Ohne Kontakt ist alles nichts
Diesmal geht es um Kontakt, Resonanz, Verbundenheit, Beziehung, Begegnung, Verbindung, Bindung…! Schon die Fülle der Begriffe mag eine erste Ahnung davon vermitteln, dass man bedeutsames psychologisches Gelände betritt. Welche Bedeutung hat ein „Du“ für die Veränderung oder Stagnation eines „Ichs“? Darum wird es nun in aller Kürze gehen. Ich beginne mit einem Statement:
Seelische Schwierigkeiten, die durch fehlenden, fehlabgestimmten, bedrohlichen oder bedrohlich empfundenen Kontakt entstanden sind, lassen sich im später nicht ohne Kontakt verändern.
Nach 30 Jahren psychotherapeutischer Arbeit und Coaching ist für mich wenig evidenter als diese Aussage. Sehr oft habe ich in dieser Zeit mit Klienten gearbeitet, die Therapien und Beratungen ohne echten Kontakt zum Therapeuten/Coach hinter sich hatten. Sie wurden dort behandelt, aber sie fanden keine Begegnung. Sie sollten sich dort verändern, fanden aber kein Interesse für die Not hinter ihren problematischen Zügen. Die Symptome sollten sich bessern, aber sie selbst blieben allein. So kamen oft die Symptome – die gleichen oder andere – wieder. Andere wiederum flohen ins Tun, in die Stärke, in die Unabhängigkeit, in die Leistung -, wurden erfolgreich und blieben unglücklich: Hinter dem ‚“Sich-etwas-leisten-können“, hinter der sozialen Anerkennung, hinter dem Sich-Vergnügen-wollen blieb die Einsamkeit, das Verloren-fühlen in der Welt und die Angst vor intensiver Nähe. Viele erlebten nie wirklichen, unmittelbaren Kontakt mit einem Menschen, der nichts wollte, sondern nur da war.
Beziehungstraumata – so kann man obige Phänomene nennen – nehmen vielfältige Verläufe. Vor allem aber haben sie vollkommen unterschiedliche Entstehungsformen. Eine der wichtigsten ist die fehlende „Abstimmung“ – Atunement ist ein zentraler Begriff der Säuglingsforschung – zwischen Kind und den primären Bezugspersonen. Wie oft habe ich den Satz gehört: „Ich hatte eine glückliche Kindheit und liebevolle Eltern! Da war alles in Ordnung!“? Gefühlt tausend Mal! Nicht nur zu wenig oder keine Liebe sind ein Problem, sondern insbesondere auch zu viel oder falsche „Liebe“. Man kann sich vor Umarmungen genauso fürchten lernen wie vor Zurückweisung. Die Angst vor Nähe bzw. dem, was mit ihr verbunden ist, ist aus meiner Sicht mindestens so verbreitet wie die Angst davor, einsam zu sein oder ins Leere zu laufen. Ganz grundsätzlich gilt: Niemand kann als Eltern den Kindern in allen seelischen Aspekten diese abgestimmte emotionale Resonanz zur Verfügung stellen. So gibt es auch wohl niemanden, der mit einem völlig unversehrten Urvertrauen erwachsen wird.
Umarmungen sind wie Zurückweisungen zunächst einmal Verhaltensweisen. Damit ist noch wenig ausgesagt über die Kontaktqualität – in dem Fall zwischen Kind und Erwachsenen. In beiden Fällen kann es nämlich um das Kind gehen oder aber um den, der glaubt zu lieben oder der glaubt, ablehnen zu wollen. Oder etwas anders formuliert: Umarmungen können genauso wie Zurückweisungen Ausdruck von Ablehnung sein. Zurückweisungen haben dabei den Vorteil, dass das Kind merkt, dass da etwas falsch läuft. Kontaktlose Umarmungen sind sehr viel schwerer als „falsch“ zu enttarnen, weil sie aus einer unbewussten Ablehnung der Bezugsperson entspringen. „Offiziell“ und beim oberflächlichen Hinschauen scheint alles in Ordnung – darum „stimmt“ auch oben zitierter Satz. „Kontaktlose Umarmung“ darf hier als Chiffre gelesen werden für ein Bündel von Phänomenen wie Verwöhnung, Dauerlobhudeleien, Selbstaufgabe der Eltern gegenüber den Wünschen der Kinder oder narzisstische Botschaften wie „Du-bist-meine-Prinzessin!“, „Du-wirst-es-zu-etwas-bringen!“ und „Du-bist-besser-als-die-anderen!“. All das wird seltener als Problem sondern meist eher als Ausdruck elterlicher Fürsorge angesehen.
