Selbstorganisation der Organisation
Selbstorganisation wird im organisationalen Kontext zu allermeist als Gegenbegriff zum Organisieren mittels Hierarchie benutzt. Das ist zunächst merkwürdig, da ja auch Hierarchie „eigentlich“ von der Or- ganisation selbst organisiert ist. Von wem sonst? Eine solche Gegensetzung entwickelt meist einen bes- timmten Sog, nicht mehr Theorie zu treiben, sondern sich mit dem Begriff als„Kampfbegriff“ auf die Seite des Richtigen, Neuen, Besseren zu stellen: Selbstorganisation als Abschied von der ungeliebten Hierarchie. Nun gibt es mehr als einen guten Grund sich mit den Schwächen und der Leistungsfähigkeit von hierarchischen Strukturen zu beschäftigen. Man tut aber gut daran, im Blick zu behalten, dass auch „selbstorganisierte“ Strukturen Autorität, Führung und Macht gestalten müssen, um zu verbindlichen und stabilen Entscheidungen zu kommen. Wir verwenden im folgenden demnach Selbstorganisation als Bezeichnung für das Gestalten eines (sozialen) Systems, das nicht von zentralen, hervorgehobenen oder privilegierten Positionen, die am Anfang festgelegt werden („Du bist hier der Chef!“), dominiert werden. Sich mit einem solchen heterarchischen Prinzip zu beschäftigen, könnte sich angesichts der Lage vieler Unternehmen durchaus als ein Überlebensvorteil erweisen.
Zunächst gilt es der „Hierarchie“ zu sagen: Selbstorganisation in Unternehmen kann durchaus gelingen. Sie kann zu mehr Ertrag führen, sie kann Mitarbeitern mehr Motivation ermöglichen und sie kann eine Kultur fördern, die mit Dynamik gut umgehen kann. Seit vielen Jahren werden Beispiele dafür unter Beratern und Change Managern mit Begeisterung weitergereicht. Frederic Laloux und die Fälle aus seinem Buch „Reinventing Organizations“ machen ebenso die Runde wie die Unternehmens-Beispiele aus den „Augenhöhe-Filmen“ mit ihren hochgradig selbstorganisierten Unternehmenskulturen. Neue Organisa- tionskonzepte wie das Prinzip der holokratischen Organisation mit ihren Entscheidungskreisen werden ebenso als Alternativen angesehen wie Einzelbeispiele von demokratisch bzw. kollegial geführten Un- ternehmen mit von Mitarbeitern gewählten CEOs und neuen Formen des Konsens, die möglichst alle Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse einbeziehen.
Allerdings vermischt sich dabei oft Normatives („so sollte die neue Arbeitswelt aussehen“) und Beschreibendes auf nicht immer nachzuvollziehende Weise – und das gelungene Einzelbeispiel wird zur Blaupause für Selbstorganisation an sich hochstilisiert.
Damit ist zwar der Wunsch nach Nachahmung selbst in einigen traditionell hierarchisch organisierten Unternehmen geweckt. Doch für die Transformation des eigenen Unternehmens kann das Einzel- beispiel nur wenig Anleitung geben. Vor allem Führungskräfte sind daher aufgefordert, sich ein eigenständiges Verständnis von Prozessen der Selbstorganisation und deren Folgen zu erarbeiten. Dazu vier Hypothesen.
Hypothese 1
Selbstorganisation braucht einen klaren Rahmen. Gerade im Zusammenhang mit der Einführung agiler Strukturen taucht immer wieder das Missverständnis auf, dass „agiles Arbeiten“ bedeutet, dass sich Mitarbeiter ganz frei organisieren können. Das Gegenteil ist der Fall. Freiheit erhält mit der Einführung agiler Prozesse z.B. zwar Einzug, doch ein meist enger Rahmen gehört dazu. Holokratie, die Organisation in miteinander verbundenen „Kreisen“, erlaubt zwar jede Menge Selbstorganisation, hält dafür aber eine
Vielzahl an bindenden (Kommunikations)Prozessen vor. Auch eine Methode wie Scrum setzt klare Regeln, inklusive der Rolle des Scrum-Masters, der diese überwacht. Den Rahmen für Selbstorganisation klar zu setzen, dabei die Freiheitsgrade für das Handeln der Beteiligten zu bestimmen und zu kommunizieren und die eigenen Erwartungen an die Mitarbeiter zu formulieren, sorgt für Orientierung und ist eine wichtige Führungsaufgabe. Voraussetzung dafür: Verantwortung dafür übernehmen wo und wie Verantwortung z.B. an einen Methodencoach für agiles Arbeiten übertragen zu wollen.
