Klaus Eidenschink
Virtuelle Begegnungen?
Hinweise zur Psychologie des Kontakts via Bildschirm
Nun also der Hype des Hypes: Corona boostet das virtuelle Arbeiten. Man wird erschlagen von euphorischen Berichten, von verlockenden Angeboten, von Dumpingpreisen für Online-Beratungen jedweden Zuschnitts, erste Controller errechnen die Ersparnis für Mietkosten beim Entfall von Meetingräumen. Man könnte den Eindruck bekommen, dass die Menschheit die Erkenntnis gewonnen hat, dass es – im Vergleich gesprochen – der Videosex und nicht das körperliche Zusammensein ist, welcher das höchste der Gefühle verspricht. Natürlich stehen im Hintergrund neue Geschäftsmöglichkeiten in schwierigen Zeiten. Da geht schon mal der Überblick verloren.
Zeit für eine erste, vorsichtige, kleine Sichtung der Verhältnisse.
Was macht Begegnung und Kommunikation aus?
Wodurch entsteht in Menschen ein Erleben von Begegnung, von Zusammensein? Ohne hier in die Details der Interaktions- und Resonanzforschung gehen zu können: Alles basiert auf einem umfassenden inneren Erleben, an dem alle Facetten des Menschen beteiligt sind: Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen, Selbstausdruck. Alle diese Vorgänge haben auch einen körperlichen Aspekt – das Fachwort ist Embodiment. Über den körperlichen Ausdruck synchronisieren sich Menschen, wenn sie sich begegnen. Wir reagieren auf Änderungen in Gangbild, Haltung, Mimik, Sprechmodus, Stimmlage, körperlichen Abstand, Gestik, Blickkontakt, Ausdünstungen. Das führt zu bewusster und unbewusster Resonanz, zu einer meist impliziten Gestaltung des Rhythmus im Zusammensein, zu Entwicklung von Aufmerksamkeit oder Langeweile, zu Annäherung oder Rückzug, zum Wechsel von Sich-Zeigen und Sich-im-Hintergrund halten. In Summe entsteht so emotionale Sicherheit (oder Unsicherheit), Vertrauen (oder Misstrauen), Loyalität (oder Eigennutz), Kreativität (oder Lustlosigkeit), Inspiration (oder Warten aufs Ende), Empathie (oder Auseinanderfallen). Diese seelischen Effekte leben also von einer Vielzahl von Faktoren, die ineinander spielen und -greifen. Das meiste davon ist unbewusst und deshalb enorm wirksam.
Verlust und Gewinn in virtuellen Kontexten
Nun könnte man meinen, dass damit ein problematisches Urteil über virtuelles Arbeiten gefällt sei, weil es nun ja offensichtlich ist, dass viele der gerade genannten Prozesse im Virtuellen (noch) verloren gehen. Das stimmt einerseits und gerade deshalb muss man nun andererseits sich vor kurzschlüssigen Urteilen im Namen der „Ganzheitlichkeit“ hüten. In dem Moment, in dem man Resonanz normativ auflädt – wie etwa Hartmut Rosa das in seinen Büchern tut – kann man das gegenwärtige Geschehen nur noch als Verfall des eigentlichen menschengerechten Lebens ansehen. Das ist leicht gesagt und aus meiner Sicht falsch. Stattdessen möchte ich ein paar differenzierende Gedanken anbringen, für welche Menschen die virtuelle Medien aus Gründen, die ich benennen werde, besonders attraktiv, besonders belastend oder besonders ablehnungsbedürftig sind. Denn – für wen sich im virtuellen Arbeitskontext nichts ändert (solche Aussagen höre ich häufig) -, der hat ein ernsthaftes Problem!
Kann man am Bildschirm Beziehung zueinander haben?
Auf einem Bildschirm sieht man die anderen, aber man sieht sich nicht an. Man schaut in die Kamera oder aber man schaut auf ein Gesicht, das in eine Kamera, aber mir nicht in die Augen schaut! Daher begegnet man sich nicht, da Begegnung auf die unmittelbare Erfahrung wechselseitigen Bezogenseins gründet: Ich sehe, dass Du siehst, dass ich sehe, dass Du mich anschaust. Jeder kennt die Erfahrung, wenn das Gegenüber sich schwer tut, Blickkontakt aufzunehmen oder ihn zu halten. Auch aus der Säuglingsforschung sind die schwerwiegenden Irritationen, die bei Mängeln im Blickkontaktverhalten der Eltern entstehen, bekannt. Kontakt ist zirkulär, nicht sequenziell.
