Vom Schaden der Selbstverbesserung
Verbesserung kann schädigen? Ja! Um diese – vielleicht erstmal merkwürdig anmutende – These im Hinblick auf menschliche Veränderung geht es im Folgenden. Keine ganz leichte Kost für Leser, denen es wichtig ist, „besser“ zu werden, fürchte ich. Bitte nicht vorschnell über den Text urteilen. Vielleicht ist ja doch was dran?!
Mögliche Ziele von Veränderung
Menschen wollen sich zum Guten hin oder vom Schlechten weg verändern. Ich konzentriere mich in diesem Artikel auf Ersteres. Wie findet man heraus, was das Gute ist? Wie stellt man sicher, dass man es irrtumsfrei bestimmen kann? Denn – wenn man sich irrt, kann man das Leben ja leider nicht von vorn beginnen! Von der Antwort auf diese Frage hängt also einiges ab. Ich beginne mal damit, wie man es besser nicht macht.
Es gibt im Kern drei ausgesprochen ungünstige Möglichkeiten, wie man zu vermeintlich „guten“ Zielen kommt.
- Man will ein guter Mensch werden. Was ein guter Mensch ist, bestimmt sich durch allgemeine Normen und Regeln (10 Gebote, bürgerliche oder antibürgerliche Konventionen usw.). Diese Menschen kommen dann mit Schuldgefühlen oder Ängsten in Beratung, weil sie sich nicht so gut an diese Standards halten können oder Pflichten vernachlässigen. Diese Art der Bestimmung des Guten ist in den letzten Jahrzehnten etwas aus der Mode gekommen, war jahrhundertelang allerdings das vorherrschende, meist von den Religionen getragenes Modell.
- Man will ein erfolgreicher Mensch werden. In diesem Fall sucht man sich selbst die Ziele und muss festlegen, woran man Erfolg misst und erkennt. Hier landen sehr viele Menschen dann bei messbaren Äußerlichkeiten wie Karriere, Geld oder Ansehen. Das ist naheliegend, eben weil man an der Hierarchiestufe, dem Kontostand oder den Ehrungen den Erfolg ablesen kann. So tut man das, was Erfolg bringt. Meist sind fehlender, gefährdeter oder ein zu langsamer Fortschritt im Erfolgreich-Sein der Grund, warum Menschen in Beratung kommen. Sie wollen gewissermaßen Nachhilfe oder sind im Zweifel, ob ihr Ziel passend ist. Diese Unsicherheit trifft man allerorten an und sie ist die Basis ungezählter Ratgeberkonzepte in Büchern, Zeitschriften, Vorträgen und Beratungen. (Mehr dazu siehe hier)
- Nun kommt wir zur verhängnisvollsten Variante: Man will ein besserer Mensch werden. Das heißt, dass es nicht primär um das Erreichen von Zielen auf der Handlungsebene geht, sondern darum dass man die „beste Ausgabe seiner selbst wird“. Das Ziel ist die gesamte Person und es ist nie zu Ende, denn es geht immer noch besser! Die Norm besteht wenn man so will in einem „gelingenden“ Leben, welches alle Talente zum Blühen bringen soll. Viele Menschen sehen darin kein Problem. Sie möchten alles aus sich herausholen und glauben, dass sie das glücklich macht. Menschen, die sich diesem Stil verschrieben haben, wollen sich perfektionieren. „Make yourself great!“ Sie kommen seltener und wenn, dann deshalb in Beratung, um diesem Ideal von sich näher zu kommen. Dabei suchen sie sich meist besonders bekannte oder wirksame Berater, die sich vor ihrer (potentiellen) Großartigkeit verneigen und froh sind, jemanden, der so viel aus sich machen möchte, beraten zu dürfen.
Diese dritte Variante soll uns nun gezielt im Weiteren beschäftigen, da sie in den 40 Jahren, die ich überblicken kann, enorm zugenommen hat. Im ersten Teil der Serie habe ich diese Strategie „Designerziele“ genannt.
