Verlernen, Nicht-Lernen und Lernen
Lernen gilt gemeinhin als gut, richtig und erstrebenswert. Ist es aber nicht. Wenn eine Person, ein Team, eine Organisation immer nur lernen würde, gäbe es keine Geschichte, keine Stabilität, keine Identität und keine Verlässlichkeit. Es geht also auch darum, auf Lernen verzichten zu können. Es braucht auch Kompetenz im Nicht-Lernen.
Wenn etwas gelernt wird, dann kann es Teil der Identität (Studium, Sport, Musik, Sprache etc. bei Personen, Gruppenregeln, Teamziele, Arbeitsformen etc. bei Teams, Produkterstellung, Kundenbeziehungen, Kultur etc. bei Organisationen) werden. In diesem Fall verändert Lernen – wenn es also nicht nur Vorhandenes ausbaut – die Identität des Systems. Je grundlegender Lernen sein soll, desto mehr gerät es in Konflikt mit der bestehenden Geschichte des Systems. Was richtig war, wird falsch. Das kann schnell dazu führen, dass das jeweilige System sich selbst für falsch hält. Lernen ist also beileibe nicht nur positiv und leicht!
Es ist zudem nicht klar, ob und wann gelernt werden muss. Denn kein Mensch, kein Team, keine Organisation kann sich selbst als „perfekt“ ansehen. Man könnte prinzipiell immer lernen. Das aber wäre zu anstrengend. Um sich mit den – immer möglichen – „Verbesserungen“ nicht zu überlasten, braucht es folglich Kriterien, auf welchen „Lernbedarf“ man sich fokussiert. Woher kommen diese Kriterien? Wie werden diese „gelernt“? Auch das wird oft nicht explizit geklärt, sondern hinter dem „Positiv-Wort“ Lernen versteckt.
Wenn also Nicht-Lernen zur Schonung von Ressourcen unentbehrlich ist – worin besteht es? Es bedeutet, bestehende Möglichkeiten auszulassen. Also sind alle Menschen, Teams und Organisationen die meiste Zeit mit Nicht-Lernen beschäftigt! Sie tun das, was sie können und leben im Vertrauten. Nicht-Lernen ist so wichtig wie Lernen. Wenn ein System nicht auslassen und verzichten kann, dann kann es auch nicht fokussieren. Manche kennen das aus dem Studium unter dem Stichwort „Lernen auf Lücke“. Vorbeilaufende Lernmöglichkeiten mit Nicht-Lernen zu behandeln, erscheint dabei noch am Leichtesten: Dann bleibt man wie man ist. Schwerer ist es, auf Lernen zu setzen: Dann bleibt man wie man ist und bekommt neue Möglichkeiten dazu. Am schwersten ist es zu Ver-Lernen: Dann gibt man alte Möglichkeiten auf, sucht nach neuen und wird ein anderer.
Lernen in Form von Ver-Lernen heißt nämlich Inkompetenz und Unsicherheit willkommen heißen zu wollen. Denn wer Gelerntes aufgibt, hat ja nie gleich das Neue zur Hand. Doch wie und wo kann man Ver-Lernen lernen?
Ver-Lernen – oder die Kunst der Selbst-Verunsicherung
Mit diesen hier kurz skizzierten Unterscheidungen ist ein Problem markiert, welches aus unserer Sicht in den vielfältigen Überlegungen um „Change“, New Work und digital motivierte Änderungen häufig vernachlässigt wird. Man tut gut daran, fundamental zwischen Lernen auf der Verhaltens- und
Fertigkeitsebene (= neue Kompetenzen) und Lernen auf der Identitätsebene (= neues Selbstverständnis) zu unterscheiden. Das eine hat mit dem anderen im Grunde nicht viel gemeinsam. Wer also vom Automobilhersteller zum Mobilitätsanbieter werden möchte, muss nicht primär etwas Neues lernen (das vielleicht auch), sondern muss in erster Linie etwas Bestehendes – sein Selbstbild – verlernen. Ähnliches gilt für den Weg von Old zu New Work. Da steht viel mehr auf dem Spiel als der Aufwand sich auf Neues einzulassen.
Viele Personen in Teams und Organisationen zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie auf Meinungen beharren, Bestehendes aufs Letzte verteidigen und unflexibel sind. Das liegt nicht daran, dass die Argumente für das Neue zu schwach wären, sondern daran, dass sich die betroffenen Menschen auf der Identitätsebene bedroht fühlen: Veränderung wäre zu selbstwertgefährdend, zu sicherheitsgefährdend, zu beziehungsgefährdend, zu rufgefährdend oder anderes mehr. Aus diesem Grund ist es in solchen Zusammenhängen sinnlos, Argumente für das Neue immer und immer wieder ins Spiel zu bringen. Wenn man ahnen kann, dass der andere nicht gegen das Neue ist, sondern vielleicht schlicht nicht weiß, wer er wird, wenn das Alte nicht mehr gilt, muss mit dem Argumentieren aufhören. Ängste sind durch „Vernunft“ nicht veränderbar. Das Großhirn hat kaum Einfluss auf das limbische System. Hier braucht es einen Ebenenwechsel, der es ermöglicht das Identitätsthema zu adressieren. Sonst wird das Alte zur „Vergeblichkeitsfront“!
