Über die Lust am Entscheiden und die Leichtigkeit der Wahl
Gibt es Kriterien für günstige Zustände von Menschen, Teams und Organisationen? Ja, die (Berater-)Welt ist voller Ideale, voller Propheten des Richtigen, voller Konzepte, die man nur anwenden müsste, wenn es gut laufen soll. Theoretisch ist davon wenig haltbar und in der Praxis offensichtlich auch. Warum lösen sich sonst all diese Moden so schnell wieder auf?
Um aber die Eingangsfrage ernst zu nehmen: An was kann man Beratungserfolg festmachen, wenn man sich von problematischen Vorstellungen wie seelischer Gesundheit, High-Performance-Teams-Faktoren oder Best-Practice-Konzepten für Organisationen distanziert oder sie ganz aufgibt? Wenn es das (eine) richtige, glückende Leben, wenn es die (eine) richtige Form der Zusammenarbeit, wenn es die (eine) richtige Form ein Unternehmen zu organisieren nicht gibt, weil all diese Fragen ohne Kontext (was, wer, wo, wie, wann, warum) nicht zu beantworten sind – was bleibt dann an allgemeinerOrientierung für Beratung von Menschen, Teams und Organisationen, die sich verändern wollen oder müssen?
Es ist sehr viel leichter zu erkennen, ob etwas gegenwärtig dysfunktional ist, als zu wissen, ob etwas zukünftig funktional sein könnte. Wer Kunden produktiv im alten Muster verunsichern kann (siehe These 9), steht nur auf einem von zwei notwendigen Kompetenzbeinen. Beratung braucht darüberhinaus Kompetenzen, um mit den Kunden anschließend genügend Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit zu erarbeiten. Ohne neue Stabilität nutzt das Verabschieden alter ungünstiger Muster nicht wirklich etwas. Was sind die Kompetenzen die Kunden brauchen, um gut etwas Altes loslassen zu können, etwas anderes auszuprobieren und dann das Neue entweder beizubehalten oder zum Alten zurückzukehren oder nochmals etwas anderes zu versuchen?
Die Antwort darauf nimmt Bezug zu unserem metatheoretischen Konzept der Veränderung. Es geht davon aus, dass Psychodynamik, Teamdynamik und Organisationsdynamik kontinuierliche Entscheidungsprozesse sind. Personen, Teams und Organisationen entscheiden imgrunde in jedem Moment, wer sie sind, was sie tun, was sie wollen. Das Gelingen dieser permanent sich erhaltenden, dynamischer Stabilität hängt ganz wesentlich von folgenden drei Faktoren ab:
- Was steht überhaupt zu Wahl? Oder – genauer – welche Alternativen kommen aus Sicht der Person, des Team oder der Organisation als Grundlage für Entscheidungen überhaupt in Betracht? Wenn etwas gleich gar nicht ins Kalkül gezogen wird, kann man sich weder dafür noch dagegen entscheiden. Je ärmer der Alternativenraum, desto wahrscheinlicher ist es, dass suboptimale Entscheidungen getroffen werden. Je chaotischer, beliebiger, mehr von außen herangetragen die Alternativen sind, desto weniger haben sie mit der Person, dem Team oder der Organisation zu tun, die wählt. Passen also die Alternativen zum Kunden oder kommen sie ins Spiel, weil es Mode ist, andere das gut oder richtig finden, ein eigenes Ideal dran hängt etc.? Ein erstes Kriterium für das günstige Gestalten einer möglichen Zukunft wäre also, dass die Alternativen eigene sind. Viele Personen, Teams und Organisationen wollen das, was andere wollen. In einer Welt der Influencer ist dieser Punkt alles andere als trivial und kann nicht wichtig genug genommen werden. Ein zweites Kriterium kommt dazu: Sind die Alternativen mit eigner Energie besetzt oder „muss“ oder „sollte“ man das tun? Manche leben mit viel Energie falsche, fremde Ziele und andere dümpeln mit einem passenden Ziel so herum. Nur wenn eigene Alternativen und eigene Kraft zusammenkommen, entsteht Lust am Entscheiden!
