Freiheit – oder von den Kehrseiten der Kehrseite
Freiheit gilt ja landläufig eher als gut bzw. erstrebenswert. Wer sich als Person frei fühlt, der hat etwas richtig gemacht, Teams, in denen viel Freiheiten herrschen, sind beliebt, und Organisationen, die viel Freiheit ermöglichen, gelten als attraktive Arbeitgeber. Gleichzeitig muss sich Freiheit seltsamerweise ständig behaupten: Gegen Erwartungen, gegen Regulierungen, gegen Normen, gegen Kontrollen, gegen Vorschriften, gegen Vorwürfe usw.! Wie kommt das?
Die Kehrseite der Freiheit zu betrachten, mag sich da insbesondere für Beratungstheorie lohnen. Dazu hier ein paar kurze Andeutungen:
Zunächst muss man sich klar machen, dass Freiheit überall vorkommt. Nicht nur der eine ist frei, sondern eben auch der andere. Beide Seiten werden so füreinander undurchschaubar und unkalkulierbar. Und der eine weiß, dass der andere weiß, dass er nicht weiß, wie dieser eine seine Freiheit nutzen wird und umgekehrt. Beide Seiten beobachten sich in ihren – unendlichen – freien Möglichkeiten und müssen sich auf den Gebrauch der Freiheit beim anderen irgendwie einstellen. Personen, Teams und Organisationen sind allesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie aus Möglichkeiten wählen: Kauf ich das letzte Brötchen oder lasse ich es der alten Dame hinter mir?, Hört mir meine Kollege heute zu oder beschäftigt er sich wieder mit seinen Mails?, Wird im Meeting heute entschieden oder doch wieder vertagt?
Weil alle und alles überlastet wären, die Fülle der Möglichkeiten für sich und die der anderen zu kalkulieren, erzeugt Freiheit einen Zwang(!) sie zu organisieren! Also Freiheit und Zwang bedingen sich und gehen wechselseitig auseinander hervor. Denn jeder Zwang wiederum macht auf die Möglichkeiten aufmerksam, die z.B. in einer formulierten Regel ausgeschlossen wurden. So kann nichts und niemand nur frei sein. Freiheit muss verwaltet werden. Das ist die Kehrseite ihrer paradoxen Struktur. Etwas abstrakter formuliert: Prozesse schaffen Strukturen und Strukturen machen auf Prozesse aufmerksam, die ihnen widersprechen.
Freiheit bringt ihren eigenen Gegensatz hervor. Wer dies verstanden hat, kann erkennen, dass das Ringen etwa um die Polaritäten von Vertrauen und Kontrolle, von Regel und Ausnahme, von Verknüpfung und Entkopplung ein untilgbarer Vorgang in Organisationen sind. Genauso kann kein Mensch alles an sich und anderen gutheißen, sondern muss Grenzen setzen, niemand kann auf Alles Einfluss nehmen, sondern muss das meiste hinnehmen, niemand kann auf alles reagieren, sondern muss fast alles übersehen und ignorieren. Ebenso können Teams nicht alle sinnvollen Ziele anstreben und sie erreichen, sondern müssen sich fokussieren, sie können nicht der Organisation und den Teammitgliedern dienen und können nicht alle einbeziehen, die das gern wollten. Freiheit bringt also immer Phänomene hervor, die man kritisieren und falsch finden kann. Einfach deshalb, weil dadurch die durch die freie Wahl ausgeschlossenen Alternativen wieder in den Blick kommen.