Ähnliches gilt für Teams, in denen das identitätsstiftende Muster der Zusammenarbeit, der etablierten Regeln, der Wege ins Team zu kommen oder es zu verlassen etc. nicht mehr bleiben können, wie sie mal waren. Plötzlich müssen Meetings virtuell werden, Erfolge werden gepostet und nicht begossen usw. Man fühlt sich anders, man bekommt andere Konflikte.
Ebenso die Organisationen: Auch hier ändern sich die Muster der Kommunikationen und der Entscheidungsfindungen grundlegend, wenn sich an der Selbstbeschreibung der Organisation etwas verändern soll. „Freude am Fahren“ passt irgendwie nicht mehr zu einer Zukunft autonom fahrender Robotertaxis, die man über Alexa oder Siri vor die Haustür ruft. Was als rationale, vernünftige Entscheidung gilt, folgt plötzlich ganz anderen Kriterien.
Wie schaut eine Kompetenz aus, die Identitätswechsel erleichtern kann oder attraktiver macht?
Das Wichtigste erscheint uns, dass ein System sein Selbstbild nicht ausschließlich auf das Bestehende aufsetzt, sondern seine Identität in der grundsätzlichen Irritierbarkeit sucht. Also nicht „So bin ich…!“, „So sind wir…!“ oder „So läuft das hier …!“, sondern „Ich/Wir/Es könnte auch ganz anders sein…!“.Überidentifikation mit Persönlichkeitsmerkmalen, mit Erfolg, mit Beziehungen, mit Marken, mit Marktanteilen, mit XYZ verhindert Irritierbarkeit. Und Irritierbarkeit ist die Voraussetzung, um Bestehendes, Liebgewonnenes, Vertrautes, angestammte Kompetenzfelder u.ä. loszulassen und Neues in Erwägung zu ziehen.
Auf der personalen Ebene braucht es dafür in erster Linie die Fähigkeit, sich innerlich nicht aus-schließlich auf Leistung und Erfolg zu fokussieren. Nicht das, was man tut oder hat, sondern das, was man erleben kann, wird dann zur Grundlage der Identität. Hat man diesen Schritt getan, wird jeder Mensch unabhängiger davon, dass die Verhältnisse stabil bleiben und man gewinnt das Selbstvertrauen, sich neuen Umständen anpassen zu können. Aber eine solche Haltung erlangt man nicht durch Denken und Aufbau von Kenntnissen, sondern durch Fühlen und Aufbau von Resonanzfähigkeit. Nie war Selbst-Erfahrung wichtiger als heute.
Auf der Teamebene erleichtert es das Ver-Lernen, wenn die Zugehörigkeit zum Team nicht an die vorhandenen Kompetenzen geknüpft wird, sondern an den Erwerb und das Aufgeben-können von Kompetenzen. Legt das Team seine Mitglieder auf das fest, was sie können, wird es starr und ist angewiesen auf eine ebenso stabile (= starre) Umwelt. Ist Mitgliedschaft im Team gekoppelt an das, was man an Kompetenzen aufbauen und ablegen kann, dann bleibt das Team flexibel und kann sich mit anderen Anforderungen auseinandersetzen. Das bedeutet auch, dass starre informelle Hierarchien ungünstig sind im Hinblick auf das Entwickeln eines neuen Selbstverständnisses.
Auf der Organisationsebene ist gepflegte Diversität eine der wichtigsten Ressourcen zum Ver-Lernen. Homogenität bildet klare Selbst-, Fremd- und Feindbilder. Das erleichtert die Bildung von Identität, aber erschwert die Veränderung der Identität eines sozialen Systems. Neu- und andersartige Kommunikation findet gewissermaßen keine Anknüpfungspunkte in der Organisation, da diese es per se nicht gewohnt ist, sich mit Andersartigkeit anders als abgrenzend oder abwertend auseinanderzusetzen. Aber was taugt die „Lederhose“, wenn der „Laptop“ gefragt ist, was taugt der „männliche Ingenieurssprech“, wenn eine „hippe instagrammatische Bilderwelt“ gebraucht wird, wenn Qualität in Veränderbarkeit und nicht Beständigkeit besteht? Je mehr eine Organisation geübt ist, sich immer wieder wechselseitig abzuholen, zu inspirieren, Unterschiedlichkeit zu verknüpfen, desto leichter kann sie Ver-Lernen und ihre Identität an andere Zeiten anpassen.
In Summe erscheint im Hinblick auch Change – egal ob auf persönlicher, sozialer, organisationaler oder gesellschaftlicher Ebene – das Verlernen von Gewohnheiten und von etablierten Muster entscheidend. Dabei (nur) auf die Attraktivität von Neuem zu setzen, erscheint mir zu einseitig und unterschätzt die Pfadabhängigkeit von Musterbildung und die Selbststabilisierungsfreude von Systemen.