These 7: Jede Entscheidung spaltet die Organisation in zwei Facetten
Der Unterschied zwischen Risiko und Gefahr ist eine der ganz wichtigen Unterscheidungen, die man zum Verständnis von Organisationen und ihrer Veränderung nutzen kann. Diese Differenz – sie findet sich bei N. Luhmann – ist leider nicht so verbreitet. Darum zunächst eine kleine Erklärung.
Risikonehmer sind die Personen, Gruppen, Abteilungen, Gemeinschaften etc., die Entscheidungen treffen. Sie muten den anderen die Folgen ihrer Entscheidung zu. Gefahrenträger sind dann entsprechend die, die mit den Entscheidungen der anderen zurechtkommen müssen. Sie werden quasi entschieden. Das einfachste Beispiel dafür ist jeder Fahrzeuglenker, der den Beifahrer seinem Fahrstil aussetzt und ggf. zumutet. Der Beifahrer muss mit dem Fahrstil zurechtkommen. Das kann durch Schweigen, Genießen, Jammern, Erschrecken, Aussteigen o.a.m. geschehen. Risiko ist also der Name der Gefahr, wenn man selbst entscheidet, Gefahr ist der Name der Gefahr, wenn andere entscheiden und man selbst betroffen ist. (Darum kann das Wetter gefährlich sein, eben weil wir nicht darüber verfügen können!). Für Gefahrensituationen braucht es demnach auch ganz andere Kompetenzen als für Risikosituationen.
In Organisationen wird ständig entschieden. Man muss sich klar machen, dass mit jeder Entscheidung sich die Organisation in zwei Lager spaltet: In die, die entschieden haben bzw. denen die Entscheidung zugeschrieben wird, und in diejenigen, die von der jeweiligen Entscheidung, betroffen sind. Vermeintlich ist die Entscheider-Rolle die bessere. Das stimmt aber nur zum Teil: Die Vorteile dieser Position sind,
- dass man entscheiden kann und damit handelnden Einfluss auf die Situation nehmen kann,
- dass man im Falle der günstigen Entwicklung der Entscheidungen die Lorbeeren erntet und
- dass man es wahrscheinlicher macht, durch den Zuspruch und die Vertrauenszuschreibungen anderer wieder die Rolle des Risikoträgers angetragen zu bekommen („Die kann das!“).
Die nicht unerheblichen Nachteile dieser Position sind jedoch,
- dass man auch dann die Folgen zu tragen hat, wenn diese Entscheidungen aus der Sicht der Gefahrennehmer negativ sind (Anschuldigungen, Vorwürfe, Kontaktabbruch, Schadensersatz, Rache etc.). Es reicht aber auch, dass sie mit negativen Erwartungen belegt sind (Drohungen, Widerstand, Verleumdungen, Gegenaktionen, Absicherungsstrategien, etc.),
- dass man sich selbst Vorwürfe macht, wenn sich in der Zukunft erweist, dass man hätte besser oder gar nicht hätte handeln sollen. Da man im „Nachhinein“ meistens schlauer ist, ist das – besonders in unsicheren Kontexten – sehr oft der Fall. Dann bereut man, dass man nicht andere hat entscheiden lassen und trauert den Vorteilen des Gefahrennehmertums hinterher („Wäre ich doch bloss Mitarbeiter geblieben, statt Chef geworden!“).