Freiheit erzeugt Konflikt. Zu viele Konflikte überlasten die Systeme. Dies führt zu Maßnahmen, um Konflikte zu begrenzen. So entstehen Normen, Werte, Regeln, Gesetze, Vorschriften, Entscheidungsprämissen, Üblichkeiten, Konventionen – also Erwartungen, den Gebrauch der Freiheit einzuschränken! Dagegen wehren sich Revolutionäre und Revolutionen, aber auch Initiativen und Betriebsräte genauso wie die Opposition und Bürgerbegehren, nicht zuletzt die Partner und die Kinder – eigentlich immer alle, die für einen anderen Gebrauch der Freiheit eintreten müssen, weil sie die Benachteiligten sind. So gehört auch Benachteiligung, Ungerechtigkeit und Ungleichgewicht zu den Kehrseiten der Freiheit, die dann kompensatorisch wieder kritisiert werden. Der Gebrauch der Freiheit ist also nie zu rechtfertigen bzw. ist immer kritisierbar.
Auf diese Weise lässt sich verstehen, dass der Wandel das einzig Konstante sein kann. Freiheit erzwingt den Gebrauch von Gegenfreiheiten („Es könnte doch auch ganz anders sein!“) und führt so ständig zu Situationen, die die Entscheidung erfordern: Macht man weiter wie bisher (und nimmt die vertrauten Vor- und Nachteile in Kauf) oder macht man was Neues (und genießt neue Vorteile und lässt sich von neuen Nachteilen überraschen)?
Die Kehrseite der Kehrseite der Freiheit besteht darin, zu wissen, dass sich die Freiheit selbst frisst und nie- mand ohne sich und anderen zu schaden frei leben kann. Die Kehrseite der Freiheit besteht in dem Wissen, dass man Unfreiheit braucht, um frei sein zu können. Frei zu sein, besteht darin, auszuwählen. Und dummerweise, kann man genau diesen Zwang zu wählen, nicht abwählen. Zur Freiheit ist man verdammt und gerufen.
Wenn Freiheit, die Notwendigkeit aus Möglichkeiten zu wählen, ist, dann bestimmen die internen Frei- heitsgrade eines Systems, wie es mit wechselnden äußeren Gegebenheiten zurechtkommt. Je variabler innere Zustände verändert werden können, desto höher die viel beschworene Resilienz. Die Kompetenz zum Umgang mit äußerer Vielfalt hängt also unmittelbar davon ab, wie innere Vielfalt zur Verfügung steht und situationsgerecht aufgerufen und stabilisiert werden kann. Der Verlust oder das Fehlen von Binnenkomplexität führt so immer auch dazu, dass Personen, Teams oder Organisationen auf vergleichsweise stabile und variantenarme äußere Umwelten angewiesen sind. Wer sich nur mit Hämmern auskennt, dem darf man nur Nägel reichen.
Wenn die Beschreibung wahr ist, dass die gegenwärtige Gesellschaft weiter an Vernetzung, Geschwindig- keit, Differenzierung und Innovation zunimmt, dann wäre die Schlussfolgerung nahe, dass die Kompetenz die innere (!) Freiheit auszubauen, wichtiger ist, als äußere neue Fertigkeiten aufzutrainieren. Es braucht dann etwa nicht eine digitale Kompetenz, sondern die Kompetenz, auf Reize, die die Digitalisierung anbietet, intern kompetent zu reagieren! Letzteres wird immer leicht vorausgesetzt, so als ob es selbstverständlich sei, dass Systeme ihre inneren Wahlmöglichkeiten erhöhen wollen. Genau das Gegenteil ist häufig der Fall. Eine der Kehrseiten der Freiheit ist, dass sie alles andere als attraktiv ist, wenn man nicht frei sein will, sondern frei sein soll!
