Jede Angst braucht ein Zuhause
Angst ist ein ungeliebtes Wort. Ganz besonders im Management. Da hat man keine Angst. Und wenn man welche hat, ist es ein Problem. Den Unerschrockenen gehört die Welt. Aber tun die Unerschrockenen der Welt auch gut? Und wichtiger – tun sich Menschen selbst einen Gefallen, wenn sie ihre Ängste nicht kennen, nichts mit ihnen zu tun haben wollen oder sie wegkurieren möchten? Schlussendlich – wie nutzt man Ängste für Veränderung und das Treffen von Entscheidungen. Darum geht es in der 6. Folge meiner Serie.
Ängste sind eine der wichtigsten Formen lebendig zu sein.
Wir Menschen sind biologisch Beutetiere und Angst ist ein entscheidender Überlebensaffekt. Angst sensibilisiert für Gefahr, sie macht wachsam für schwache Signale, sie erhöht die Reaktionsbereitschaft und -schnelligkeit, sie sucht Verbindung mit anderen, sie erschwert vorschnelle Selbstgewissheiten, sie demotiviert Antworten und motiviert Fragen, sie richtet die Aufmerksamkeit auf eine unbekannte Zukunft und sie mobilisiert Kräfte! Klingt das einseitig? Ja, ist es auch. Angst kann lähmen, überborden, isolieren, inkompetent machen, das Gedächtnis blockieren, sich zur Panik auswachsen, Kräfte unnütz binden, blind machen, zu Kurzschlussreaktionen führen, in Wut und Hass umschlagen, engstirnig machen, das Selbstvertrauen rauben, den großen Führer ersehnen, Feindbilder generieren oder ganz grundsätzlich dazu führen, dass man sich unfähig fühlt, das zu tun, was man möchte und was schön sein könnte.
Merkwürdig, oder? Wie kommt es, dass ein und dasselbe Gefühl so unterschiedliche Auswirkungen in der Selbststeuerung von uns Menschen hat? Bei der Antwort können Erkenntnisse der aktuellen Hirnforschung helfen (siehe etwa G. Roth im u.a. Buch). Unser Stichwort hier lautet Selbstberuhigungssystem. Dieses neuronale System ist auf der körperlichen Ebene dafür zuständig, Stresszustände (wie Angst) zu beruhigen. Der Organismus bekommt die Botschaft, dass alles in Ordnung ist und keine Gefahr droht. Der Neurotransmitter Serotonin und selbsterzeugte Opioide tragen zur Entspannung und zum Erleben von angenehmen Gefühlen bei. Diese Vorgänge entwickeln sich schon im Mutterleib und etablieren sich weiter nach der Geburt. Wie alle Entwicklungsprozesse können auch diese Vorgänge – vor allem auch durch die psychische Verfassung und die Lebensumstände der Eltern – beeinträchtigt und nachhaltig gestört werden. Frühe Bindungserfahrungen – also Trost und Beruhigung durch andere – werden ebenfalls verinnerlicht und im neuronalen Bindungssystem abgespeichert.
Wenn kein guter Umgang mit Angst vorgelebt und erlernt wurde, entsteht keine Angst-Kompetenz sondern Angst-Vermeidungs-Kompetenz.
Das führt dann zu den oben geschilderten negativen Folgen. Ängste müssen also körperlich, psychoneuronal und psychisch eingebettet sein. Sie brauchen – metaphorisch gesprochen – in jedem Menschen ihr zuverlässiges Zuhause.
Was folgt nun daraus für das Verständnis von Veränderung?
Erstmal ergibt sich die ebenso simple wie folgenträchtige Einsicht:
Nicht Angst ist das Problem, sondern die mangelnde Kompetenz im Umgang mit ihr.
