Zu einem metatheoretischen Verständnis von Führung (2)
Führung in (virtuellen) Teams
Von Carla Hegeler, Julia Klotz, Philipp Staudhammer, Patrick Hoberg, Oliver Pilscheur und Klaus Eidenschink
Aufgrund der aktuellen Corona-Krise möchten wir einen weiteren Artikel zur Verfügung stellen, um Thesen zum ‚Führen und Geführt-Werden in virtuellen Teams’‘ zu formulieren. Wir wollen zunächst mit grundsätzlichen Überlegungen starten, um dann die Einsichten in Thesen und Handlungsempfehlungen zu übertragen, besonders im Kontext virtuellen Arbeitens im Homeoffice.
In unserem Artikel vom „Führen und Tanzen“ hatten wir Führung als soziales Entscheidungsgeschehen definiert, als ein Geschehen, das in Organisationen durch Kommunikation jederzeit stattfindet, unerheblich, in welcher Rolle Menschen eingesetzt werden bzw. sich einsetzen. In diesem Artikel wollen wir der Frage der Besonderheit des Führens in Teams nachgehen.
Ohne Ziel kein Team
Um komplexe Ziele wie das Bauen eines Flugzeuges oder die Bereitstellung von Kantinenessen zu bewerkstelligen, braucht es parallele Prozesse – ein Mensch allein kann deshalb diese Aufgabe zeitlich und fachlich nicht bewerkstelligen. Um die Aufgabe erfüllen zu können, braucht es eine komplexe Leistung eines gesamten Kollektivs mit unterschiedlichen Rollen.
Je komplexer die Aufgabenerstellung insgesamt ist, desto mehr wird nicht nur eine funktionale Unterscheidung nötig, sondern es sind auch mehr Menschen vonnöten, die sich Unterzwecken bzw. untergeordneten Zielen zuwenden. Das ist die Geburtsstunde des Teams: Teams entstehen nur so und sind auch nur deshalb als solche existent – ohne Ziel kein Team.
Das kann an folgendem, im Moment surreal anmutenden Beispiel noch einmal verdeutlicht werden: Wenn in einem Bahnabteil sechs Personen sitzen, sehen wir eine Ansammlung von Leuten, vielleicht durch die lange bewegte Fahrt eine lose entstandene Gruppe. In dem Moment, in dem der Zug zum technischen Erliegen kommt und sich diese Menschen das Ziel setzen, dennoch und gemeinsam ihren Zielbahnhof zu erreichen, entsteht interimsweise ein Team, entstehen am Ziel orientierte und aufeinander bezogene Interaktionsmuster. Im Moment der Erreichung des Zielortes fällt dieses Team jedoch wahrscheinlich auseinander. Das Ziel ist erreicht, alle Reisende entfernen sich vom Zielort. Oder sie setzen sich ein weiteres Ziel, z.B. die gemeinsame Klage auf Erstattungsanspruch.
Es gibt immer Führung
Indem ein Team organisational gebildet wird bzw. sich durch eine organisational initiierte Zielsetzung entwickelt, entstehen quasi automatisch informelle und in Organisationen an den dortigen Gegebenheiten orientierte formale Interaktionsmuster. Diese Selbstorganisation bewirkt ihre eigenen Strukturen und übernimmt Strukturen durch Vorgabe und Schnittstellen zur Organisation. Diese Interaktionsmuster sind nun geprägt von vielen psycho-, team-/gruppen- und macht- bzw. autoritätsdynamischen Prozessen: Wer hat recht, wer weiß mehr, wessen Lösung wird mehr Potential zugetraut? Wem wird gefolgt und wem nicht? Aus unserer Sicht ist Führen in Teams damit gar nicht wegzudenken. Vom Führen freie, also rein ‚kollegiale/symmetrische‘ Teamprozesse sind aus unserer Sicht nicht realisierbar – und auch gar nicht nötig. So erklärt sich auch die Überschrift:
Wir sprechen nicht von der Führung von Teams, sondern vielmehr vom Führen in Teams.
Wenn eine Organisation nun einer Person in diesem zielbezogenen Interaktionsgeflecht oder für ein zu bildendes Geflecht eine besondere Entscheidungsbefugnis (Macht) zur Zielbearbeitung und – erreichung zuweist, und dazu gehört auch die Gratifikationsbefugnis, entsteht eine Führungsrolle. Und es entsteht eine soziale Binnenstruktur – es gibt innerhalb des Teams ein Außen. Mit diesem Innen-Außen, dieser Binnengrenze entstehen wiederum neue Entscheidungsnotwendigkeiten und damit – muster. Diese äußern sich z.B. darin, wer der Führungskraft was erzählt, wann das passiert, was von wem mitgetragen wird, wer welche Entscheidungen delegiert bekommt und ob überhaupt (Delegationskontinuum)….
