Zu einem metatheoretischen Verständnis von Strategie (1)
von Martina Rühm, Andreas Winklhofer, Volker Zumkeller, Dagmar Wemhöner, Barbara Ahr-Wendl und Klaus Eidenschink (Beiträgsreihe der Masterclass-Organisationsberatung bei Hephaistos)
Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt
Viele kennen die groben Schritte und Abläufe von Strategieprozessen in Organisationen: Strategieklausuren werden angesetzt, Beteiligte definiert, strategische und operative Ziele erarbeitet und priorisiert, Maßnahmen und Handlungspläne abgeleitet und in den folgenden Monaten umgesetzt. Es werden Zielerreichungsgrade evaluiert und ggf. werden Anpassungen bei den Maßnahmen vorgenommen. Spätestens mit Ablauf des zeitlichen Horizonts wird die Strategie bewertet, also als erfolgreich, beendet oder gescheitert erklärt, es werden Anerkennungen ausgesprochen oder Schuldige abgestraft. Mit dem nächsten Strategie-Zyklus beginnt das Spiel von vorne. So weit, so gut. Es ist ein eingespieltes Geschehen und dennoch in vielen Unternehmen in der Krise. Man spürt, dass es nicht mehr wirklich noch zur gegenwärtigen Lage passt. Das Umfeld, in welchem Strategien Wirksamkeit entfalten sollen, hat sich hierbei in den letzten Jahrzehnten rasant verändert: Disruptive Innovation verändern ganze Markt- und Branchenstrukturen, gekoppelt mit globalen Informationskanälen entsteht eine ebenso gefühlte wie reelle Beschleunigung. Die Zukunft scheint unkalkulierbarer, als sie je war.
Gerade auch weil – so unsere Beobachtung als Berater – bei vielen Kunden die Bewertungen von Strategieprozessen zunehmend unbefriedigend ausfallen, finden vielfältige und unkoordinierte Suchbewegungen statt. Wo ist das Werkzeug zu finden, mit dem diesen Entwicklungen im Strategieprozess wirksam begegnet werden kann? Auf dem Boden dieser Hoffnung gedeihen immer neue Führungsansätze und Tools, die Heilung für die oftmals auftretende Herausforderung und die daraus resultierenden Probleme aus einer mangelnden Übereinstimmung von Zukunft und der dafür entworfenen Strategie versprechen.
Strategie, Risiko und Gefahr
Wir wollen uns den Herausforderungen der Strategie von grundlegender Seite aus nähern. Beginnen wir mit der wichtigsten Funktion von Strategie und betrachten sie zunächst unter dem Aspekt der Zukunftsbehandlung.
Die Gemeinsamkeit vieler Strategieansätze liegt darin, dass sie dazu dienen sollen, eine unbekannte Zukunft aus einer bekannten Gegenwart zu beschreiben. Damit ist das Problem bereits in Gänze beschrieben: Die Zukunft ist unbekannt und kann erst beschrieben werden, wenn sie eingetreten ist. Strategische Entscheidungen sind Entscheidungen zum Umgang mit einer unbekannten Zukunft und folglich immer mit Irrtumswahrscheinlichkeit belegt. Mit jeder Festlegung auf ein strategisches Ziel wird damit aber eben immer auch das Risiko erzeugt, dass die Strategie entweder glückt oder dass sich die Zukunft anders entwickelt, so dass die getroffenen Maßnahmen ins Leere laufen oder gar schädlich sind. Gleichzeitig kann man sich nicht auf viele unterschiedliche Zukunftsszenarien einstellen. Man muss sie begrenzen und wählen.
Da es unmöglich ist, sich auf alle Optionen der Zukunft einzustellen müssen Organisationen eine Wahl dahingehend treffen, was risikonehmend oder gefahrentragend behandelt werden soll. Diese Wahl, wo man die Zukunft in Form einer planerischen Strategie behandelt (= Risikoorientiertes Vorgehen) und wo man sich in Form einer Robustheits- und Resilienzstrategie auf Unerwartetes, Überraschendes und Unbekanntes einstellt (= Gefahrenorientiertes Vorgehen), ist einer der grundlegenden Entscheidungs-prozesse jeder Organisation. Eine der Besonderheiten unserer Art Strategie zu denken, liegt darin, die Unterscheidung Risiko/Gefahr gezielt für alle Entscheidungsdimensionen zu nutzen.