Dabei ist es sehr häufig die in vermeintliches „Kindeswohl“ verpackte Selbstbezogenheit der Eltern.
Wer es braucht(!), dass sein Kind klug, schön, erfolgreich, beliebt, begehrt – also etwas Besonderes – ist, der ist nicht mit seinem Kind, sondern mit seinem Bild vom Kinde beschäftigt. Das ist deshalb kontaktlos, weil die Eltern nicht mit dem Kind, wie es gerade ist, beschäftigt sind, sondern mit dem, was aus dem Kind werden soll. Das Kind muss es gut haben, damit die Eltern selbst gute Eltern sind. Kontaktlosigkeit in „Liebe“ verpackt.
Ich stelle diesen Zusammenhang an den Anfang dieser Artikels über Kontakt, um zu illustrieren, dass das Fehlen von echter Begegnung und tiefem Interesse am Gegenüber bisweilen nicht so leicht zu identifizieren ist. Man merkt es nicht an dem, was jemand tut, sondern wie jemand es tut. Ein „Wie“, das Kontakt schafft, nennt man Resonanz. Es beinhaltet ein Mitschwingen mit dem Anderen und ist zutiefst an Absichtslosigkeit und an den Respekt vor dem anderen und sich selbst gebunden.
Absichtslosigkeit meint hier den Verzicht darauf, zu wissen, was für den anderen gut ist, und den Verzicht darauf, den anderen für eigene Ziele und Wünsche zu instrumentalisieren oder sich instrumentalisieren zu lassen.
Der Philosoph Martin Buber nannte dies eine „Ich-Du-Beziehung“ in Abgrenzung zu einer „Ich-Es-Beziehung“. Resonanz lebt also davon, dass man ein Echo erlebt, auf das, was man zeigt und ausdrückt. Worauf Kinder keine passende (=zu wenig, zu viel, falsche) Resonanz bekommen, verkümmert nach und nach und verschwindet aus Selbstwahrnehmung und Selbstausdruck. Darum bedeutet der Satz: „So bin ich!“, wenn ihn Erwachsene aussprechen, genau genommen immer „So bin ich geworden!“. Man vergisst in der Regel, wie man mal war, oder wer man sein könnte, würde man ein Gegenüber finden, welches einem in absichtsloser Resonanz begegnete. Die Bindungsforscher nennen diese Art von Präsenz auch Feinfühligkeit: Dies ist eine Form der zeitnahen non-verbalen wie verbalen Antwort auf den Selbstausdruck des Anderen, welche weder zu stark (=invasiv, drängend, überwältigend) ist, noch zu schwach (= verzögert, verhalten, ängstlich), noch zu bestimmend (= ablehnend, abwertend, aufwertend), noch zu substanzlos (= gleichförmig, emotionsarm, unbeteiligt) oder zu unkalkulierbar (= ohne Regel mal so, mal so).
Das Problem im Hinblick auf Veränderung ist, dass Menschen, die ungünstige Beziehungs- und Resonanzerfahrungen in sich tragen, dazu neigen, (nahe) Beziehungen, in denen Menschen wirklich wichtig werden und nicht mehr austauschbar sind, zu meiden. Klar – was sollte man sich davon versprechen außer neuerlich schlechten Erlebnissen? Das heißt, man versucht, in Beziehungen eher die Kontrolle zu erhalten bzw. zu bekommen. Man erreicht dies z.B. darüber,
- dass man es anderen recht macht,
- dass man andere dominiert oder von sich abhängig macht,
- dass man oberflächlich freundlich und jovial, aber unnahbar ist,
- dass man vorsichtig ist und in Deckung bleibt,
- dass man sich über Drittes (etwa gemeinsame Aufgaben oder Interessen, wie Sport, Politik, Musik etc.) mit anderen zusammentut, wo Persönliches nicht groß vorkommt.
