Klaus Eidenschink
Wie kann man andere beruhigen? (Teil 3)
Günstiges und weniger Günstiges im Umgang mit Menschen in Angst
– Eine Minihandreichung in vier Teilen –
Teil 1 und Teil 2
Eine dritte Form von Angstzuständen, die gerade auch in Coronazeiten häufig vorkommt, ist dadurch gekennzeichnet, dass jemand selbst die eigene Angst nicht wahrnimmt und daher auch nichts von ihr weiß. Gleichzeitig können andere (!) Menschen den Angstzustand aber durchaus wahrnehmen. Das Ansinnen dieses 3. Teil meiner Serie ist es, die Wahrnehmung für dieses Phänomen zu schärfen, so dass man mit Menschen in solchen Verfassungen einen guten Kontakt bekommen kann.
Auch hier beginnen wir mit einem Beispiel.
„Mein Chef macht sich Sorgen um mich!“
Mein Coachee hat in der Firma den kompletten Ausnahmezustand. Er ist Werksleiter bei einem Automobilzulieferer, hat eine sympathische Ausstrahlung, ist ein „Kumpeltyp“ und wirkt schon rein körperlich robust und belastbar. Er berichtet, dass er mehr oder weniger rund um die Uhr arbeitet und voller Ehrgeiz ist die Lage in den Griff zu bekommen. Während er erzählt, fällt mir die – im Vergleich zu sonst – leicht gesteigerte Geschwindigkeit auf, mit der er spricht. Seine Gesichtsfarbe ist röter, was auf einen erhöhten Blutdruck schließen lässt. Seine Atmung ist weit nach oben in den Brustkorb gezogen, was für einen Zwerchfellhochstand spricht. Die Füße bewegen sich ununterbrochen während er auf dem Stuhl sitzt. Sein Kiefermuskeln sind deutlich angespannt, ebenso die gesamte Nackenmuskulatur. Diese (phänomenologischen) Eindrücke lösen in mir eine Resonanz von Unbehaglichkeit aus. Ich bin in Versuchung mich von der Atmosphäre, die von ihm ausgeht, anstecken zu lassen. Ich fange selbst an kürzer zu Atmen und merke wie sich mein Magen etwas anspannt.
Also frage ich ihn, wie er sich selbst denn gerade fühlt. Die Frage irritiert ihn und er antwortet: „Bestens, ich bin voll im Saft und ich mag es, wenn ich gebraucht werde. Warum fragen Sie denn?“ „Nun ja, Sie wirken einfach sehr unter Druck und ich merke, wie ich mir anfange Sorgen zu machen, wenn ich Sie so reden höre.“ Das macht ihn kurz nachdenklich und er antwortet: „Sie sind ja wie mein Chef. Der hat gestern auch gesagt, dass er sich Sorgen um mich macht. Ich verstehe überhaupt nicht wieso?!“
Das „Ich-darf-meine-Angst-nicht-spüren-Muster“
Der Unterschied, ob man ein Gefühl nicht zeigen oder nicht spüren darf, ist in seinen Auswirkungen für die Persönlichkeit und die seelische Selbststeuerung immens. Wer etwas wie im Muster 2 versucht zu verbergen, übt ja durchaus auf diese Weise Selbststeuerung aus. Jemand, der ein inneres Verbot hat, Ängste in sich wahrzunehmen, ist psychisch deutlich mehr beeinträchtigt. Den ängstlichen Seiten unseres Werksleiters bleiben nicht viele Wege offen, um sich mitzuteilen, wenn man ihnen den Auftritt auf der inneren Bühne der Selbstwahrnehmung untersagt hat. Wie im realen Leben auch: Wer zu den offiziellen Medien keinen Zugang hat, sucht andere Möglichkeiten: Früher verteilte man Flugblätter, heute nutzt man Social Media Kanäle oder schreibt einen Blog oder zettelt Demonstrationen an. Verdrängte Ängste melden sich über Bluthochdruck, Magengeschwüre, Rückenbeschwerden, Atembeschränkungen, verkürzte Faszien usw. – also alles Symptome, die der Vagusnerv im autonomen Nervensystem hervorruft.
Wir Menschen sind evolutionär gesehen Beutetiere und daher in unserer Wahrnehmung darauf geeicht, dass wir uns am Selbstausdruck anderer orientieren. So findet man die Orientierung über den Zustand und die Absichten von Artgenossen oder von Feinden. Der Löwe sagt ja nicht, ob er gefressen hat, sondern man kann es ihm am Gangbild ansehen, dass er gerade nicht auf Jagd ist. Den Wechsel vom entspannten zu einem angespannten Modus kann man jeder Antilope am Wasserloch ansehen.
Daher sehe ich als Coach, sieht der Chef und sehenalle Mitarbeiter sehr wohl, dass unser Werksleiter unter Strom steht und innerlich von Ängsten geplagt ist. Darauf reagieren selbstverständlich auch alle. Das bringt uns zu den den ungünstigen Folgen dieses Musters.
