Zu einem metatheoretischen Verständnis von Führung (1)
Vom Führen und Tanzen
oder – Soziale Phänomene unter sich
Von Carla Hegeler, Julia Klotz, Philipp Staudhammer, Patrick Hoberg, Oliver Pilscheur und Klaus Eidenschink
Prolog
Ein altes Tanzstudio in Buenos Aires. Parkett, Holztäfelung. Eine Frau. Drei Männer. Tangomusik. „Pablo, komm, gib mal einen Rhythmus vor!“ Er macht einen Schritt…, zwei…, ganz viele werden es: Alle sechs Männerfüße fügen sich dem Rhythmus. Wer führt? Er führt – er? Der Rhythmus? Ein zweiter Raum öffnet sich und es bildet sich eine Einheit, ein Paar, es tanzt. Wer führt? Er! Er? Sie? Der Tanz? Der zweite Tänzer kommt ins Spiel und wieder diese Frage: Wer führt hier wen? Sie tanzen zu dritt. Eine andere Einheit in Bewegung. Und auch hier: Wer führt? Er? Oder er? Sie? Der Tanz? Der dritte Tänzer folgt. Es tanzt sich nun zu viert, in Nähe und in Distanz, im Tun und im Lassen, durch Warten und durch Übernehmen, sich Einfügen.
Sekündlich entscheidet sich etwas neu: ‚Es‘ führt, ja es entscheidet sich in jedem Moment so ganz von alleine und die Personen scheinen wie kontextuelle Elemente um den Tanz zu kreisen und doch fest mit ihm verkoppelt zu sein: Ja, ohne sie gäbe es das Phänomen gar nicht! Eine neue fließende Gestalt. Und es bleibt: Wer oder was führt?
Folgt man dem Film ‚Tango Lesson‘ (Regie und weibliche Rolle: Sally Potter, Pablo: Pablo Veron, 1997) bekommt man neben der Gänsehaut als Musik- oder Tanzliebhaber eben auch einen sehr lebendigen Eindruck über das soziale Phänomen ‚Führen‘.- ‚Tango Lesson‘ wollen wir im Folgenden zum Anlass nehmen, über Führungsdynamiken und -funktionen innerhalb von Organisationen nachzudenken.
Führung als soziales Phänomen statt als Aktivität von Einem/Einer
Wir vertreten hier die These, dass „Führen in Organisationen“ ein durch und durch soziales Phänomen ist und damit nicht lediglich ein personales oder dyadisches. Warum? Damit Führung entsteht braucht es (mindestens) drei: Führen und Führen-lassen und einen Kontext in dem dies geschieht. Mit dieser Idee von Führung als Leistung der Organisation lassen sich so viele Facetten beschreiben wie es Wendungen und Begegnungen im Wechselspiel des Tanzes gibt. Gleichzeitig werden viele Fallen und ungünstige Implizite vermieden, die mit dem klassischen Verständnis von Führung einhergehen.
Erlauben wir uns dennoch einen scheinbaren Umweg. Fangen wir erst mit einem personalen Konzept, mit der Selbstführung an. Rein sprachlich kommen wir nämlich auch hier nicht ohne ein Gegenüber, ein ‚Du‘ aus:
- Ich diszipliniere mich.
- Ich führe mich auf.
- Ich führe mich an der Nase herum.
- Ich muss mich besser organisieren.
- Ich will, dass ich noch effizienter arbeite.
Wer führt hier wen? Auch innerpsychisch braucht es einen der führt und einen der sich führen lässt. Dies setzt einen inneren Dialog voraus, einen Sprecher und einen Angesprochenen. Das läuft – wie man weiß – schon in der eigenen Person nicht immer glatt. Das gleiche (systemtheroretische) Prinzip gilt nun auch in Organisationen.
