Beratung muss verunsichern!
Wie entsteht Sicherheit für Menschen, Teams oder Organisationen? Sie entsteht dadurch, dass die jeweiligen Systeme aus der Unendlichkeit der Möglichkeiten, die sie in der Welt vorfinden, einige auswählen und diese als verbindlich ansehen. Schon unsere menschliche Wahrnehmung tut das, indem sie sich auf ein bestimmtes Frequenzband fürs Hören oder einen bestimmten Bereich der Wellenlänge fürs Sehen beschränkt. Anschließend denkt man, das die Welt so ist, wie man sie hört und sieht. Aber Fledermäuse hören und Adler sehen anderes!
Psychische Sicherheit, Verbindlichkeiten in Teams und Wahrheiten in Organisationen beruhen also auf Setzungen und im selben Moment auf Teilblindheit. Diese Setzungen sind daher immer kritisierbar („Es könnte auch anders sein!“, „Das wurde nicht bedacht, beachtet, ignoriert!“). Daher kann es auf der Welt – also auch in Teams oder Organisationen – kaum einen „Gesamtkonsens“ geben, da dann alle das Gleiche gleichzeitig ausblenden müssten. Für Teams ist dies als Problem unter dem Begriff „group think“ gut erforscht. Zugleich ergibt sich aus diesem Gedankengang, dass man mit jeder gewählten Form der Sicherheit, der Einigkeit, der Wahrheit – wegen der mit ihr verbundenen Teilblindheit – immer auch ein Risiko eingeht. Es könnte ja sein, dass genau das ausgeblendet wird, was fürs Überleben, für das Glück, für den Erfolg, für das Gelingen, für die Verständigung, für die passende Entscheidung u.a. wichtig wäre.
Genau hier setzt Beratung an. Sie stellt die Setzungen in Frage, die der Kunde nutzt, um Klarheit, Sicherheit und Orientierung zu erlangen. Wenn es nur darum geht, das zu verbessern, was innerhalb die Setzungen des Kunden möglich ist, dann ist das (möglicherweise) eine sinnvolle Optimierung – aber keine Beratung. Optimierungen verändern nicht die Dynamik des Systems! Beratung (in unserem Sinn) ermöglicht eine Veränderung von einem Ordnungszustand hin zu einem anderen Ordnungszustand. Und zwischen diesen beiden Zuständen liegt untilgbar die Unsicherheit. Es braucht keine Beratung für Feststehendes: Beratung für einen Change der Schwerkraft oder die Änderung der Lichtgeschwindigkeit?
Um nun von einem (ungünstigen) Zustand in einen anderen (besseren) zu kommen, muss man sich vom Bestehenden lösen. Wer aber das Bestehende nicht kennt, nicht beschreiben kann, wozu es dienlich ist, wird sich davon nicht lösen können. Ohne eine Kenntnis – also eine Beschreibung – der Entscheidungsmuster, die zu der Ordnung führen, die im Moment benutzt wird, kann ein System sich nicht (explizit) verändern. Welche Folgen hat mangelnde Reflexion über die eigenen Muster und gewählten Schemata für psychische und soziale Systeme?
- Personen werden versuchen, sich zu stabilisieren, indem sie erstens alle Irritationen, mit denen sie nicht gut zurecht kommen, zu meiden versuchen. Zweiten werden sie das, was ihnen gut gelingt, versuchen zu verbessern, und drittens werden sie das, was ihnen aus der bestehenden Perspektive erstrebenswert erscheint, zu erreichen suchen. Beratung, Coaching oder Psychotherapie werden daher meist aufgesucht, um dies zu bewerkstelligen oder es wieder herzustellen, wenn es nicht mehr funktioniert.
- Teams werden erstens versuchen, bestehende Arbeitsweisen, Rollenverteilungen und Einflusssphären zu verteidigen, zweitens Anregungen von außen eher als Kritik zurückzuweisen und drittens Mitglieder, die nicht zur bestehenden Ordnung passen, einzunorden oder auszugrenzen. Sie werden Teamentwickler und- moderatoren mehrheitlich deshalb buchen, um einen „besseren Spirit“ zu erreichen, bestehende Konflikte innerhalb ihres Ordnungsschemas zu beheben oder um besser gegen andere Gruppen bestehen zu können.
- Organisation werden sich vornehmlich mit Optimieren und Effizienz beschäftigen, werden gegen die unausweichlichen Schattenseiten ihrer gegenwärtig benutzten und gesetzten Ordnung kämpfen und werden Maßnahmen (Hierarchie, Regeln, Werte, Vision, Strategie) kultivieren, um die Kritisierbarkeit ihrer gesetzten Ordnung in Grenzen halten zu können.
Wenn nun Berater eine Beschreibung der Stabilität schaffenden Muster des Klienten anbieten und diese auf ihre Funktionalität hinterfragen, löst dies so gut wie immer eine kleine oder größere Krise aus. Die klienteneigene geschaffene, gesetzte Sicherheit – systemtheoretisch sagt man Eigenwerte – wird zugunsten von Unsicherheit aufgelöst. Das sollte Beratung immer im Blick haben. Wenn dem Kunden keine Ressourcen für Krisen zur Verfügung stehen, sollte man ihm von Änderungen seiner Mustern eher abraten und ihm helfen die Ressourcen aufzubauen. Das Richtige zum falschen Zeitpunkt mutiert zum Falschen.
Beratung, die nicht Symptome kuriert oder die Stabilisierung optimiert, kombiniert eineTheorie der Unsicherheit mit einer Praxis der Verunsicherung. Sie ist auf diese Weise im Kern immer imaginativ, bringt neue, andere Möglichkeiten ins Spiel! Unsicherheitskompetenz wird somit ein Kernmerkmal professioneller Veränderungsberatung. Dazu braucht es ein gehöriges Maß an Unerschütterlichkeit auf Seiten des Beraters oder der Beraterin. Man muss Halt, Orientierung, Vertrauen anbieten können und sehen, wo sie nötig sind, sonst fehlt der Beratung die Basis für die notwendige Labilisierung als Übergang in eine neue Ordnung.
Diese Überlegung werfen – um es explizit zu sagen – einen kritischen Schatten auf alle Beratungskonzepte, die einen „straight way to paradise“ versprechen. Ohne Krise direkt in die Lösung ist aus system- und metatheoretischer Sicht bestenfalls eine Optimierung, aber kein Prozessmusterwechsel. Zufriedene Kunden sind damit auch nicht zwangsläufig ein Kennzeichen gelungener oder gelingender Beratung – im Coaching nicht, in Teamberatungen nicht und in Organisationsberatungen auch nicht. Kunden haben selbst meist ein gutes Gespür, wann und ob eine Krise während der Beratung produktiv ist oder wann und ob sie ein Zeichen schlechter Beratung ist. Es kann beides sein.
Beratung muss also verunsichern und braucht die Kompetenz den Prozess von der einen Stabilität zur anderen zu gestalten. Das kann man lernen und es bleibt ein Leben lang spannend und lebendig.
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