„Werde die beste Ausgabe Deiner Selbst!“
Für welches innere Problem ist der Versuch, „etwas (Gutes) aus sich zu machen“, die Lösung? Wie kommen Menschen auf die Idee, aus sich etwas machen zu müssen, wenn die wesentlich unanstrengendere Alternative doch wäre, einfach das zu sein, was man ist? Das hängt damit zusammen, welche Resonanzerfahrungen man in seinem Leben gemacht hat (Siehe auch Teil 3). Hatte man Eltern, die vorrangig damit beschäftigt waren, das in dem Kind zu sehen, was sie sehen wollten oder was es werden sollte, dann hat man eben von klein auf kein wirkliches Echo auf sich gehabt. So entwickelt man von klein auf das Gefühl, dass es gilt ein Ideal anzustreben. Nicht was sich von selbst entwickelt, sondern was sich entwickeln soll, zählt. Das Leben wird zu einer Auftrittsshow und Bühnentauglichkeit ist das, worauf man sich vorbereitet. Folglich werden attraktive soziale oder organisationale Rollen ausgewählt, um ein Ideal zu wählen und zu verfolgen: Aktuell hoch gehandelte Rollen wie Gründer(in), Influencer(in), Instragramer(in), Kreative, Digital Nomads gehören dazu genauso wie die altbewährten Rollen Top-Manager(in), Partner(in), Investoren/-innen, Businessangels, Investmentbanker(in) usw. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass solche Rollen in sich schlecht oder falsch wären. Es ist nur gesagt, dass sie sich gut eignen eine Ersatzidentität abzugeben.
Doch wo ist nun das Problem? Alles, was man tut, alles, was man hat, kann jederzeit verschwinden oder verloren gehen! Von diese (Grund-)Angst kann sich kein Mensch befreien. Bewusst ja, unbewusst nie. Ich arbeite seit 30 Jahren mit sehr erfolgreichen Menschen und kein einziger war frei von Angst, das was er (nach außen) darstellte oder was er (äußerlich) hatte, zu verlieren. Die Angst vor Enttarnung („Die anderen werden irgendwann merken, dass ich gar nichts kann!“) oder vor Scheitern („Ich muss sicher stellen, dass ich weg bin, bevor offenbar wird, was eigentlich los ist!“) oder vor Verlust bedeutsamer Beziehungen („Ich darf den nicht verärgern, der kann mich im Fall des Falles wieder unterbringen!“) sind enorm. Sie macht die Menschen krank, treibt sie in Ablenkung, nötigt sie zu oberflächlichem Vergnügen und leerem Konsum. Am Ende steht sehr oft das Empfinden von Sinnlosigkeit – als paradoxes Ergebnis der Suche nach Sinn. Das ist nicht nur für die Menschen selbst schlecht, sondern auch für ihr Umfeld. Viele Menschen im Umfeld von Idealverfolgern helfen und unterstützen, lassen sich ausbeuten und verzichten auf Vieles – am Ende stehen sie dann gemeinsam mit den Protagonisten vor den Scherben der Leere und der emotionalen Armut.
Gibt es eine Alternative?
Wie entkommt man diesem sinnlosem Selbstverbesserungszwang? Welche können Menschen sich von destruktiven Idealen verabschieden und Frieden mit sich und anderen finden? Das Prinzip habe ich schon in Teil 2 dieser Serie erläutert: Man muss herausfinden, was man in sich wahrnimmt, jenseits von allem, was man tut. Oft äußere ich deshalb im Coaching etwa die Bitte:
„Erzählen Sie mir doch davon, was Sie ausmacht und wie Sie sind, ohne dabei etwas darüber zu sagen, was Sie tun oder leisten. Erzählen Sie mir darüber, was Ihnen keiner je nehmen kann und was Sie auch noch auf dem Sterbebett ausmacht.“
Die meisten Menschen finden sie nach einigem Spüren (nicht Nachdenken!) durchaus sehr eigene und verschollene Qualitäten. Hier nur eine ganz kleine Auswahl : Neugierig, schüchtern, langsam, schnell, verträumt, wild, frech, pfiffig, zart, vorlaut, nachdenklich, verspielt, leise, bezogen, sensitiv, robust, versunken, ungebändigt, liebevoll, empfänglich, genießerisch, hingebungsvoll, kühn, sanft, keck, sinnlich, vorwärtsstrebend, verzeihend, kräftig, schöpferisch, feinfühlig, sorgend, ausdauernd, usw. usf. (Dank an meine Klienten für diese Wörter… ). Diese Qualitäten sind die Basis für Entwicklung. Sie sind Potentiale. Sie brauchen keine Pläne, keine Konzepte, keine Aufladung mit Sinn und Purpose. Wozu? Alles, was es braucht ist Aufmerksamkeit und Gewahrsein. Beides entsteht durch Resonanz im Außen.