Ähnlich bedeutsam ist die oben schon benannte Körperlichkeit jedes Bezogenseins. Bildschirme übertragen keine Gerüche. Jeder kennt aber den Duft von jahrhundertelangem Weihrauchduft in Kirchen. Eine Doku über Elefanten überträgt nicht den Geruch ihrer Scheiße, der auf einer Safari riechbar ist. Dieser Duft löst allerdings im Stammhirn etwas aus, was es am Bildschirm nicht tut. Auch das Gefühl für Größe und Proportionen ist vom körperlichen und nicht visuellen Schauen abhängig. Picasso wurde mal von einer Frau angesprochen, warum denn auf seinen Bildern die Menschen nie so aussehen, wie sie wirklich sind. Er fragte: „Wie schauen sie denn wirklich aus?“ Darauf zog sie ein Foto von ihrem Sohn aus der Tasche und sagte: „So sieht mein Sohn wirklich aus!“ Darauf Picasso: „Oh, das tut mir leid, so flach und so klein?“. Kunst zeigt uns, dass die Wirklichkeit mehr ist als ein Foto. Fotos und Videos suggerieren Wirklichkeit, wo keine ist.
Begegnung am Bildschirm kann man demnach nur erleben, wenn man frühere (!) Beziehungserfahrungen mit diesem/n Menschen in sich wachrufen kann – dann erlebt man auch am Bildschirm Kontakt. D.h. die gegenwärtige Virtualität aktiviert eine abgespeicherte Vergangenheit. Daher genießen Großeltern den Videochat mit den Enkeln und das Bier am Sofa schmeckt mit den Freunden am Bildschirm interessanterweise besser. Virtualität macht die Vergangenheit gegenwärtig. Diese Fähigkeit – gute innere Beziehungserfahrungen wach zu rufen – haben allerdings nicht alle Menschen. Manche Menschen wurden etwa immer wie „Dinge“ behandelt und betrachtet – und wurden nie als Mensch mit Resonanz versorgt.
Eine weitere Facette, um den Mangel an Kontakt am Bildschirm auszugleichen, ist es, wenn die Begegnung, die möglich werden könnte, innerlich antizipiert wird. Manche kennen das von den auf Online-Portalen angebahnten Dates. Man imaginiert eine schöne Zukunft, ruft damit gegenwärtige Gefühle hervor, drückt diese aus und erzeugt somit Verbundenheit (obwohl man sich noch nie getroffen hat). Man kann sich also sehr wohl im Virtuellen genauso wie in der Realität kennenlernen, wenn man im Auge behält, dass jeder sein vorgestelltes Bild vom anderen „kennenlernt“ und dieses dann irgendwann mit der realen Person abgleichen muss. Das kann zur Heirat wie zur Enttäuschung führen, wie man weiß. Ein solcher Abgleich ist im Virtuellen sehr viel anspruchsvoller als im Nicht-Virtuellen, weil eben das Embodiment fehlt, was eine zentrale Instanz der Informationsbeschaffung ist.
Es steigt daher der Anteil an nicht überprüfbarer Projektion in virtuellen Kontexten enorm. Man ist in höherem Maße auf sich selbst und die inneren Bilder bezogen. Aus diesem Grund macht sich nach einiger Zeit im virtuellen Raum stärker bemerkbar, wer welche inneren „Bilder“ von den jeweiligen Bezugspersonen wirksam werden lässt. Die einen sehen in den anderen zu viel Positives und die anderen zu viel Negatives. Das passiert sonst auch, aber im reduzierten Wahrnehmungsraum virtueller Kontexte wird das sehr viel bedeutsamer. Das ist wichtig zu wissen, weil das helfen kann, die Enttäuschungen bei realen Begegnungen besser zu verarbeiten.
Wer tut sich leicht, wer tut sich schwer?