Ungünstige Folgen
Die Auswirkungen dieses Stils mit Ängsten umzugehen, lassen sich nach innen mit Gesundheitsproblemen und nach außen mit Glaubwürdigkeitsproblemen und Tunnelblick-Verhalten umschreiben.
Da die entstehende somatische Spannung nicht wahrgenommen wird, können sich die Betroffenen nicht runterregulieren. Sie bleiben auch im Ruhemodus unter Stress. Auch der Schlaf ist nicht mehr erholsam, die Gereiztheit nimmt zu und mittelfristig drohen ernstere Erkrankungen.
Die soziale Umwelt nimmt die doppelte Botschaft wahr: Verhaltensbezogenes Leistungsvermögen und Tatkraft paaren sich mit dem nach außen sichtbaren Anspannungsmodus. Das führt zu Verwirrung, Zweifeln und Vorsicht in den Begegnungen. Die Führungsqualität nimmt dadurch ab, die Rhythmisierung der Leistungserbringung fehlt, so dass die Verhältnisse zwischen Überforderung aller und Blindleistungen aufgrund fehlender Urteilskraft wechseln. Menschen in diesem Modus werfen von jetzt auf gleich alles über den Haufen und wollen von vorn anfangen, oft ohne selbst zu wissen warum. Ihre Ängste kennen sie ja nicht. Oder aber sie werden unflexibel, stur und verbohrt, da die Ängste verdrängt bleiben müssen.
Ungünstige Antworten
Die häufigste ungünstige Reaktion ist: Ignorieren der eigenen Irritation. Anders herum: Die Sorgen sind ernst zu nehmen. Darum hat der Chef in unserem Beispiel auch richtig gehandelt, indem er seine Befürchtung angesprochen hat. Das ist aber m.E. eher die Ausnahme. Die meisten Menschen neigen dazu ihre Wahrnehmungen dann mit Dritten(!) zu teilen, etwa „Findest Du nicht auch, dass unser Werksleiter viel nervöser ist, als er zugeben mag? Der tut nur so stark, in Wirklichkeit hat er selbst die Hosen voll!“ So ein Reden über jemanden kann man daraufhin auswerten, ob der Betroffene etwas ausstrahlt, dass er selbst gar nicht wahrnimmt. (Es kann selbstverständlich einfach auch pures Lästern sein).
Soziales Distanzieren ist die andere Standardantwort. Man geht solchen Menschen, wenn man kann, gern aus dem Weg. Eher instinktiv, weil man die Not des anderen spürt, sie aber kommunikativ nicht so leicht zum Thema werden kann. So bleibt Distanz das Mittel der Wahl, um den Selbstwiderspruch der Betroffenen auszuhalten und zu ertragen. Ist Sympathie im Spiel ist die Variante oft ein „stilles Sich-Sorgen-um-den-anderen-machen“. Das wird gern von den Partnerinnen und Partnern praktiziert, die bestenfalls indirekt agieren: „Wollen wir nicht mal einen Spaziergang machen?“. Da aber beim Spazierengehen der innere Druck nicht weg geht, sind die Betroffenen wenig motiviert, im Gegenteil ihnen fehlt dadurch eher die Zeit, um ihre To dos abzuarbeiten.
Was hilft Betroffenen wirklich?
Gibt es Hilfe? Ja, aber es nicht ganz leicht, da man ja nicht in der gleichen Realität lebt: Man selbst nimmt etwas wahr, der andere nicht. Das ist dann wie das Reden über den Film, den man gesehen hat und nicht weiß, dass man in zwei verschiedenen war. Dann eskaliert das Gespräch schnell an der Frage, ob es nun ein Liebesfilm oder ein Krimi ist. Dem anderen zu sagen, er wirke angespannt, obwohl dieser das – aus seinem Erleben zurecht – nicht so empfindet, ist herausfordernd. Es geht darum, das Dementi des anderen nicht in Selbstzweifel zu überführen und „dranzubleiben“, ohne verfolgerisch zu werden. Das ist eine hohe Kunst.
Letztlich braucht es einen Weg, um den eklatanten Selbstwahrnehmungsmangel zu beheben. Das wird dummerweise einfacher, wenn die symptomatischen Effekte stärker werden. Zu mir kommen viele Coachees und Klienten mit Herzbeschwerden, für die keine organische Ursache gefunden werden kann. Oft braucht es solche Nöte, damit jemand sich ernsthaft in Frage stellt. Wenn es gelingt, kommunikativ einen Fuß in die Tür zu bekommen – „Musst Du erst zusammenklappen, bevor Du mir glaubst, dass Du etwas Wichtiges nicht spürst?“ – dann ist sehr viel Leid erspart. Dazu braucht es Mut und eine gute, belastbare und tragfähige Beziehung zu dem Betroffenen.