- Ist der erste Schritt getan, taucht die Folgefrage auf: Wie leicht fällt es Personen, Teams und Organisationen sich zwischen den selbstgewählten attraktiven Alternativen zu entscheiden? Jede Entscheidung vernichtet Möglichkeiten und hat Schattenseiten. Wer das nicht will, verhungert zwischen den Heuhaufen. Es brauchtLust zum Entscheiden! Ein weiteres Kriterium wäre also, dass eine Entscheidung auch gegen etwas getroffen werden kann. Wenn einer Person, einem Team oder Organisation nicht klar ist, dass bei jeder Entscheidung immer Nachteile in Kauf genommen werden und andere attraktive Möglichkeiten ausgeschlossen werden müssen, dann wird man versuchen, die einzig richtige, die vernünftige, die berühmte alternativlose Wahl zu treffen. Wenn Entscheidungen ausgerechnet werden, wird nichts entschieden. Die Lust zum Entscheiden ist immer dann getrübt, wenn man die immer mögliche Kritik an der Entscheidung vermeiden will. Wer entscheiden kann, weiß, dass Kritik möglich ist und oft auch kommt. Das ist die notwendige Begleiterscheinung allen Entscheidens. Die Lust zum Entscheiden hängt an der Gelassenheit gegenüber Kritik – der eigenen wie der von anderen.
- Das führt zur dritten Frage: Welche Kompetenzen sind vorhanden, um damit zurecht zu kommen, wenn man entschieden hat? Wenn entschieden wurde, braucht es Robustheit, um die Wahl aufrechtzuerhalten, Achtsamkeit, um Nebenfolgen zu managen, und Weisheit, ob ein Zeitpunkt kommt, an dem die Entscheidung nachjustiert oder auch revidiert werden muss. Wer weiß, dass es immer auch anders gegangen wäre (Punkt 2), der ist weniger gefährdet, auf Gedeih und Verderb – hier Verderb – an der Entscheidung festzuhalten! Das hier auftauchende Kriterium ist also: Wie leicht fällt es Menschen, Bedürfnisse, die ihnen wichtig sind, auch wieder loszulassen? Wie leicht fällt es Teams, Zielsetzungen, Interaktionsmuster und Erhaltungsschemta aufzugeben? Wie leicht fällt es Organisationen (grundlegende) Prozesse und Strukturen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Dimension als überholt anzusehen? Wer weiß, dass Neuentscheidung ein anderes Wort für Überleben in sich verändernden Umwelten ist, der identifiziert sich nicht mit dem, wie es immer schon war, sondern er darf sich ändern und damit auch sich selbst über die Zeit hinweg widersprechen! Loslassen können ist somit ein weiteres Kriterium für gelungene Beratungsarbeit.
Die hier kurz dargestellten Kompetenzen sind in Summe die Bedingung dafür, dass Wählen und Entscheiden leicht wird. Es darf etwas Neues passieren, man ist nicht auf das Alte festgelegt, jede Entscheidung ist richtig und falsch zugleich, Entschiedenes darf kritisiert werden und man darf sich umentscheiden, ohne dass man das bedauern muss.
Leichtigkeit beim Wählen ist die Kompetenz, die nötig ist, um Übergänge zu bewältigen, die von einer alten, aber unpassend gewordenen Sicherheit zu einer neuen, besser passenden Sicherheit führen. Wie alles, was leicht ist, ist es schwer, sich diese Fähigkeit zu erarbeiten. Die Umstände, die derzeit unter NewWork, Digitalisierung oder Agilität beschrieben und diskutiert werden, lassen allerdings die Vermutung aufkommen, dass ohne die Verbreitung einer solchen Leichtigkeit es schwerer werden wird, in den aufkommenden disruptiven Zeiten zu bestehen – egal ob als Person, als Team oder als Organisation.
Eine solche Leichtigkeit zu erleichtern – dazu könnte Beratung gut sein.