Diese unterschiedlichen, entstehenden Kommunikationsmuster im Dienst des Ziels (existentielle Grundlage des Teams!) verdeutlichen noch einmal, dass es ganz unterschiedliche Prozesse des Führens in einem Team gibt. Und dass es so etwas wie einen Tanz, ein Hin-und-Her der Interaktionen gibt, einen Wiegeschritt zwischen Problembearbeitung und Interessenorientierung, zwischen Mitarbeiter- und Organisationsorientierung. Die ‚dyadische Führung‘ wirklich jedes einzelnen Mitglieds, die Gestaltung all dieser Arbeitsrollenbeziehungen, reicht deshalb nicht allein für die Steuerung eines Kollektivs aus. Um das zu verdeutlichen: In unserem Tanzbeispiel wäre damit das Gebilde „Es tanzt“ aufgelöst und es entstünden lose Enden, wartende Blicke. Gemeinsam einsam wäre es, Phantasien und soziale Vergleiche entstünden.
Der Pol der Mitarbeiterorientierung würde überstrapaziert. Diesem entgegen wirkt, die Beziehungen, das Beziehungsgeflecht, im Auge zu behalten, und nicht nur die einzelnen Personen in Teams. Man stelle sich vor, die Mannschaftsbesprechung beim Time-Out würde bilateral erfolgen!
Führung führt im Durcheinander vieler Faktoren
Eine Führungsrolle in einem Team innezuhaben bedeutet demnach, sich auf die Überdeterminiertheit von Beziehungen einzulassen. Es vollzieht sich kein Steinwurf, der ein Anfang und ein Ende hat, sondern es vollziehen sich Impulse, die sich selbst durch die Reaktionen des Gegenübers Impulse setzen! Wie es in den Wald schreit, so, und oder anders, schreit es eben nicht nur heraus, sondern im Wald selbst, das Echo setzt sich fort…
Die Markierung einer Führungsrolle in diesem Geflecht ist damit gleichzeitig ein Paradox, sie führt und wird geführt. Sie hat die Aufgabe, die Zielsetzung innerhalb dieser Zirkularität und der vielfältigen Muster voranzutreiben und sie wird dabei auch selbst gestaltet.
Es ist also nur ein Teil, sich einzelner Personen anzunehmen, wirkmächtiger scheint es für die Führungsrolle zu sein, Beziehungsbildungs- und Beziehungsgestaltungsdynamiken zu betrachten. Führen in Teams heißt letztlich für alle Mitglieder des Teams, ihre eigene Konstruktionen von den führungsbezogenen Beziehungsmustern im Team (Führen und Sich-Führen-Lassen) zu reflektieren – dies gilt sowohl für die Führungskräfte und ihrer machtbezogenen Binnenabgrenzung als auch für die Teammitglieder, die in dieser Binnenstruktur die andere Seite der Führungsmedaille darstellen. Alle persönlichen Erfahrungen mit dem Sich-Führen-Lassen und dem Führen, vom Kindergartenkind bis zum Vereinstrainer-Dasein, spielen hier hinein und führen zu verschiedenen Formen von Anpassung, Überanpassung, Widerstand oder Rebellion. Auf beiden Seiten.
Teamarbeit ist Leben in komplexen Verhältnissen
Wie kann dieser Komplexität entkommen werden? Wohl gar nicht. Aber was in dieser Komplexität für alle Beteiligten notwendig ist, ist die eigene innere Autonomie im Dienste des Teams, des Ganzen zu kultivieren und dafür einzusetzen: Sich selbst und andere mit Blick auf Bedürfnisse der Nähe und Distanz, der Freiheit und Sicherheit, der Einzigartigkeit und Zugehörigkeit kennen und einschätzen zu lernen und die Dynamik der Bedürfnisregulationen im Zeitablauf und mit Blick auf die Zielerreichung des Teams positiv zu beeinflussen, das zeugt von dieser inneren Autonomie. Und je mehr verschiedenen Teams ein Einzelner angehört, desto mehr Spannungstoleranz wird vom einzelnen verlangt, sei es beispielsweise aufgrund widersprüchlicher Ziele und Interessen zwischen und in unterschiedlichen Teams, sei es aufgrund eigener Bedürfnisse, die nicht überall in gleicher Weise befriedigt werden können.