Was am Bildschirm wahrnehmungsseitig möglich ist, ist Sehen und Hören. Das Riechen, das Berühren, das Atmen von Atmosphäre, das leibliche Ertasten von Stimmungen, das Schmecken der Luftqualität – also alles, was man kinästhetische Wahrnehmung nennt, bleibt auf der Strecke. Jeder Mensch hat einen Art Heimathafen in Bezug auf sein bevorzugtes Wahrnehmungsfeld. Daher – das sollte man wissen – tun sich visuelle Menschen am leichtesten, die aufs Hören geeichten müssen lernen die vielen visuellen Reize zu ignorieren, und die „Kinästheten“ kommen unter Stress und irren leicht desorientiert am kacheligen Bildschirm umher.
Allen gemeinsam ist, dass egal welche Resonanz man gerade empfindet, die Synchronisierung dieser Resonanz auf andere kaum möglich ist. Ich freue mich über den mimischen Ausdruck von jemandem, lache, aber niemand der 6 Leute am Bildschirm weiß wen ich anlache und auf welchen Moment meine Freude sich bezog. Das ist schon ein Problem, wenn es real passiert, im virtuellen ist es ständig der Fall. Die zeitliche Abstimmung gelingt wenig und die soziale Adressierung wird unübersichtlich. Das kann nicht kommunikativ aufgefangen werden („Ich habe wegen Deines verkniffenen Gesichtsausdrucks gelacht, Helmut!“), da dies das Gespräch sprengen würde oder zumindest extrem verlangsamen würde. Wird es aber nicht erklärt, dann hängt die wechselseitige Resonanz in der Luft und droht ihren Sinn zu verlieren. Dadurch wird die Kommunikation anstrengend, umso mehr je länger sie dauert. Körpersprachlich ist man in einem Art echolosen oder echoverzögertem Raum. Das limbische System reagiert darauf mit Stresshormonen. Dabei ist es wichtig, nach Videokonferenzen realen Kontakt zu haben, sonst bleibt man auf dem Stresspegel sitzen.
Welche Menschen mögen Virtualität aus ungünstigen Gründen?
Ich habe hier Führungskräfte im Coaching, die atmen geradezu auf. Endlich kein Zwang zu Nähe und Befindlichkeiten, endlich Arbeiten an der Sache, an nötigen Abstimmungsprozessen, endlich mit einem Klick auf die Stummschaltung Befreiung vom Smalltalk. Ihnen fehlt es an nichts. Sie waren vorher ohne wesentliche Resonanz auf andere Menschen und haben Zwischenmenschliches in Kauf genommen, um keine schlechten Ergebnisse in Mitarbeiterbefragungen zu erhalten. Es sind Menschen, die ergebnisorientiert sind und Angst vor Nähe haben.
Oder sie sind in hohem Maß introvertiert und hatten bislang noch keine zu ihnen passende Form gefunden, sich in Gruppen wohlzufühlen. Auch ihnen kommt die Möglichkeit am Bildschirm einfach unauffällig in der Zuhörerrolle zu bleiben, sich keinen Beschämungssituationen und weniger Spontanitätspflichten auszusetzen, sehr entgegen. Da alle oft etwas unbeholfen mit der Technik „rüberkommen“, entsteht sogar mehr Gemeinschaftsgefühl.
Erst recht finden sich Menschen mit Beziehungstraumata in virtuellen Kontexten oft gut zurecht, da sie hier mehr Kontrolle über die Situation haben. Sie müssen keine Übergriffe fürchten, können leichter flüchten („Ich verstehe gerade nichts mehr!“) und haben weniger Angst vor Ablehnung.
Wer steht Virtualität aus ungünstigen Gründen skeptisch gegenüber?
Manche wollen möglichst nichts oder wenig mit dem Online-Arbeiten zu haben. Wie kommt das? Es sind im Wesentlichen zwei unbewusste Motive, die hier zum Zug kommen, die jeder, der mag, für sich prüfen kann.
Das eine ist das Festhalten wollen an einer Welt der Vertrautheit. Das Neue wird als technisch, als nicht menschengerecht, als Entfremdung angesehen, die die Welt noch weiter vom eigentlich Wichtigen und Wertvollen wegbringt. Die emotionale Inbrunst, mit der solche Meinungen dann vertreten werden, wächst häufig auf dem Boden uneingestandener Ängste und Überforderungsgefühle. Diese wiederum „muss“ man leugnen, weil man sonst nicht mehr in die Zeit passt oder als rückständig angesehen wird. Daher braucht es ein mit Werten aufgeladenes Gegen-Narrativ, welches dann z.B. in der „Bewahrung des Menschlichen“ gesucht wird.