Hypothese 2
Überforderung gehört zum Lernen. Sie darf und muss thematisiert werden. Der Übergang von rein hierarchischen Systemen zu solchen mit Elementen von Selbstorganisation ist kein kleiner Schritt der Optimierung in einer Organisation, sondern ein tiefgreifender Musterwechsel. Damit Mitarbeiter ihn mitgehen können, brauchen sie ein Mindestmaß an Orientierung und psychologischer Sicherheit. Sonst gewinnt die Angst die Oberhand und statt mutigen Experimenten mit Selbstorganisation findet Schein-Kooperation statt. Während z.B. im „Daily“, einem Meeting im Rahmen eines Scrum Projekts, scheinbar miteinander geredet und verhandelt wird, formieren sich im Hintergrund neue Bündnisse des Wider- stands, die genau das Gegenteil von dem erzeugen, was eigentlich gewünscht war. Unterhalb der formalen Dialogstruktur entsteht dann jede Menge Nicht-Kommunikation. Diese Ausweichbewegungen anzusprechen, auszuhalten und in gemeinsame Suchprozesse einzusteigen, wo die Hürden auf dem Weg zu mehr Selbstorganisation liegen und was man lernen muss, um sie gemeinsam zu überwinden, ist unerlässlich. Geschieht das nicht, ist eine Möglichkeit zum Lernen des sicheren Umgangs mit Unsicherheit vertan. Hier nur sehr allgemein Agilität und Eigenverantwortung einzufordern und den Mi- tarbeitern gegenüber eine neue Fehlerkultur zu proklamieren, reicht nicht aus. Es gehört zur Führungsaufgabe Formate und Gelegenheiten zum Reflektieren dessen einzuführen, was im Rahmen von steigender Selbstorganisation gelernt werden muss – wie z.B. offene Kommunikation und Konflikt- fähigkeit.
Hypothese 3
Ambivalenz ist Teil des Alltags. Das muss kommentiert werden. Die Begeisterung, mit der Formate für mehr Selbstorganisation in Unternehmen eingeführt werden, ist schön. Doch ob hierarchieübergreifende Arbeitsgruppen oder Labs, frei verfügbare Arbeitszeit für eigene Projekte oder eigenverantwortlich organisiertes Peer-Learning, die Pioniere auf dem Weg zu mehr Eigenverantwortung im Unternehmen übersehen oft die beharrende Kraft, die das Unternehmenssystem über klassische Anreizsysteme, jahrzehntelang eingeübte Verhaltensroutinen wie Informationskaskaden oder Jahresgespräche verströmt. Den Mitarbeitern stellt sich somit die Frage: Was (und wem) sollen sie glauben? Den begeisterten Pionieren, die sie auffordern, sich ihre Gestaltungsfreiheit anzueignen? Oder den gle- ichzeitig wirksamen Mechaniken des alten Systems mit seiner eineindeutigen Logik? „Ambidextrie“ nennt man das gleichzeitige Vorhandensein zweier „Betriebssysteme“ im Unternehmen: Sowohl das Innovationsgeschäft befördern als auch das klassische Kerngeschäft weiter vorantreiben. Das Problem dabei: Beides gleichzeitig zu tun, erfordert oft unterschiedliche Logiken, verschiedene Mindsets. Während die Innovationslogik auf mehr Selbstorganisation setzt, setzt die Logik des klassischen Geschäfts oft auf (auch zeitliche) Effizienz. Führungskräfte müssen nicht nur selbst lernen, mit dem Nebeneinander dieser verschiedenen Logiken und der dazugehörigen Haltungen umzugehen. Sie müssen ein „Sowohl als auch-Denken“ auch den Mitarbeitern näherbringen und können sich nicht nur auf eine Seite schlagen. Unbewusste und unkommentierte Ambivalenzen drohen sonst in der eigenen Organisation Spaltungen befördern und können zu Grabenkämpfen und Energieverlusten führen. Begeisterung bei der Einführung von Selbstorganisations-Elementen ist daher gut, ein (oder mehrere) Schüsse Ambivalenz-Realismus sind mehr als erforderlich.
Hypothese 4
Selbstorganisation braucht Übung. Wer ein klassisches Schul- und Ausbildungssystem durchlaufen hat, hat diese nur selten. Aber die Kompetenzen lateral zu führen und sich führen zu lassen, sich durchzuset- zen und nachzugeben, zuhören und unterbrechen zu können, fallen nicht vom Himmel. Es sind andere innere Muster und Erwartungshaltungen, die derzeit in den meisten Schulen auftrainiert werden. Wo soll also die Übung herkommen? Zwar experimentieren mehr und mehr Schulen mit fächerüber- greifenden Projekten, offenen Lernformaten und eigenverantwortlichem Lernen – der Normalfall ist das jedoch noch lange nicht. Wie Schule selbstorganisiert aussehen kann, zeigen die Dokumentarfilmer des Projekts „Augenhöhe“. Nach zwei Filmen zu Unternehmen, die gezielt die Potenziale ihrer Mitarbeiter nutzen wollen und dafür neue und andere Unternehmenskulturen entwickeln, ging jetzt Ende September die Doku „Augenhöhe macht Schule“ mit einem neuen Fokus an den Start. Das Ziel: Zeigen wie Lernen im 21. Jahrhundert aussehen kann – ganz konkret. Dann könnte auch das Arbeiten in Organisationen anders werden: Weniger aufgeladen mit durchsetzungsbedürftigen Wahrheiten und mehr orientiert am Entscheiden und deren Wirkungen achtsam beobachten und sinnvolle Folgeentscheidungen treffen.
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