Diese Komplexität und Überdeterminiertheit der Interaktionen in Teams und die hier notwendige innere Autonomie aller (!) Beteiligten, nicht nur der Führungskraft, werden unseres Erachtens viel zu wenig beleuchtet und gefördert. Diese ist aber in Zeiten agiler Kontexte, neuer Arbeitskonzepte und hoher wirtschaftlicher Dynamik bzw. Unsicherheit das A und O für gelingende langfristige Leistungserstellung.
… und im Homeoffice?
Was bedeutet das für Führung in Teams während der Homeofficezeit der Corona-Krise? Hier ein paar Thesen und Handlungsempfehlungen:
- Führen von Teams im Homeoffice führt zur Verminderung der wechselseitigen beziehungsrelevanten Informationen, da direkte Kontaktmöglichkeiten aktuell eingeschränkt sind. Da Kontakt von der unmittelbaren, alle Sinne umfassenden Wahrnehmung der anderen lebt, gilt es noch mehr als bisher, ein besonderes Augenmerk darauf zu lenken, was man von einander mitbekommt und den anderen mitbekommen lässt. Dailies und in Analogie zu den Stand-ups: Screen-ups aus der agilen Welt können hier nützlich sein. Ganz besonders wichtig – und häufig missachtet – ist auch der Verzicht auf Sich-Ablenken und sich nebenbei Beschäftigen während der nun überall praktizierten Videozusammenkünfte.
- Führen von Teams im Homeoffice in dieser schweren Zeit muss entscheiden, wie mit inneren persönlichen Spannungen in dieser Zeit umgegangen wird. Können Angst, Ohnmacht und auch erfahrenes persönliches Leid im Team zum Thema gemacht werden? Wie kann man sich hier Trost holen? Dem Teamerhalt und der Zielbearbeitung hilft es, wenn in dieser schweren Zeit solche Themen ihren Platz haben und nicht unter der Decke ein Eigenleben führen. Zeitliche Räume für diese Interaktionen zu schaffen und sich gemeinsam zu überlegen, was man als Team wann reflektiert, benennt und emotional teilt, kann Halt geben, und das Leistungsvermögen erhalten. Wird Leid tabuisiert, führt es in der Gruppe ein Eigenleben und erzeugt Einsamkeit des Leidtragenden. Psychologische Sicherheit entsteht nur, wenn Mitgefühl sein darf und praktiziert wird.
- Durch die aktuelle Corona-Krise werden individuell massiv Stresshormone frei. Distress entsteht. Dies kann zu mehr Konflikten im Team führen. Wie man mit Stress und Konflikten in Homeoffice-Zeiten umgehen will, sollte direkt im Team besprochen werden. Der Auflösung dieser Konflikte sollte mehr Raum als sonst gegeben werden, damit kein Rückzugsverhalten entsteht.
- Bildschirme sind Projektionsflächen – technisch wie psychologisch. Auch darum sind Medien so beliebt. Die Seele kann ihren eigenen Film drehen. Dieses Phänomen – jeder lebt im eigenen Film – verschärft sich in Online-Meetings. Das darf man nicht unterschätzen. Menschen in Führungsrollen bekommen es deshalb noch mehr damit zu tun, dass in ihnen etwas gesehen wird, was nur am Rande etwas mit ihnen zu tun hat. Daher braucht es insbesondere Selbstfürsorge in Führungsrollen, damit man nicht von der Rolle lebt, sondern als Mensch weiter „im Spiel“ ist. Zudem sind Reflexionen im Team darüber, wie man sich erlebt, wo man sich enttäuscht, wo man sich stärkt und was man voneinander braucht, gerade auch online so wichtig.
Virtuelle Bezogenheit braucht genauso wie physische Bezogenheit eine hohe Achtsamkeit auf die Bedürfnisregulation und Selbststeuerung aller Beteiligten. Andernfalls verkommt das Team zu einem Synchronisationsmittel für Aufgabenpakete. Werden die Interaktionsmuster, aus denen das Team besteht, nicht den Bedingungen der virtuellen Räume angepasst, zerfällt auf Dauer das Team. Welche Anpassungen hier nötig sind – darüber muss gesprochen werden.
Oliver König
Volle Zustimmung! Nach dem Lesen bleibt bei mir der Gedanke „und wie könnte die Umsetzung für eine fitte Führungskraft konkret aussehen?“. Wäre gespannt dazu mehr zu lesen!