Zu einem metatheoretischen Verständnis von Führung (3)
Pathische Kompetenz im Team
Warum Neugier im sich führenden Team (gerade jetzt) wichtig ist
Von Carla Hegeler, Julia Klotz, Philipp Staudhammer, Patrick Hoberg, Oliver Pilscheur und Klaus Eidenschink
„Warum geht das Mikro bei MS Teams jetzt wieder nicht?“, „Warum ist sie wieder so spät – ist ja wie im Büro…“, „Die Kinder spielen heute unterm Schreibtisch, sorry…“ „Ich verstehe Geo immer noch nicht, Papa!“ … „Wer hat die Agenda hochgeladen? … Es gibt keine??“ Diese oder ähnliche Sätze begleiten uns momentan täglich.
Wir alle kämpfen darüber hinaus mit den vielen schrecklichen Nachrichten, die so kein Ende nehmen wollen, und mit den Widrigkeiten der enormen Veränderungen, dem wir aktuell ausgesetzt sind. Diese Krise hat uns zu Gefahrenträgern (zur Unterscheidung von Risiko und Gefahr siehe hier und hier) werden lassen. Sie hat uns auch gezeigt, wie fragil wir in unserer globalisierten arbeitsteiligen Welt trotz hoher Planung von Risiken und unserem Anspruch an Greifbarkeit, an Manageability, dennoch auch sind. Das nehmen wir zum Anlass, uns mit der Nichtfassbarkeit der Zukunft beim Führen und Sich-Führen-Lassen auseinanderzusetzen.
Ob wir woll(t)en oder nicht: Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen sind wir (fast) alle gezwungen, uns auf verschiedenste neue Arbeitsweisen einzulassen: Der Kaffeeplausch zwecks Rückfragenklärung im Türsturz findet nicht mehr statt. Das informelle Netzwerken in der Kantine ist unmöglich geworden. Licht und Schatten von Präsenzmeetings sind für den Moment schlichtweg irrelevant. Wie schon erwähnt, Change ist angesagt. Das Annehmen-Müssen der Einschränkungen, die aus den politischen Entscheidungen und dem Setzung der Ausgangsbeschränkung resultieren, will seelisch erstmal bewältigt werden.
Die notwendige Oszillation
Wir müssen gezwungenermaßen veränderungsbereit sein, wenngleich das nicht veränderungswillig bedeutet. Die Diskussionen über Maß und Dauer der Beschränkungen zeigen dabei ein Oszillieren zwischen den Polen notwendig und zuviel/zu lang. Auch auf der politischen Ebene wird deutlich, dass im Setzen des einen sich auf Change einstellenden Pols (Veränderungs‘willigkeit‘) der andere Pol, die Rückkehr ins Normale, (Stabilitätsaffinität) aktiviert wird: Der Setzung der Ausgangsbeschränkungen wird die Exitstrategie gegenübergestellt. Ein solches Oszillieren im Spannungsfeld ist entscheidungstheoretisch wichtig, um Zeit und Ausmaß von nächsten Schritten abzuwägen. Es ist wie das Korrigieren des Segels im sich ändernden Wind.
Diesen Oszillierungsprozess erleben wir derzeit auch in Teams wie beim einzelnen Individuum:
- In Teams mögen beispielsweise nunmehr einige das Hohe Lied der endlich fortschreitenden Digitalisierung, der ZOOMs, Slacks und MS-Teams singen; andere mögen dies erst einmal in Kauf nehmen, um möglichst bald wieder ‚normale‘ Verhältnisse vorzufinden.
- Auch innerpsychisch wird deutlich, dass eine Seite den Nutzen der Neuerungen betonen mag, die andere Seite die Gefahren der Digitalisierung im Auge behalten möchte und zweifelt.
Problematisch, und hier sei im Folgenden nur die Teamebene adressiert, werden diese jeweiligen ‚Positionierungen‘ aber erst dann, wenn Oszillationen in Polarisierungen übergehen (z.B. „Jetzt haben wir sie, die Digitalisierung, und die nimmt uns keiner mehr!“ vs. „Sobald als möglich wieder den Anker nachhaltig im Büro werfen!“).
Die pathische Neugier auf das „Andere“
Lehrreich wird dieses Spannungsfeld dann, wenn im Team alle Mitglieder den jeweilig anderen Polen mit wechselseitiger Neugier begegnen. Neugier in dem Sinne, dass alle die Grenzen der eigenen Position und den potentiellen Nutzen der „lästigen“ Meinung von anderen wahrnehmen. Konkret bedeutet dies, sich gerade jetzt auf das „Erkunden des anderen“ einzulassen und wechselseitig pathische Kompetenz zu praktizieren.
