!“ – mit solchen und ähnlichen Hoffnungen (oder Befürchtungen) sind häufig Offsite-Meetings, Teamentwicklungen oder Besprechungen über Grundsätzliches verbunden. Ich selbst habe lange Jahre mit einem solchen Rezept – Reflexion und Transparenz sind in sich gut – gearbeitet. Heute finde ich das falsch und eine ungünstige Festlegung auf einen von zwei wichtigen Polen. Transparenz – also die Entscheidung etwas anzusprechen – ist beileibe nicht immer hilfreich. Vieles muss intransparent sein. Wieso?
Kommunikation braucht Kommunikationssperren. Anders ausgedrückt: Jedes soziale System konstituiert sich dadurch, dass es eine Auswahl trifft, worüber gesprochen wird und worüber nicht. Im beruflichen Kontext (Meeting) wird nicht über sexuelle Schwierigkeiten gesprochen – außer man ist in einem Selbsterfahrungskurs für Paare. Eine Begrenzung und Selektion von Kommunikationsthemen ist für Teams unerlässlich. Die Entscheidungen, ob man etwas transparent und damit reflektierbar macht, können sowohl günstig als auch schädlich sein. Was sind dafür mögliche Kriterien?
Unreflektiert belassen
Schädlich wird Kommunikation immer dann, wenn sie die Bearbeitung der in den schon erschienenen Artikeln beschriebenen Leitprozesse erschwert. Nehmen wir ein kleines Beispiel: Wenn im Abwägen von interessen- und problemorientiertem Vorgehen jemand aus dem Team sagt: „Du bist doch nur deshalb gegen einen Home-Office-Tag, weil Du Dir keine größere Wohnung leisten kannst!“, dann ist das gerade dann dysfunktional, wenn es stimmen sollte. Schambewehrte Wahrheiten können zerstörerisch werden, wenn sie ans Licht kommen. Daher will es gut überlegt (=entschieden) sein, ob etwas,
- das Personen bloßstellt,
- das sowieso nicht zu ändern ist,
- das in der Vergangenheit liegt,
- das keinen Bezug zur Aufgabe hat oder
- das ausschließlich der psychischen Energieabfuhr dient,
besprochen werden sollte.
Je mehr reflektiert wird, desto weniger kann gearbeitet werden. Wenn Einzelpersonen dies innerpsychisch tun, nennt man es Grübeln: Denken ohne Output. Wenn Teams Reden und Reflektieren zum Dauerzustand machen, droht operativer Stillstand. Die Option etwas unreflektiert zu belassen, ist für ein Team deshalb überlebenswichtig. Reflexion kann sich jedes System, auch ein Team, nur punktuell leisten, da es sonst mit seiner Binnenkomplexität überfordert wäre. Unreflektiert kann daher im Prinzip alles bleiben, was den Erhalt des Teams gewährleistet und seiner Zielsetzung angemessen dient.
Diesen unreflektierten Zustand zu erhalten, wird dysfunktional oder gefährlich, wenn nicht nur kleine Signale, sondern auch massivere Ereignisse (hoher Krankenstand, hohe Fluktuation, Qualitätsprobleme, Konkurrenz ist schneller, besser oder billiger, Kosten zu hoch, Fristüberschreitung etc.) „achselzuckend“ hingenommen werden. Wenn so etwas geschieht, ist das von außen betrachtet meist ein Hinweis auf dysfunktionale Kommunikationssperren. Worin sind solche Sperren begründet, wenn doch Nicht-Teammitglieder der Organisation oder Berater mit wenigen Eindrücken und etwas fassungslos feststellen können, dass da etwas nicht stimmt und das Team mal miteinander sprechen sollte?
Die Antwort ist relativ schlicht. Es gibt dafür keine rationalen Gründe, sondern nur emotionale: Angst vor Niederlage im Konflikt, Angst vor Kränkungen, Angst vor Ausgeschlossen werden, Angst vor Enttarnung von Inkompetenz, Angst vor Verlust der Bestätigung, Angst vor Überforderung u.a.m.. Nachdem nun die berühmte emotionale Intelligenz nicht immer so ausgeprägt ist, wie nötig, umgeht das Team dann Reflexionsnotwendigkeiten, im Ernstfall bis hin zum Gemeinsam-an-die-Wand-fahren. Andererseits haben Teams oft ein gutes Gespür dafür, bei welchen Themen es mit dem Reflektieren heißer Eisen überfordert wäre („Da würde eine Bombe hochgehen!“). Wenn man sich dann dafür keine externe beraterische Unterstützung holt, ist meist die Angst im Spiel, sich Hilfe zu holen. Auch das ist weit verbreitet.