Das alles stabilisiert und immunisiert gegen seelische Veränderungen. Das (oft unbewusste) seelische Konzept ist: „Komm mir nicht zu nahe!“ oder „Am Ende ist jeder allein!“.
So entsteht die paradoxe Situation, dass das, was einem helfen würde – Kontakt -, genau das ist, was man fürchtet und meidet. Es leuchtet ein, wie fatal diese Situation ist. Darum hängt nun soviel davon ab, was passiert, wenn Menschen mit solchen Lebenserfahrungen sich wegen symptomatischer Effekte in Coaching oder Therapie „verirren“. Meist sind berufliche Schwierigkeiten („Suchen Sie sich einen Coach!“) oder Probleme in der Partnerschaft („Jetzt komm doch den Kindern zuliebe mal mit zum Therapeuten!“) die Anlässe, die genügend Druck aufbauen, um eine Hilfe zu suchen, an die man innerlich nicht glaubt und vor der man sich trotzdem fürchtet.
Um mit diesem Dilemma der Stagnation umzugehen, brauchen solche Menschen nichts mehr, aber auch nichts weniger als ein Gegenüber, das die oben schon skizzierte Absichtslosigkeit als Person in seinem Kontaktangebot verkörpert. Ich schreibe bewusst „verkörpert“, da dies eben eine umfassende und gelebte Haltung sein muss. Alles andere wittern Menschen, die von klein auf manipuliert oder alleingelassen wurden, sofort. Ihr Überlebensinstinkt sagt ihnen, ob jemand (unbewusste oder verborgene) Absichten verfolgt oder nicht. Das macht sie – nebenbei bemerkt – oft so qualifiziert für Führungsaufgaben, da sie eben den Braten, der ihnen von anderen serviert wird, riechen.
Eine solche Beziehungserfahrung – „Hier will keiner was von Dir und alles Interesse gilt Dir, so wie Du bist“ – ist notwendig, damit man dann langsam glauben lernt, dass Nähe sich gut anfühlen kann und man sich zeigen möchte.
Günstige seelische Veränderung braucht die Botschaft „Du brauchst Dich nicht zu verändern!“, um in Gang zu kommen.
Andernfalls werden Coaching und Therapie neuerlich zu Orten, in denen eine Leistung erbracht wird, nicht für sich und weil man will, sondern für den Erfolg, für andere und weil man muss. Die frühe Überlebensstrategie, dass fehlende Geborgenheit durch Anpassung und Leistungsbereitschaft kompensiert wurde, droht sonst in Beratungskontexten ihre unheilvolle Fortsetzung zu erfahren. Erst der Spiegel absichtsloser Augen im Gegenüber lässt einen sehen, wer man ist, wenn Verbundenheit im Herzen erlebbar wird.
Coaches und Therapeuten dürfen sich demnach innerlich davon unabhängig machen, dass der Klient „vorankommt“ und dass es ihm (schnell) besser geht. Auch die Orientierung an Diagnosen, Methoden und Tools kann den Kontakt an dem einzigartigen Menschen, der gegenüber sitzt, beeinträchtigen. Coaching, Therapie und Beratung sind ein Geschehen, das ohne Kontakt keine Orientierung und Halt findet. Nur aus der Bezogenheit heraus entstehen im Coach, Berater oder Therapeuten die Impulse, die den Klienten erreichen und berühren.
Wer sich also fragt, ob er in Beratung oder Therapie gut aufgehoben ist und eine Chance hat, in der Tiefe in Veränderung zu kommen, kann sich die einfache Frage stellen: „Fühle ich mich durch die Person und das, was sie mir entgegenbringt, innerlich berührt und ergriffen?“ Ist das der Fall, dann ist man gut aufgehoben. Wenn man auf die Frage „Strenge ich mich auch im Coaching an und der Coach gleich auch noch mit?“ ehrlicherweise mit „Ja“ antwortet, dann darf man durchaus nachdenklich werden.
Warum? Das hängt mit einem weiteren Thema zusammen, welches uns dann im nächsten Teil der Serie beschäftigen wird: „Vom Schaden der Selbstverbesserung“ wird der Titel sein. Ich werde die Gründe und Folgen darstellen, wenn Menschen an ihrer Optimierung arbeiten und annehmen, sie würden sich damit Gutes tun.
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