Eine der Möglichkeiten, um mit eingeschränkter innerer Freiheit überleben zu können, ist, dass man sich eine „Nische“ sucht, in der die vorhandenen Unfreiheiten sich kaum oder nicht bemerkbar machen. Man hat Angst vor Kritik und sucht sich einen Weg, nur angepasste und hörige Leute um sich zu versammeln. Ein Team findet keinen Weg, gut Interessenkonflikte zu lösen und sorgt dafür, dass schwierigen Entschei- dungen rückdelegiert werden. Eine Organisation ist durch und durch auf höchste Qualität gepolt und lässt alle sich bietenden Chancen, Aufträge anzunehmen, die sie nicht seit Jahren kompetent bedienen kann. Das geht so lange sich die symbiotisch gestaltete Umwelt kontrollieren lässt. Aber wenn angepasste Partnern rebellieren, wenn Vorgesetzte nicht mehr dem Team die Entscheidung abnehmen, wenn das alte Produkt zu wenig gefragt ist, dann wird es eben schnell sehr schwierig. Dann droht als Kehrseite der Kehrseite dieses Freiheitsgebrauchs der Zusammenbruch des Systems. Erfolg ist eben oft auch ein Merkmal geglückter „Symbiosen“ und alles andere als ein Zeichen dafür, dass ein System auch die Antworten für künftige Entwicklungen innerlich bereit hält. Je weniger Kontrolle über die äußere Umwelt möglich ist, desto mehr gilt es, innere Antwortmöglichkeiten auf „Vorrat“ anzulegen.
Diese – freien – Antwortmöglichkeiten sind immer durch Bipolarität bestimmt: Ein System hat dann sowohl die Fähigkeit, Schwierigkeiten in der Umwelt durch eigene Anpassungen abzufedern oder durch eigene Maßnahmen die Umweltschwierigkeiten auszuschalten. Es kann sowohl selbst Lernen als auch existierende eigene Kompetenzen bei Widrigkeiten aufrechterhalten. Es kann Beschädigung selbst reparieren als auch die Umwelt schädigen, um selbst unbehelligt zu bleiben. Damit führt auch dieser Gedankengang zu der Erkenntnis, dass ein freier Gebrauch der Freiheit beide Entscheidungspole – Innen- und Außenaktivität – braucht, um mit Veränderungen umzugehen.
Freiheit kann erst Variante A und dann Variante B wählen und dann wieder Variante A usw.. Das ist einfach und führt zu Oszillationen, die beides im Spiel halten: A und B (etwa Amphibien, die zwischen Wasser und Land wechseln). Bleibt man aber nun bei A, dann tut sich die ganze Welt von AA, AB, AC usw. auf. Je länger ein System bei A bleibt – also z.B. ganz zum Landtier wird – desto differenziertere Formen kann es innerhalb der Alternative A entwickeln. Freiheit führt so zur Spezialisierung. Die Kehrseite dafür ist, dass das Landtier irgendwann nicht mehr gut oder gar nicht mehr schwimmen kann. Es versteht nichts mehr von B und muss lernen tiefes Wasser zu meiden. Freiheit führt – evolutiv gebraucht – also zur Ungleichheit, zum Ungleichgewicht und zu Unterschieden. Damit muss jedes System dann seinerseits wieder zurechtkommen, in dem es Wege des Umgangs mit untilgbarer Ungleichheit findet. Wer heute die Zeitung liest, findet kaum gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Nachrichten, die sich nicht in irgendeiner Weise mit Ungerechtigkeiten beschäftigen. Bei solchen Diskussionen wird einerseits meist die Illusion mitgeführt, es könnte eine Welt von Gleichheit geben (ohne, dass alle Freiheit verschwunden ist) und andererseits wird die Gegenillusion gepflegt, dass Ungleichheit beliebig gesteigert werden können, ohne dass die Gesellschaft d ran zerbricht.
Freiheit schafft so die Notwendigkeit sich auf immer mehr Bedingungen einzustellen, die man nicht beeinflussen kann. So kann man feststellen: Das Potential der Freiheit, Systeme zu überlasten, ist nicht zu unterschätzen. Alles selbst Organisierte ist permanent vor die Wahl gestellt auf Neues zu verzichten und oder Neues zu erlernen. Der Gebrauch von Freiheit macht also – einfach formuliert – alles immer komplizierter. Dies nennt man auch Evolution. So ist es keineswegs ausgemacht, dass ein System mit der selbsterzeugten Komplexität in sich und in seiner Umwelt überlebt. Wer Freiheit heiligspricht, der muss sich mit dem Tod anfreunden.
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