Reflektieren
Wann und warum ist Reflektieren im Team wichtig? Selbstreflexion ist ein notwendiges Element von Selbststeuerung! Ein Team kann nur dann gezielt an seinen Entscheidungsmustern (jedweder Art) etwas ändern, wenn
- entweder das, was im Entscheidungsmuster ausgeschlossen wurde, als denkbare Wahlmöglichkeit ins System wieder eingeführt wird,
- oder das bislang Bestehende als nicht mehr hilfreich ausgeschlossen wird.
Das kann man mit der Frage umschreiben: „Könnte es nicht auch anders sein?“ Ein Team beschäftigt sich dann gezielt damit,
- entweder das zu untersuchen, was es bislang vernachlässigt hat, was es als irrelevant angesehen hat, für unerwünscht gehalten hat oder als nicht machbar, veränderbar, sinnlos oder unnötig angesehen hat,
- oder aber das Team reflektiert, ob es das, was es bislang als richtig, wahr, gekonnt, kompetent, alternativlos, geschickt, angemessen oder erfolgreich ansieht, immer noch so sehen will und darf.
Reflexion versorgt also ein Team mit neuen Alternativen. Das bedeutet, dass die Freiheitsgrade wachsen und die Komplexität zunimmt. Während man reflektiert, sind die Handlungsmöglichkeiten meist etwas eingeschränkt und die Leistungsfähigkeit auf der operativen Ebene ist herabgesetzt. Das sollte einem klar sein.
Wann braucht es nun Reflexion? Es braucht sie dann, wenn man annehmen muss, dass in der Umwelt des Teams sich etwas ändert. Wenn man so weiter macht wie bisher, kann dies bei veränderter Umwelt fatal oder tödlich enden. Anders gesagt: Nichts ist so gefährlich wie Erfolg in der Vergangenheit. Wenn ein Team erfolgreich war, dann meint es meist, dass es nicht nötig ist, zu reflektieren. Aber aus vergangenem Erfolg folgt nicht zwangsläufig der zukünftige, besonders nicht bei hochdynamischen Umwelten. Zur Umwelt des Teams zählen in dieser Theorie – es sei darauf hingewiesen – die Organisation in der das Team eine Funktion hat als auch die Teammitglieder als Personen! Teams bestehen aus Beziehungen (siehe Teil 3 dieser Serie), nicht aus Personen. Folglich sind auch Personalwechsel, Strategiewechsel etc. Änderungen in der Umwelt!
Aus all dem ergibt sich fast zwangsläufig, dass ein Team sich turnusmäßig in einen Reflexionsmodus (=Teamklausuren, spezielle Meetings) begibt und sich dort mit Impulsen versorgt, die es irritieren, herausfordern und Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand stellen.
Führungsrolle und Reflexion
Welche Rolle spielt die Führungsrolle im Hinblick auf die Muster, innerhalb derer reflektiert wird? Der größte Einfluss besteht meist im Hinblick auf die Etablierung von Reflexions- und Kommunikationssperren. „Basta!“ ist als Ausspruch, dass man nun das Diskutieren beenden solle, berühmt geworden. Oft bestimmt die Führungskraft alleine, welche Themen auf die Tagesordnung des Meetings kommen, welche im One-to-one als besprechbar gelten, ob und wie Teamklausuren und -workshops stattfinden, ob diese moderiert werden, ob externe Beratung hinzugezogen wird oder nicht etc..
Damit ist im Grunde auch schon benannt, warum gerade hier besonders wirkungsreiche Fehler von Führungskräften gemacht werden können: Wenn etwas im Team falsch oder schlecht läuft, ist das nicht so schlimm, wenn es durch Reflexion des Fehlers (double-loop-learning) bearbeitet werden kann. Erst die Reflexionssperre verhindert die Regulation der Teamarbeit. So gesehen ist vielleicht das Wichtigste, was eine Führungskraft grundsätzlich und kontinuierlich sich und andere fragen sollte: „Worüber verhindere ich bewusst und unbewusst, dass in meinem Team offiziell und explizit gesprochen wird?“ oder „Worüber lasse ich zu, dass dauernd gesprochen wird, obwohl es uns nicht hilft?“. Ein Chef oder eine Chefin, der oder die verhindert, dass Themen, die andere im Team für wichtig erachten, auf die Tagesordnung kommen, sollte gute Gründe haben (die es manchmal auch gibt!). Offenheit für unliebsame Themen setzt grundsätzlich eine Auseinandersetzung mit der eigenen Unzulänglichkeit und Imperfektion, aber auch mit Scham- und Schuldgefühlen wie Ängsten vor Nicht-Wissen und Nicht-Können voraus. Diese Selbstreflexion muss Teil jeder Führungskräfteentwicklung sein.