Zeitdimension der Strategie
Nun kommt ein wichtiges Phänomen hinzu. Die Gegenwart verändert sich mit dem Fortschreiten der Zeit ständig und sukzessive. Jeder kennt das: Die Wünsche von morgen sind oft andere als die von heute, die Befürchtungen ebenso oft auch! Auch wenn sich an der Unbestimmtheit der Zukunft damit nichts verändert, so verändert sich doch ihr Bild in der Gegenwart. Das was gestern noch wünschenswert war, kann morgen problematisch sein. Die Zeit ist nicht zu fassen, sie bietet Möglichkeiten, die täuschen und verschließt Türen, die übermorgen wieder offen sind. So entstehen aus den immer gleichen Fragen potentiell mit jedem neuen Tag andere Antworten. Die Zeit entzieht sich der Kontrolle und der Absicherung. Das ist zwar allen bekannt, aber dieses Phänomen wird in Organisationen gern zugunsten einer erwünschten Planbarkeit trivialisiert.
Behält man dies im Auge kann ein Strategieprozess in einer Organisation niemals beendet sein. Er verändert sich dann vielmehr zu einer neuen Form von immer wiederkehrenden Schleifen, in welchem dieselben oder ähnliche Fragen je und je neu wieder an eine veränderte Gegenwart angelegt werden. Den Strategieprozess als rekursiven, zirkulären Prozess aufzusetzen, erscheint uns daher eine logische Konsequenz. Diese Schleifen braucht es in zweierlei Hinsichten, in der Sachdimension wie in der sozialen Dimension.
Sachdimension der Strategie
Über die Zukunft gibt es keine Daten. Es gibt nur Annahmen. Auch Annahmen, die sich wie Wissen gebärden. Es bleiben Annahmen. Die Menge an Energie, die in die Beschaffung und Interpretation von Daten und Prognosen bezüglich zukünftiger Entwicklungen gesteckt wird, kann daher auch als Indikator für den Umgang mit Unsicherheit auf Seiten der Organisation wie auch ihrer Berater angesehen werden. Daten wissen immer etwas über die Vergangenheit. Prognosen extrapolieren die Vergangenheit in die Zukunft. Je mehr solches Material von den organisationalen Entscheidern für nötig gehalten wird, desto sicherer kann man sein, dass diese wenig Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit haben, aber viel Bedarf an Absicherung.
Nichtsdestoweniger müssen sich strategische Überlegungen damit auseinandersetzen, wie die Entscheidungsorientierung der Organisation in Zukunft gestaltet werden soll: Setzt man darauf, dass die Entwicklungs- bzw. Vertriebsorganisation die relevanten Märkte und Kunden so gestalten kann, dass es zum Erfolg der Organisation führt? Oder passt man die Mitarbeiterstruktur der Organisation so an, dass die Organisation im künftigen Marktumfeld gut bestehen kann? Gleiches gilt für die Fragestellungen, ob und wie die Vernetzungsstruktur der Organisation auf die erwartete Zukunft hin angepasst werden muss, und ob und wie die der Qualitätsfokus den künftigen Anforderungen im Hinblick auf die nötige Geschwindigkeit und Gründlichkeit entsprechend refokussiert werden muss. Diese Entscheidungen können disruptiv sein und die „Seele“ der Organisation betreffen. Das führt zwangsläufig zu schwer zu begrenzenden Auseinandersetzungen und braucht dann die Fähigkeit, sich von alten Kompetenzen auch verabschieden zu können, um in die Unsicherheit des Unbekannten mit Energie eintauchen zu können.
Sozialdimension der Strategie
Die Wahl, wo die Zukunft risikonehmend oder gefahrentragend gestaltet wird, hat in der sozialen Dimension der Organisation gewaltige Auswirkungen. Denn sie legt fest, wer in einer Organisation zum Risikonehmer oder Gefahrenträger bestimmt wird. Risikonehmer sind die, die die Entscheidung treffen, Gefahrennehmer die, die von der Entscheidung anderer betroffen sind. Es gehört u.E. zum strategischen Prozess elementar mit dazu, zu entscheiden, wie mit den Risikonehmern bzw. Gefahrenträgern der Organisation umgegangen werden soll.