Viele haben verhängnisvollerweise gelernt, sich für ihre Ängste zu schämen, anzuklagen oder zu geißeln, und wollen folglich nichts mit ihnen zu tun haben oder sie beim Coach oder Therapeuten „wegberaten“ lassen. Wie wird so ein ungünstiger Umgang mit Ängsten gelernt? Nehmen wir ein häufig zu beobachtendes Beispiel auf Spielplätzen: Ein Kind probiert etwas aus, klettert z.B. das erste Mal auf die Leiter zur hohen Rutsche. Nach einigen Stufen stellt es fest, dass mehr Luft unter der Windel ist, als unten noch vermutet. Es bekommt Angst und ruft nach Mama oder Papa. Diese/Dieser ist in ein Buch vertieft, schaut kurz hoch, sieht, dass nur 50cm Abstand zum weichen Sand ist und ruft lapidar: „Das ist doch kein Grund Angst zu haben, geh weiter!“ Für das Kind ist das mehr als ungünstig, hat es denn statt eines Problems nun drei Probleme: Es hat erstens immer noch Angst. Zweitens erhält es die Botschaft, dass mit seinen Gefühlen etwas nicht stimmt und es sich darauf also nicht verlassen kann. Schlussendlich – darauf kommt es mir hier an – verliert es in einer subjektiv bedrohlichen Situation den Kontakt zur wichtigsten Bezugsperson. Es bleibt mit seiner Angst allein. Es findet kein Verständnis („Oh, ist höher als gedacht!“), noch Normalisierung („Das geht anderen Kindern auch so!“), noch Hilfe („Möchtest Du, dass ich Dir beistehe?“), noch Ermutigung („Meinst Du, Du kannst es auch mit der Angst schaffen?“), noch Erlösung („Soll ich Dich erstmal runterholen und Du versuchst es ein anderes Mal wieder?“). Das Kind hat somit nur die Möglichkeit zu erstarren oder panisch zu werden – mit den entsprechenden Folgen für das Selbstvertrauen – oder sich „zusammenzureißen“, indem es die Angst abspaltet und lernt jenseits von Gefühlen zu funktionieren. So lernt es Angst zu meiden oder zu ignorieren. Ein hilfreiches „Hilfs-Ich“ steht als Modell nicht zur Verfügung und kann von daher ins eigene psychische System nicht integriert werden.
Wer sich verändern will, tut also gut daran, für seine ängstlichen Seiten ein gutes, kompetentes, erwachsenes „Hilfs-Ich“ auszubilden. Nun hört sich das leichter an als es ist. Hat man obiges Beispiel vor Augen, wird klar, dass viele Menschen im Umgang mit Ängsten etwas erlernen müssen, wofür sie nie im Leben ein taugliches Vorbild hatten.
In Coaching oder Therapie geht es demnach darum, sich den ängstlichen, beschämten und fragilen Seiten seiner Selbst zuzuwenden. Das geht natürlich nur, wenn der Coach oder Therapeut nicht seinerseits Ängste als Problem ansieht und er auch zu seinen eigenen Ängsten ein gutes Verhältnis hat. Oft haben Klienten große Widerstände sich auf innere Zustände einzulassen, die nicht von Anfang an die Verheißung in sich tragen, dass sich gleich etwas zum Besseren entwickelt, sondern dass es erst einmal angst- und schmerzvoll werden könnte. Wer sich für Ängste interessiert, mit denen er immer schon allein gelassen wurde, hat oft die Sorge, dass die Beschäftigung damit alles nur schlechter macht, man instabil wird und allein ist oder neuerlich beschämt werden könnte! Deshalb braucht es eigene Erfahrung und eindeutige Zuversicht beim Coach/Therapeuten, damit Klienten sich darauf einlassen können, ihren Ängsten zu begegnen. Die Entwicklung von Selbstfürsorge kann durchaus ein längerer Weg sein. Ohne eine Integration der jeweiligen (Grund-)Ängste wird Beratung aber sehr leicht zur professionalisierten und reinszenierten Selbstverstümmelung: Die Ängste müssen auch in der Beratung möglichst schnell weg und die Karriere des Stark-Seins setzt sich auch beim Coach fort.
Was bedeutet Integration?
