Klaus Eidenschink
Wie kann man andere beruhigen? (Teil 1)
Günstiges und weniger Günstiges im Umgang mit Menschen in Angst
– Eine Minihandreichung in vier Teilen (hier Teil 2 , Teil 3 und Teil 4 –
Viele haben jetzt Ängste. Wie man günstig damit umgeht, wenn man selbst in Ängsten ist, habe ich vor geraumer Zeit HIER und HIER schon mal beschrieben. In dieser vierteiligen Serie beschreibe ich nun, was man tun könnte und lassen sollte, wenn andere voller Ängste sind und sich in ungünstigen Zustände begeben haben. Um den Blick zu schärfen und in die psychologische Komplexität des Themas ein wenig Ordnung zu bringen, gehe ich von vier Formen dysfunktionaler Angstzustände aus, die leicht zu merken und bis auf den letzten leicht zu beobachten sind. Das erleichtert es auch Nicht-Fachleuten, in solchen Situationen den Menschen, die einem wichtig sind, konstruktive Kontaktangebote zu finden und weniger Konstruktives zu unterlassen. (Wir greifen implizit hier auf unser metatheoretisches psychologische Modell von acht seelischen Leitprozessen zurück; wen es interessiert findet mehr in unserem Tool zum Selbststudium oder hier eine Einführung)
- Man weiß von seiner Angst, spürt sie und wird von ihr beherrscht. (Teil 1)
- Man weiß von seiner Angst, spürt sie und versucht sie zu verbergen. (Teil 2)
- Man weiß und spürt nicht, dass man Angst hat, aber alle anderen können es trotzdem sehen. (Teil 3)
- Man weiß und spürt nicht, dass man Angst hat, und auch im Selbstausdruck ist davon nichts zu sehen. (Teil 4)
Merkmale von Menschen in starken Ängsten oder leichten Panikzuständen
Ich beginne mit Fall 1 aus obiger Liste und schildere zunächst einen Fall aus meiner Coachingtätigkeit.
Vor mir sitzt ein junger Unternehmensberater, der mir ganz betroffen erzählt, dass ihn vorletzte Nacht um 2 Uhr sein Vater angerufen hat. Dieser wäre ein hochrangiger Manager in einem DAX-Konzern und hätte für ihn vollkommen überraschend seinen Vorstands-Vertrag nicht verlängert bekommen. Der Vater wäre ein Leben lang der Fels in der Brandung für die gesamte Familie gewesen und war immer für alle da. Wegen Corona hätte er im nächtlichen Telefonat verlangt, dass der Sohn sofort nach Hause kommen solle, er habe wilde Verschwörungstheorien über geheime Mächte im Aufsichtsrat und den Shareholdern von sich gegeben und habe kurzatmig und etwas schrill gesprochen. Er sei währenddessen in der Wohnung auf und ab getigert und hätte alle Bitten seiner Frau, ins Bett zu kommen, brüsk abgewiesen.
Ob ich ihm sagen könne, was zu tun sei? Ich frage ihn, was er denn getan habe. Nun ja, meint er, er habe ihm gesagt, dass es so schlimm nicht werden wird und er habe ihn auf die Unsinnigkeit seiner Theorien hingewiesen. Er selbst fände es unmöglich, sich so gehen zu lassen, habe sich aber nichts anmerken lassen, weil er den Vater sehr verehre und liebe. Seitdem stünde er mit ihm in SMS-Kontakt, wo er ihn einfach immer wieder frage, wie es ihm ginge. Der Vater habe sich, auch nach Aussagen seiner Mutter, zwar inzwischen beruhigt, wirke aber sehr still und merkwürdig leblos.
Das Beispiel eignet sich besonders gut, um zu zeigen, wie solche Zustände zustandekommen, sich zuspitzen und dann entweder in günstiger oder wie hier ungünstiger Form verschwinden bzw. in den Hintergrund gehen.
Jeder Mensch hat Reizschwellen, die, wenn sie überschritten sind, zu einem Wechsel des inneren Verarbeitungsmusters bei Unsicherheiten und Gefahren im Außen führen. Das ist normal und nichts Ehrenrühriges. Sorgen um die wirtschaftliche Existenz und den guten Ruf sind durchaus Reize, die bei vielen Menschen dazu führen können, dass das Großhirn aus der Selbststeuerung der Psyche ausscheidet und die restlichen unbewussteren Prozesse, quasi als seelisches „Notfallteam“, allein das Kommando übernehmen. Dann dominieren die untere, mittlere und obere Ebenen im limbischen Teil des Gehirns das Erleben. Das Stressverarbeitungssystem, das Selbstberuhigungsystem und Impulskontrollsystem ändern ihren Modus (Siehe dazu etwa Roth/Ryba, Coaching und Beratung in der Praxis). Wenn ich in einer metaphorischen Sprache bleibe, dann bleibt man in solchen Zuständen seelisch nicht erwachsen, sondern mutiert zu einer oder einem Fünfjährigen.