So kommt der Frage, wer wie in den Strategieprozess eingebunden bzw. von diesem ausgeschlossen wird, eine hohe Bedeutung zu. Sie muss aus unserer Sicht immer wieder neu gestellt und neu beantwortet werden, sonst bekommen solche Ausschlüsse zu viel Bedeutung. Weiterhin sind Fragen wie die folgenden im Strategieprozess unbedingt zu beleuchten: Wie ist es in der Organisation um die Bereitschaft bestellt, Themen zu verfolgen, die der eigenen Positionierung und den eigenen Bereichsinteressen nicht zuträglich sind? Was braucht es auf Seiten der Gefahrenträger, um zu einem „I disagree, but commit“ zu kommen? Wie können die aus dem Kampf um vermeidbare Gefahren erwachsenden Konflikte konstruktiv bearbeitet werden? Welche Kommunikations- oder Führungsmodelle werden benötigt? Wo soll die Organisation in Rückkopplungsschleifen über die unerwünschten Nebenfolgen informiert werden, die sich nicht bei den Profiteuren, sondern den Verlierern der Strategie sich entwickeln? Dies sind logischerweise nur ein paar wenige der Fragen, die hier relevant sind.
In Summe gilt: Da Organisationen um Konflikte gebaut sind, ist es hoch relevant, dass diese – wenn es um brisante Zukunftsfragen geht – bearbeitet und gestaltet und nicht vermieden werden. Oft schotten sich die Strategen aber gern in den dafür vorgesehenen Abteilung ab und schaffen vermeintliche Tatsachen, die in der Folge anderswo bekämpft werden. Für die Entwicklung einer Organisation bezüglich ihrer Flexibilität und Robustheit ist der Umgang mit diesen Konflikten von höchster Relevanz.
Fazit
In Strategieprozessen werden die verschiedenen Dimensionen der Organisationsdynamik (zeitliche, sachliche, soziale Dimension) sehr eng miteinander verknüpft. Daher sind diese gleichermaßen und im Kontext zu beleuchten. Unser Blickwinkel auf alle Dimensionen der Organisation und ihrer Umwelten erzeugt gerade beim Thema Strategie einen Unterschied zu vielen klassischen Strategieansätzen und Tools. Diese sollen u.E. oft dazu dienen, die unleugbare Komplexität so zu vereinfachen, dass am Ende nichts mehr zu entscheiden ist, weil die Zukunft quasi klar vor einem liegt.
Dass dieser Unsicherheit mit Zahlen, Prognosen und Wahrscheinlichkeiten wirksam zu begegnen wäre, ist nichts anderes als die Erschaffung von Scheinsicherheiten. Diese verstärken meist die Illusion, dass die Zukunft etwas sei, dass man berechnen könnte. Falls die Berechnungen und Prognosen nicht aufgehen, werden die Gründe hierfür meist in vermeintlich falschen Ausgangspositionen oder Vorgehensweisen gesucht, nicht aber in der Unbestimmtheit der Zukunft! Dies ist nicht selten ein Grund dafür, dass so viel Energie in die Erhebung und Validierung von Daten bzw. Prognosen gesteckt wird.
Strategiearbeit als einen kontinuierlichen, sich immer wiederholenden Prozess zu sehen, der Entscheidern wie Beratern viel bezüglich der eigenen Unsicherheits- und auch Frustrationstoleranz abverlangt, ist wohl eines der wichtigen Unterscheidungsmerkmale des hier skizzierten Ansatzes zu vielen anderen Strategiemodellen. Ein rekursiver Strategieprozess mag einer Organisation deutlich mehr abverlangen als ein einmaliges Skizzieren des Prozesses, die Messung von Zielerreichungsgraden und der entsprechenden Nachjustierung. Der Gewinn eines solchen Vorgehens liegt jedoch unabhängig von weiteren, mehr oder weniger messbaren Faktoren, in einer erhöhten Vernetzungsdichte, Konfliktfähigkeit und Reaktions-schnelligkeit der Organisation. Das erscheint uns in der gegenwärtigen Lage von hohem Wert.
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