Ein Organisationsmitglied führt sich also zunächst mal selbst, aber er/sie tut dies im Kontext sozialer Mitgliedschaft (in einem Tanzensemble genauso wie in einem Arbeitsteam). Im sozialen Kontext gibt es unterschiedlichste Formen des Einflussnehmens, die unbestimmbar viele Formen annehmen. Diese erzeugen sich z.B. durch die formale Zuordnung von Rollen (‚Ich bin ab heute qua Arbeitsvertrag Führungskraft!‘) – man kann dies dann auch Macht nennen. Eine weitere Form des Einflusses entsteht durch das Wissen um die eigene Expertise (‚Mir doch egal, wer über mir führt!‘) – hier drängt sich der Begriff Autorität auf. Drittens konstituiert sich Einfluss durch informelle Prozesse, also durch soziale Einflussnahme, z.B. in Form von informeller Meinungsführerschaft, durch Attraktion und Charisma, durch Druck, Aufmerksamkeitsfokussierung (‚Wer schreit am lautesten?“), also kommunikative Aktivitäten von oben, von unten, von der Seite, zwischendurch etc. Diese Art des Einflusses nennen wir (in Anlehnung an Luhmann) Führung.
Wer führt und wer sich führen lassen soll, wird der Einfachheit halber mit der Organisationsstruktur formalisiert und zeitlich festgelegt (‚Ab 01. Januar ist Herr X unser Gruppenleiter“), und es wird damit auch wieder veränderbar („Der? Der kann das doch gar nicht!“). Selbst die Beendigung eines Führungsanspruches kann also einen handlungsleitenden Charakter in sich tragen und damit zu Führung werden. Eins wird so besonders deutlich: Wirksam wird sie nur durch Kommunikation, die Anschlussfähigkeit besitzt und damit weitere Kommunikationen nach sich zieht. Führung entsteht also erst durch Kommunikation und findet so lange statt, wie sie sich selbst reproduziert, also Anknüpfungspunkte für weitere Führungen herstellt. Im Beispiel: Ein Tanz bleibt nur so lange ein Fluss von Bewegungen, wie die Schritte des einen Folgeschritte des anderen ermöglichen.
Führen als Ausdruck dieser Kommunikationen entsteht, besteht und vergeht auch wieder.
Führung als Reduktion von Unsicherheit
Alle diese Spielarten von Einfluss und Führung in Organisationen sind in diesem Sinne nicht planbar. Sie geschehen überall, immer wieder und entstehen nur, weil sie einen Zweck haben. Wozu dienen also die ‚Führungen‘ in Organisationen? Wir meinen, dass in einer arbeitsteiligen Organisation die Prozesse des Führens der Reduktion von Unsicherheiten und der Entscheidungsbefähigung angesichts unendlich vieler Möglichkeiten dienen.
Führen ist demzufolge ein kommunikatives Tun, das Setzungen vornimmt, also entscheidet, über was und wie zu entscheiden (in scope) bzw. nicht mehr zu entscheiden ist (out of scope). Führen ist damit also soziales Entscheidungsgeschehen: Durch das Entscheiden über Rahmenbedingungen für das Entscheiden und durch das Entscheiden selbst – in jeder Gegenwart neu – werden die vielen unendlichen Möglichkeiten des Möglichen reduziert (Komplexitätsreduktion) auf das dann momentan durch Entscheidung Mögliche. Hierdurch wird also Unsicherheit in aktuelle Sicherheit umgewandelt. Führungen sind damit kommunikative Formen von Einflussnahme und des Einflussnehmen-Lassens, welche die Mitglieder einer Organisation gemeinsam erbringen. Somit begründet sich o.g. These, dass es sich beim Führen um eine organisationales und gemeinsam über den Zeitablauf erbrachtes Tun handelt. Dieses Geschehen greift dann logischerweise auf die meist recht unterschiedlichen Fähigkeiten der Akteure zu, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und getroffene Entscheidungen zu akzeptieren. Ohne diese Funktionen und Fähigkeiten wären Organisationen handlungsunfähig. Damit dientFührung der kollektiven Synchronisierung, der kollektiven Handlungsermöglichung und der gemeinsamen Erwartungsbildung, wie man der jederzeit ungewissen Zukunft aktuell ins Auge sehen will.