Ungünstige Folgen
Da diese „seelischen Fünfjährigen“ aber in erwachsenen Kontexten bleiben, aktiviert die Psyche nun Mechanismen damit umzugehen die weitere Schwierigkeiten aufwerfen. Im Beispiel oben werden also in unserem Vorstand elementare und mit der gegenwärtigen Situation erstmal gar nichts zu tun habende Ängste wach. Diese signalisieren ihm aufgrund früherer Erfahrungen, dass seine berufliche Situation jetzt ganz, ganz schlimm ist. Das emotionale Gedächtnis kennt keine zeitliche Datierung. Der Vorstand meint, dass seine Angst den Grund im Jetzt hat, aber seine Angst ist ein Deutungsschema aus seiner Vergangenheit. Anfühlen tut es sich aber anders.
Diese Ängste müssen nun aber dem „erwachsenen Teil“ in ihm erklärt werden. Daher versucht nun sein Großhirn auf Biegen und Brechen eine Erklärung zu finden, warum er sich so panisch fühlt. Dafür reicht der bloße Verlust des Vertrags nicht aus. Das weiß er auch selbst. Da kommen dann böse Mächte, die Übles wollen, als Grund gerade recht. Dann sind es die falschen Versprechungen seines Aufsichtsrats, dem noch nie zu trauen war, die Finanzmafia, die im Hintergrund wirkt und seine Leistungen nicht sieht und ihn ins Verderben reißen wil. Diese Überzeugungen sind für Außenstehende merkwürdig bis absurd, für den Betroffenen selbst in höchstem Maß glaubwürdig. Er muss daran festhalten, sonst wäre seine Angst ja falsch! In gleichem Ausmaß versucht die Seele nun aber auch, die emotionale Not zu lindern. Das versucht unser Vorstand dadurch, dass er auf eine „kleinkindartige“ Weise nach Schutz sucht. Er schläft in der Nacht nicht mehr – so wie ein Kind mit Angst vor Gespenstern – und ruft verzweifelt nach der Mama. Weil er aber sein eigenes Bedürftigsein als erwachsener Mann ablehnt („Ich muss der „Fels in der Brandung“ sein“), wendet er sich nicht an seine Frau, um sich tröstend halten zu lassen (was hilfreich wäre). Statt dessen sieht er seinen Sohn als bedürftig und gefährdet an, und will ihn deshalb nach Hause holen. So entsteht der merkwürdige Widerspruch zwischen seiner eigenen Panik und dem Versuch, weiter der Beschützer seiner Familie zu sein.
Ungünstige Antworten
Das dysfunktionale Muster im Umgang mit Angst findet nun in der Familie seine Fortsetzung. Der Sohn erschreckt sich, kennt den Vater nicht wieder, macht sich Sorgen, verwandelt sie seinerseits in Ängste und versucht – aufgewühlt wie er ist – den Vater zu beruhigen. Das ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil er selbst in Angstzustände kommt. Erst recht schlägt es aber fehl, weil er sich nicht an den „Fünfjährigen“ im Vater wendet, sondern an den Erwachsenen, und mit ihm über die Inhalte der Verschwörungsideen diskutiert. Je mehr er diese in Frage stellt, desto mehr verteidigt sie der Vater, weil er ja die Begründung für die Ängste nicht verlieren darf. Das Gespräch eskaliert. Alle Versuche von „So schlimm wird es schon nicht werden“, die der Sohn ins Feld führt, werden abgeschmettert und beide fühlen sich voneinander enttäuscht und bleiben allein.
Am nächsten Morgen stimuliert die eintreffende SMS des Sohnes „Wie geht es Dir?“ beim Vater erneut das Denken und damit eine weitere Schleife im Versuch sich zu erklären, warum die Situation so schrecklich ist. Hier ist es wichtig psychologisch klar zu bleiben: Die Situation ist für den Vater schrecklich, weil er gelernt hat, im Angesicht von diffusen Gefahren in der Gegenwart alte Angstmuster zu aktivieren, die ihn beherrschen/überwältigen. Nicht die Situation an sich ist das Problem, sondern das innere Muster! Denn gerade, wenn Gefahr droht, das Leben anspruchsvoll wirt, ist es wichtig, seine Kraft zum Fliehen oder Kämpfen zur Verfügung zu haben! Alte Ängste, so plausibel sie auch sein mögen, helfen nicht, sondern behindern.