Unter dem Begriff der pathischen Kompetenz verstehen wir eine besondere Resonanzbereitschaft (nicht Aktivität!), die mit Loslassen, Aufgeben, Selbstzweifel und Verunsichern-Lassen einhergeht, gewissermaßen eine ‚wechselseitige Permeabilität‘, eine Durchlässigkeit bzw. Empfänglichkeit. Eine Fähigkeit, die sich dafür interessiert, was es an Funktionalem im Neuen, was es an Funktionalem im Alten gibt und gab. Und mittels derer der oder die Einzelne den aktuell notwendigen Change in der Krise weder als ‚interimistische Behelfsbrücke für ein schnelles Zurück zur Normalität‘ noch als ‚Gelegenheit zum Durchsetzen weitreichender Digitalisierung, weil gerade maximal günstig‘ nutzt. Diese Strategien würden eher einer Fixierung auf die eigene Selbstreferenz gleichen und keinen günstigen Umgang mit der überdeterminierten und unvorhersehbaren Unsicherheit in dieser Krise darstellen.
Wenn in Teams eine Form des Dialogs herrscht, in der Polaritäten in der Schwebe gehalten werden können – so die Formulierung von Otto Scharmer in seiner Theorie U -, dann hat das Team die Kompetenz, sich vom Neuen und vom Alten inspirieren zu lassen. Das braucht Interaktionsmuster im Team, die auf scharfe Sanktionen verzichten können, ohne deshalb standpunktslos zu werden. Eine veränderte Zielsetzung und veränderte Zielbearbeitungsmuster sind fundamentale Eingriffe in jede Teamdynamik! Es ist aus unserer Sicht unabdingbar, sich auch damit zu beschäftigen, wie wir wechselseitig unsere bisherigen Rituale und Ideen in Frage stellen und anderem Neuem und dem Altem neu Einfluss gewähren können. Nur wenn man Einfluss auf sich gewähren kann, als Person wie als Team, kann man sich von der Zukunft her führen lassen und neue Formen finden.
Einfluss gewähren statt Tauziehen
Nutzen wir die Chance nicht, diese interindividuellen Resonanzen zu verarbeiten und kehren zurück in alte Positionierungen und Durchsetzungsstrategien, werden wir, auch politisch, weiter in Tauzieh-Positionen verharren statt kontaktvoll zu untersuchen, ob die Position des anderen uns bereichern könnte. Teams im Homeoffice könnten sich gerade jetzt in regelmäßigen rekursiven (Reflexions-)Schleifen auf den Weg machen, aufmerksam und formatbezogen verunsichert, neugierig und zweifelnd die Mühen und das Lohnenswerte der alten Präsenz sowie auch der neuen digitalen Umstellung zu analysieren und für die zukünftige Zukunft zu (ver-)lernen.
Hierfür eignen sich all jene Formate, die z.B. im Sinne der Neuwaldegger Schleife (Boos/Mitterer) oder wie agile Innovationsprozesse arbeiten:
- Daten sammeln (hier also neugierig zuhören),
- Hypothesen über den gemeinsamen Ist-Zustand bilden,
- Interventionen/Prototypen/Piloten/Minischritte/MVPs planen und versuchen
- Erfahrungen/Ergebnisse gemeinsam analysieren und
- auf der Basis wieder Hypothesen bilden und fortfahren.
Dies kann man dann auch als Double Loop Learning (Argyris/Schön) bezeichnen. Werden auf dieser Basis dann auch noch Entscheidungsprämissen im Team hinterfragt, beginnt auch virtuell das Triple Loop Learning.
All das kann dann dazu führen, dass Teams für ihre jeweilige Dynamik präsenzorientierte digitale Formate erfinden, Meetings digital erfrischt werden oder umgekehrt ineffektive Video-/ Telefonkonferenzen oder unproduktive Präsenzmeetings neuen Ideen und Prototypen weichen und auch hier das Zweifeln produktive nächste Schritte entfaltet.
Das alles schafft man aber nur, wenn Streitbarkeit und Diskussion mit Empfänglichkeit, Durchlässigkeit, Selbstzweifel und Neugier gepaart werden. Das nennen wir pathische Kompetenz.
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