Das andere ist ein unbewusstes Wissen, dass einem das fehlende Embodiment, als das Fehlen der unmittelbar leibhaften Wahrnehmung von Resonanz, Rückkopplung und Verbundenheit mit anderen ganz und gar nicht gut tut. Manche Menschen leiden im virtuellen Kontext, weil es alte Wunden aufreißt. Wunden, die entstanden sind, weil frühe Bezugspersonen eine „technische“ Ausstrahlung hatten, weil sie schon auf der Wickelauflage zu „funktionieren“ hatten und letztlich in gewisser Weise auf der körperlichen Ebene schon immer allein waren. Sie kennen „virtuellen“ Kontakt auch ohne Bildschirm. So jemand reagiert fast zwangsläufig auf medial vermittelten Kontakt mit Unbehagen, innerem Verstörtsein und Fluchttendenzen oder Apathie. Das Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit fällt deshalb schwer. So sucht man sich „vernünftige Begründungen“, um den inneren Zustand zu erklären und zu rechtfertigen oder man bekämpft die Medien in der oben beschriebenen Weise. Man verbirgt seine Not hinter Werten.
Reflexion statt Reflexe
Was nottut, ist etwas Innehalten und Selbstreflexion. Jeder tut gut daran, seine spontanen Impulse, seine Neigungen sich in irgendetwas, was mit den virtuellen Möglichkeiten einhergeht, bestätigt zu fühlen, zu hinterfragen. Reflexion statt Reflexe könnte das Motto sein. Wenn man den Hype nutzt, um Erfahrungen zu sammeln, zu erlauben, dass unterschiedliche Menschen das Gleiche unterschiedlich erleben dürfen, dann könnte jeder sein Erleben selbst hinterfragen.
Wie jede Krise, wie alles Neue, bietet es die Chance, das Alte auf die Probe zu stellen. Die Geschwindigkeit, mit der viele sich im Neuen aufgeben oder im Alten feststecken, finde ich faszinierend und bedauerlich. So als ob immer schon geklärt ist, was man über Bord werfen und was besser besonders an Bord halten sollte.
Welche Formen von Zusammenarbeit, von Beratung und Coaching, von Verständigung und Miteinander in virtuellen Kontexten möglich und unmöglich sind, wird sich erweisen müssen. Mein Plädoyer: Lassen wir uns dafür Zeit und lassen uns herausfinden, wer wir sind, wenn wir andere sehen, ohne sie erspüren zu können. Wir Menschen sind Kontextwesen und welches Wesen sich in uns breit macht, wenn der Kontext in höherem Maß virtuell wird, könnte spannend sein herauszufinden. Eins scheint mir sicher: Virtueller Kontakt bringt in sich weder das Heil noch das Verderben. Vieles wird durch Übung besser werden. Aber wer von den Unterschieden nichts versteht, ist den Verhältnissen ausgeliefert und kann sie nicht gezielt gestalten.
Überlegungen wie diese (und sehr viele weitere) könnten so nach und nach eine Grundlage bilden, um eine Orientierung zu bekommen, worauf bei Teamentwicklungen in virtuellen Teams zu achten wäre, welche Phänomene zu hinterfragen sind und mit welchen verdeckten Problemen zu rechnen sein könnte. Aber es gibt auch Anlass, weiter nach Möglichkeiten zu suchen, virtuelle Kontexte wahrnehmungsreicher zu machen und Menschen zu unterstützen, die Begrenzungen des Virtuellen innerlich bewusst zu kompensieren. Das braucht es ja nicht nur dort, sondern auch in der realen Welt von Partnern, Kindern, Kollegen, Vorgesetzten, Mitarbeitern und Freunden.
Webinare, #remotework & Co. ...meine persönlichen Lerneffekte | ArtundStil
[…] ich heute diesen [Klick] lohnenswerten Artikel über „Virtuelle Begegnung“ gelesen habe, kam ich auf die Idee meine für mich wichtigsten Erkenntnisse zu […]