Die gut gemeinte SMS führt also im Effekt leider nur zu weiterem Nachdenken. So als ob ein Vater, der beobachtet hat, wie sein Sohn von der Schaukel gefallen ist, auf der Bank am Rand des Spielplatzes sitzen bleibt und nachdenkt(!), ob ihm wohl was passiert ist und er Schmerzen hat. Also lassen alle – der „erwachsene Vater“ selbst, der reale Sohn und seine Frau – den „Fünfjährigen“ allein im Sand liegen, machen sich auf der Bank sitzend Sorgen und versuchen Erklärungen für die Schreie unter der Schaukel zu finden. Der von der Schaukel gefallene seelische Teil im Vater liegt im Sand und hat das Weinen aufgegeben. Er hat sich aufgegeben, weil ja keiner kommt. Er wird still und verstummt. Deshalb wird der Vater schweigsam und depressiv. Er verliert die Vitalität, die er bräuchte, etwa um einen guten neuen Job zu finden.
In Summe: Bitte nicht diskutieren, nicht Gedanken-Pingpong, keine Durchhalteparolen, keine Beschwichtigungen, keine Hoffnungsreden, keine Appelle an die Vernunft, keine Vergleiche mit Menschen, denen es schlechter geht.
Was hilft Betroffenen wirklich?
Das ist nun auf der Basis der Bisherigen schnell erklärt.
- Man muss sich im ersten Schritt um den „Fünfjährigen“ kümmern! Das heißt die Botschaft ist nicht „Wie geht es Dir?“, sondern „Ich bin für Dich da!“ und „Ich spüre, wie schlimm das für Dich ist!“. Man muss also immer zunächst anerkennen, dass die Gefühle subjektiv berechtigt und wirklich schlimm sind. Diese Anerkenntnis braucht in aller Regel ein erfahrbares Element. Der Betroffene muss beim anderen am Klang der Stimme hören, am Blick der Augen sehen oder an der Berührung spüren, dass ihm Mitgefühl zuteil wird. Ohne diese Art von Kontakt ist alles andere wert- und wirkungslos.
- Man kann helfen den dysfunktionalen Zustand, in dem das „Notfall-Team“ die Regie hat, zu unterbrechen. Dabei spielen körperliche Aktivitäten eine große Rolle. Egal ob maßvoller Sport, Musizieren, Aufräumen oder Handwerken – körperliche Betätigung erzeugt Neurotransmitterausschüttungen, die dem Angstzustand entgegenwirken. Dazu zu ermutigen und anzuregen ist jedenfalls als Krisenhilfe sinnvoll.
- Es ist absolut entscheidend, dass sich die ängstliche Seite für eine gewisse Zeit darauf verlassen kann, dass da jemand sich für sie interessiert. Daher – wenn man sich auf jemand bezieht, der in einem solchen Zustand ist, sollte man nicht damit rechnen, dass derjenige von sich aus wieder auf einen zukommt, sondern sollte sich in der Pflicht fühlen, das für ein paar Stunden oder Tage – je nach Lage und Situation – immer wieder mal zu machen.
- Manchmal gilt es sehr bestimmt darauf hinzuweisen, dass ein Ausagieren der Ängste im Sinne von Aktionismus, von Schnellschüssen, von Panikmaßnahmen und allem, was der Pseudokontrolle dient, möglichst zu unterlassen ist. Es beruhigt an der falschen Stelle und fördert die Überzeugung, dass die diffuse Angst über Kontrolle (und nicht über Selbstfürsorge) beruhigt werden könnte.
- Schlussendlich kann man versuchen die Selbstdistanzierung von den Ängsten zu fördern. Oft fällt es denn Menschen durchaus auf, wie sehr sie sich selbst im Stich lassen, sich innerlich für ihre Zustände anklagen und wie lieblos sie mit sich umgehen. Alles Haltungen, die ihnen mit anderen Menschen oft eher fremd sind. Sätze wie: „Wenn jetzt Dein Kind so panisch wäre wie Du gerade, was würdest Du denn dann tun?“ wäre so ein Beispiel für Selbstdistanzierungshilfe.
Das alles ersetzt keine Psychotherapie, die angezeigt ist, wenn jemand resilienter und robuster werden will. Aber als Notfallhilfe reicht es in den meisten Fällen meiner Erfahrung nach aus.
Probieren Sie es aus!
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P.S.: Wer das als Coach kunstvoll erlernen will – bei Hephaistos kann man das!
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