Eine integrierte Person zeichnet sich dadurch aus, dass sie allen inneren Impulsen und Regungen mit Interesse und liebevoller Neugier begegnen kann. Immer dann wenn jemand etwas in sich bekämpft, abwertet, anklagt, ablehnt oder „unmöglich“ findet, ist er/sie (in dieser Hinsicht) nicht integriert. Das Innenleben spielt nicht zusammen, sondern gegen sich selbst. Umgekehrt bedeutet das, dass man eine „integriertere“ Person wird, wenn aus Selbstablehnung Selbstakzeptanz werden kann. Ein Beispiel dazu:
Ein Senior-Partner einer großen Private Equity Firma kommt wegen wiederkehrender Panikzustände vor großen, riskanten Entscheidungen ins Coaching. Während der achtsamen inneren Erforschung dieser Ängste taucht in ihm das Bild auf, dass er sich wie ein Feldhase in der Ackerfurche fühlt, der sich tief duckt und nur die Ohren hochstellt, um drohende Gefahren rechtzeitig zu bemerken. Als ihm dies bewusst wird, sagt er: „So jemand kann doch im Leben nicht als Investor arbeiten! Eigentlich muss ich die Firma verlassen.“ Auf meine Frage hin, welche Auswirkung dieser Satz beim „Feldhasen“ hat, fällt ihm ein, dass sich sein 7-jähriger Sohn jüngst im Freibad beim (gescheiterten) Versuch vom 1-Meter-Brett zu springen, bitterlich beklagt und von ihm zurückgezogen hat, weil er ihn erst so gedrängt und dann beschämt hat („Was soll denn aus Dir werden, wenn Du Dich noch nicht mal vom 1-Meter-Brett springen traust!“). Er beginnt, Mitgefühl zu entwickeln, erst mit seinem Sohn, dann auch mit dem eigenen inneren Feldhasen. Er beginnt der „Vater“ (für seinen Sohn und sich) zu werden, den er selbst nie hatte. Die Panik verschwindet in den kommenden Wochen und weicht zu seiner Überraschung einem „Instinkt“, wann eine Entscheidung vielleicht nochmals überdacht werden sollte. Einen solchen Umgang mit sich zu erlernen, für den man nie ein Vorbild hatte, gehört zu den schwierigsten Aufgaben die man sich stellen kann.
Warum ist ein kompetenter Umgang mit Ängsten für ManagerInnen so wichtig?
Komplexe Umgebungen erfordern Achtsamkeit für schwache Signale. Ängste tasten die Umwelt grundsätzlich nach Überraschungen, Ungewohntem und Ausnahmen ab. Somit ist die Fähigkeit Ängste zu tolerieren und zu nutzen für Entscheidungs- und Verantwortungsträger eigentlich unabdingbar.
Wer Ängste „ohne Nest“ in sich hat, meidet Entscheidungen. Wer Ängste in sich weggemacht oder beerdigt hat, trifft mangels Wahrnehmung und voreiligen Sicherheiten eher ungünstige Entscheidungen.
Angst ist in gewisser Weise der Affekt der Zukunft. Ängste achten in der Gegenwart darauf, künftige Entwicklungen frühzeitig zu bemerken. Wenn nun die Ängste allerdings an vergangene Erfahrungen gebunden sind, dann tasten sie die Gegenwart nach wahrnehmbaren Reizen ab, die darauf hindeuten, dass sich etwas wiederholen könnte. Das kann man sich (als Manager) nur sehr begrenzt leisten, da man dann eben starr wird und die vergangenen Erfolge zu ernst nimmt. Man will sie wiederholen, weil man sich dann vermeintlich sicher fühlt.
Andersherum: Sind die Ängste innerlich gut versorgt, sind sie stattdessen
- der Seismograph für die oben schon genannten schwachen Signale einer sich veränderten Umwelt,
- das Fernglas für die berühmten schwarzen Schwäne (N. Taleb), den Vorboten von Paradigmenwechseln,
- der Geigerzähler für Informationen, die besonders wichtig sein könnten und
- damit unabdingbar für jede Führungskraft bei der Auseinandersetzung mit der Gestaltung der Zukunft.
Fazit
Ängste sind ein ambivalentes Phänomen. Solange sie nicht bearbeitet sind – also keine Akzeptanz und Interesse erfahren haben und innerlich geborgen sind, führen sie Menschen eher in die Irre. Sie führen zu übertriebener Vorsicht oder unangemessenem Wagemut, zu starker Orientierung an einschränkenden Selbstbildern oder an realitätsferner Grandiosität. Beides kann das Leben vermiesen und fatale Entscheidungen begünstigen.
Sind die Ängste hingegen gut integriert, dann stehen sie als Sensitivität, Wachheit, Spürsinn, Entschlossenheit, Innovationsfreude, Vitalität und Irritationskompetenz zur Verfügung. Es gibt reichlich Hinweise, dass Verantwortungsträger in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft dies in der gegenwärtigen Weltlage gut brauchen können. Sollte das wahr sein, dann wäre allerdings wirklich für jeden eine Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten unabdingbar. Ich bin immer wieder froh, dass ich mit meiner Arbeit als Coach und Organisationsberater daran mit meinen Klienten arbeiten darf.
Dennoch bleibt die Frage im Raum, warum erkennbar so wenig Menschen sich produktiv und günstig mit ihren Ängsten beschäftigen. Den Gründen dafür will ich im 7. Teil meiner Serie nachgehen. Sie wird den Titel haben „Wer den Schmerz nicht kennt, dem bleibt nur das kleine Glück“.
Michael Jokiel
Sehr spannend unf für jeden was dabei!
Danke!!