Was ist mit der andere Seite der Unterscheidung, de Gefahrenträgern? In hierarchischen Kontexten sind es die Subsysteme der Organisationen oder die Mitarbeiter, die sich überwiegend als gefahrentragend erfahren. Das liegt daran, dass von den allermeisten Entscheidungen der Hierarchie viele Personen, Teams, Abteilungen, Bereiche, Standorte, Regionen, Netzwerkpartner etc. (gefährlich) betroffen und oft überrascht sind. Häufig sind die Einflussmöglichkeiten gering. Der nun sich aufdrängende (und ebenfalls häufig dysfunktionale) Ausweg ist, dass man versucht alle Betroffenen an der Entscheidung zu beteiligen. Das kostet aber zu viel Zeit und führt angesichts nicht gleich verteilten Sachverstands zu schlechteren Entscheidungen. Zu glauben jemand könne so entscheiden, dass nur Nutzen und keine Nachteile anderswo entstünden, ist eine Illusion. Dem einen hilft man und vernachlässigt durch diese Entscheidung viele andere, die ebenfalls Hilfe brauchen. Dem einen Bereich wird Headcount gewährt, der dem anderen Bereich fehlt.
Bei beinahe jeder Entscheidung wird also für Unbeteiligte mitentschieden. Wenn man Organisationen in dieser Hinsicht verstehen, führen und beraten will, kann man sich anschauen, wie dieser Aspekt von Entscheidungen gestaltet wird. Wie gut kommen die Organisation oder einzelne Bereiche mit Überraschungen, Unverhofftem und Widrigkeiten klar? Wie robust ist die Organisation? Wie kompetent sind die jeweiligen Gefahrenträger im Umgang mit den unerwünschten Aspekten anderswo getroffener Entscheidungen? Wo und wie entsteht verlässlich Widerstand, Boykott, Ignoranz? Wird dies formal oder informell gestaltet? Wo und wie wird Dialog, Diskurs und Einfluss gesucht? Wo gibt es Eskalations- oder Vetorechte? Wo wird mit den Risikonehmern darüber kommuniziert, welche Nebenwirkungen ihrer Entscheidung an den Gefahrenstellen der Organisation sichtbar werden?
Dies ist nur ein kleiner Teil der Fragen, mit denen man Organisationen untersuchen kann, um zu sehen, wie die (veränderbaren) Muster dieser ständigen Aufteilung von Entscheidern und Betroffenen sind.
Gefahrloses Risiko gibt es nicht. Wer entscheidet, riskiert immer, dass die verworfene (oder eine unbekannte) Alternative günstiger gewesen wäre. („Hätten wir nicht…!“). Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten es gibt, desto mehr Risiken entstehen. Gleichzeitig werden die Risiken auch höher, weil bei zunehmender Komplexität auch die Folgen der eigenen Entscheidungen nicht mehr überblickt werden können. Gerade auch in großen Organisationen kann oft ein Bereich (etwa IT) nicht wirklich abschätzen, was Änderungen im eigenen Verantwortungsfeld (etwa die Umstellung einer Software) an Folgen in anderen Bereichen hat. Oft wissen diese selbst erst nach der Einführung, mit welchen Gefahren sie sich nun herumschlagen müssen! Je komplexer der Entscheidungshintergrund, desto wahrscheinlicher die Kritikmöglichkeiten der von der Entscheidung betroffenen.
Dieses alltagsnahe Wissen wird aber oft ignoriert. Stattdessen werden an andere oder sich selbst unrealistische Erwartungen im Hinblick darauf gestellt, wie weit Folgen getroffener Entscheidungen vorherzusehen seien. Ähnliches geschieht, wenn bei eingetretenen negativen Folgen dem Entscheidungsträger unterstellt wird, er hätte dies sehen und vermeiden können. Daraus leitet sich dann wiederum die Berechtigung ab, mit Vorwürfen und Beschuldigungen zu operieren. So schraubt man die Absicherungsstrategien für Entscheidungsträger in die Höhe und besonders riskante Entscheidungen werden genau aus diesem Grund dann gern gemieden.
Eine Organisation, die unerwünschte Nebenfolgen von Entscheidungen normalisiert, weil sie weiß, dass jede Risikonahme Gefahren erzeugt, ist besser geeignet mit Komplexität umzugehen und entlastet auf günstige Weise ihre Entscheidungsträger. Daher ist allein schon das Wissen um diese Zusammenhänge bisweilen veränderungswirksam. Mehr zu der gesamten Thematik findet sich hier.
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