Um diesem Ziel gerecht zu werden, bedarf es folgerichtig allerdings einer Führungskräfteentwicklung, die dem sozialen, sich formenden Charakter – dem Tanz! – des Beziehungsgefüges viel mehr Aufmerksamkeit schenkt, als dies meistens der Fall ist. Systemtheoretisch fundierte Führungsentwicklung heißt, dem Oberziel der Entscheidungsbefähigung des sozialen Systems und dem Einfluss-Nehmen-(Lassen) ganz gezielt Rechnung zu tragen.
Folgerungen für Führungskräfteentwicklung
- Verhaltensrezepte, Führungsstile und Eigenschaftstheorien von Führung greifen zu kurz. Sie bedienen zwar die Funktion nach Reduzierung von Unsicherheit, sie erzeugen aber durch die fast zwangsläufige Überforderung der einzelnen Führungskraft ungünstige Folgekosten. Die Schematisierung von Führungskompetenz ohne Kontext überlastet den Vorgesetzten und suggeriert, ein bestimmtes Verhalten hätte automatisch günstige Wirkungen.
- Führungsentwicklung kann folglich nicht allein den Rollen der ‚Führungskräfte‘ und anderen ähnlich gelagerten Rollen (Projektleiter, Programmmanager) zugeordnet werden, sondern streng genommen allen Mitgliedern in einer Organisation. Führen und sich führen lassen eben und keine führungskräftespezifischen Seminare allein.
- Führungsentwicklung sollte noch stärker dem aktuellen Kontext des Führens Rechnung tragen. In unserem Beispiel ergibt sich das Führen aus der Situation: Wer tanzt? Wohin? Wie? Dem jeweiligen gegenwärtigen Kontext der einzelnen Personen (team- und organisationsweit) muss hier mit Hilfe von reflektorischen Prozessen Rechnung tragen werden.
- Führungsentwicklung müsste überdies stärker auf das Befähigen zum Treffen von Entscheidungen und den Umgang mit Folgewirkungen sowie auf den Aspekt der Einflussnahme ausgerichtet werden.
- Führungsentwicklung mit diesem Fokus müsste dann auf der anderen Seite aber sehr speziell auf die individuellen Personen zu fokussieren sein, um dysfunktionalen psychodynamischen Prozessen in der Selbstführung auf die Schliche zu kommen.
In Summe heißt das, dass Führungsentwicklung die nur auf die Person setzt zu kurz springt. Führung bedarf einer andauernden Reflexion aller, die sie tragen, die sie beobachten, die ihr ausgesetzt sind und die sie an neue Verhältnisse anpassen müssen. Das geht nur durch Kommunikation, die dadurch motiviert sein könnte, dass im Grunde niemand gern ausschließlich auf nebenfolgenreichen Zwang und sich abnützende Belohnungen setzt. Wer gern im Dialog führt oder sich führen lässt, hat es in Organisationen leichter. Wir finden, das ist kein schlechter Benefit.
Abspann (Epilog)
Folgt man im Film den Dialogen von Sally Potter und Pablo Veron über Führen und sich Führen lassen, (Potter liest im Film ‚Ich und Du‘ von Martin Buber, Veron die Autobiografie von Marlon Brando…), dann bekommt man einen lebendigen Eindruck, wie neben dem Sozialen Geschehen (der Tanz) individuelle Psychodynamiken Kontexte der Formen des Führens sind – und warum deshalb Führen und sich führen zu lassen nicht immer einfach ist. Deshalb braucht es keine ‚Great Man – Theory‘, sondern ein professionelles Verständnis von psycho-, team- und organisationsdynamischen Prozessen.