Vom anderen Ende her gedacht: Es kann als eine der vornehmsten Aufgaben der Führungskraft gelten, die Reflexion darüber, worüber im Team reflektiert werden sollte, zu betreiben. Viele Führungskräfte vernachlässigen diese Frage aus Vorliebe für Reporting, Mikromanagement und operatives Arbeiten. Eine Ahnung vom eigenen blinden Fleck zu bekommen ist nicht leicht. Wer Freude an Neuem, an Ausnahmen, an Ungewöhnlichem, aber auch eine gewisse Lust am Scheitern und Staunen hat, der ist für diesen Aspekt der Führungsarbeit gut ausgestattet.
Reflexionsformen
Wie alle in dieser Serie vorgestellten Leitprozesse der Teamdynamik, bildet auch der Leitprozess Teamreflexion seine spezifischen Muster aus. Die Formen, die sich ein Team geben kann, um seine Leitprozesse zu reflektieren, können also sehr unterschiedlich gestaltet werden. Man kann das an den drei Sinndimensionen von N.Luhmann analysieren.
- Zeitdimension: Soll es regelmäßig oder bei bestimmten Anlässen geschehen? Soll es länger am Stück sein (Workshop) oder am Ende jedes Meetings? Wie viel Zeit wird welchem Punkt zugemessen?
- Sozialdimension: Wer wird am Zustandekommen einer Reflexionsliste beteiligt? Wer kann Themen verhindern oder ein Veto einlegen? Wer muss oder soll sich an den Diskussionen beteiligen? Wer bereitet vor? Wer moderiert? Sucht man sich dafür externe Moderation?
- Sachdimension: Wie kommen die Themen der Reflexion zustande? Nutzt man eine Themenstruktur, eine Liste von denkbaren Reflexionspunkten oder offene Interviews durch einen externen Moderator? Welche Themen werden jeweils priorisiert? Werden alle diese Fragen einmal (grundsätzlich) entschieden oder wird das alles jeweils fakultativ und situativ entschieden?
All das ist selbstverständlich auch eine der Beobachtungsbrillen, mit der geschulte Teamcoaches auf die Dynamik eines Teams schauen. Entscheidend – wie oben schon mal betont – ist dabei aber, wirklich beide Pole im Auge zu behalten und nicht einseitig auf Reflexion zu setzen.
Fazit
Zu entscheiden, wo ein Team im operativen Modus Intransparentes und nicht Kommuniziertes lebt und wo es wichtig ist, das aus der Kommunikation Ausgeschlossene zu besprechen, ist schwerer als man meint. Diese Entscheidungen bilden ein eigenes Kompetenzfeld ab. Man braucht ein gutes Gespür für Timing, Rahmen, Intensität, Form und Dauer. Themen, die zu überprüfende Selbstverständlichkeiten im Team betreffen und Themen, wo es neue Impulse zu platzieren gilt, jeweils zu identifizieren, ist eine der sechs wesentlichen teamdynamischen Prozesse. Nicht selten gibt es darüber dysfunktionale Konflikte, Lagerbildung und Koalitionäre.
Aus meiner Sicht braucht es gerade für diesen Selbststeuerungsprozess explizit Schulung. Diese könnte und sollte schon in der Schule erfolgen. Da dies zu allermeist nicht bzw. eher schlecht geschieht, schlägt dieses Thema umso massiver in den Arbeitsteams der Organisationen und in den Freizeitteams in Vereinen u.ä. auf. Darum wird die Frage, mit der ich mich im kommenden letzten Teil dieser Serie beschäftigen werde, besonders bedeutsam: „Kann man Teams eigentlich beraten?“.
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Im Übrigen: Wer unser metatheoretisches Verständnis von Teamdynamiken für die Beratungspraxis erlernen will, wird fündig hier.
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Teil 1 der Reihe findet sich HIER
Teil 2 der Reihe findet sich HIER
Teil 3 der Reihe findet sich HIER
Teil 4 der Reihe findet sich HIER
Teil 5 der Reihe findet sich HIER
Teil 6 der Reihe findet sich HIER