Sehr häufig wird viel Trauer spürbar, wenn Menschen bewusst wird, wie wenig in ihrem bisherigen Leben solche „Seinsqualitäten“ wichtig waren oder wie wenig „Glanz in den Augen der anderen“ dies hervorgerufen hat. Wichtig war meist nur, was man geleistet und geschafft hatte. Aspekte der eigenen Persönlichkeit, die im Außen nie oder kaum ein Echo bekommen haben, ziehen sich in einen Kokon zurück. Die Person verarmt. Gleichzeitig wird, wenn Selbst-Wahrnehmungen ins Spiel kommen, oft auch deutlich, wie viel Selbst-Abwertung vorhanden ist. „Das bringt doch nichts!“, so kommentierte es jüngst ein Dax-Vorstand, nachdem er minutenlang zuvor unter Tränen sich eingestanden hatte, wie scheu und sensitiv er sich im Innersten fühlt. Erst in einer weiteren Reflexions- und Wahrnehmungsschleife erschrak er immens, als er sah, dass der Satz „Das bringt doch nichts!“ eins zu eins den Kommentar seines Vaters widerspiegelte, wenn über anderes gesprochen wurde als sein Vorankommen in der Schule und beim Sport. Disziplin, Härte, Ausdauer und Niemanden-Brauchen waren die Ideale, die sein Leben bestimmten. Der Schmerz ein Leben gelebt zu haben, welches nicht das eigene war, sondern eines im Dienst von Idealen, ist schwer zuzulassen. Kommt er zu Bewusstsein, dann braucht es ein Gegenüber, welches Halt und Sicherheit vermittelt. Es ist immer wieder eine Freude mitzuerleben, wie viel Lebensfreude, Intensität, Kraft und Unabhängigkeit Menschen zuwächst, die nicht mehr äußeren Idealen nachjagen, sondern leben, was sie sind. Diese Kraft unterscheidet sich elementar vom Getrieben-Sein, welches mit der Orientierung an äußeren Zielen einhergeht.
Selbstakzeptanz ist ein Weg, der sich nicht von alleine geht
Um in ein solches Leben zu finden, braucht einen Abschied von verinnerlichten Zwängen äußere Normen beachten zu müssen. Es braucht eine Erlebnisfähigkeit, die es erlaubt, eigene innere Impulse von Zielerreichungspflichten zu unterscheiden. Und es braucht eine Emanzipation von Idealvorstellungen, die dazu dienen, sein Leben an die Illusion zu verkaufen, man müsse etwas Besonderes werden. Jeder ist besonders, damit kommen wir auf die Welt.
Zur Sicherheit: Weder Normen, noch Ziele, noch Ich-Ideale sind für sich genommen fragwürdig. Nur wenn etwas „sein muss“, gilt es achtsam zu werden: Erkennungsmerkmale von verlorener Freiheit sind Unerbittlichkeit, Fanatismus, Verleugnung von eigenen Grenzen, Grandiosität, Selbstgefälligkeit, Egozentrik, Kritikimmunität, Rechthaberei, aber auch Wertlosigkeitsgefühle, Unterwerfung, Selbstaufopferung, Versklavungsbereitschaft oder Überanpassung. Wer bei sich oder anderen solche Symptome identifiziert, der tut gut daran hinter die Kulissen der Bühnenshow zu blicken. Man braucht Akzeptanz seiner selbst. Selbstliebe könnte man auch altmodischer sagen.
Wer erleben kann, wie er jenseits aller Leistung ist, wird frei. Diese Freiheit hat nichts mit Selbstverbesserung zu tun, da es schlicht und einfach nichts gibt, was es zu verbessern gäbe.
Diese Freiheit erlaubt der Seele, das zur Entfaltung zu bringen, was an Potentialen von Moment zu Moment entsteht. Die Wahl, welche der eigenen Möglichkeiten realisiert werden sollen, hält jeden Menschen aufs Feinste ein Leben lang beschäftigt. (Mehr dazu siehe hier).
Bleibt die Frage, ob man auf der Basis noch in der sogenannten Leistungswelt erfolgreich sein kann oder will? Ich behaupte, nur so! – jedenfalls dann, wenn man sein Leben nicht einem Götzen opfern will. Engagement für die Welt, dauerhafte Freude an der Arbeit, echte Verbundenheit mit anderen, erfüllte Beziehungen, Dienst an der Sache (statt am Ego) – also ein glückliches Leben – wird kaum jemandem geschenkt.
Man kann daran, wenn man will, arbeiten. Diese Arbeit beinhaltet häufig einen veränderten Umgang mit Ängsten. So führt dieser Gedanke zum Thema für den nächsten Teil dieser Serie: „Jede Angst braucht ein Zuhause“ wird die Überschrift sein, unter der ich einen besonders wichtigen Aspekt der Selbstbefriedung beschreiben werde. Diese ist nämlich Grundlage für alle Veränderungsprozesse, die nicht Gewalt gegen sich selbst beinhalten.
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