Warum viele mit Luhmann sich so schwer tun!
Im dritten Teil sind die Punkt besonders bedeutsam, weil die Konsequenzen so erheblich sind, wenn man die Zusammenhänge sich erschließt. Viel Spass dabei.
Ich beginne mit dem Thema Entscheidungen, komme dann zum Verständnis von Zeit um mit dem beliebten Unterschied von Theorie und Praxis zu enden.
Entscheidungen entscheiden und nicht der Entscheider
Eine weitere in der Reihe scheinbar vollkommen unsinniger Aussage von Luhmann ist die, dass es in Organisationen die „Entscheidungen sind, die entscheiden“. Der alltägliche Verstand geht ja zunächst davon aus, dass es Personen, also Entscheider sind, die entscheiden.
Wie kommt Luhmann zu einer derartig kontraintuitiven These?
Entscheiden soll hier verstanden werden, als ein Vorgang, in dem aus mindestens zwei gleichwertigen Alternativen eine ausgewählt wird, um Zwecke damit zu verfolgen. Beispiel: Die Version A oder B eines neuen Produkts soll realisiert werden und der Geschäftsführer entscheidet sich für die Variante B, weil er glaubt, sie wird am Markt erfolgreicher sein. Und so glaubt er selbst genauso wie seine Umgebung, er hätte entschieden. Luhmann schaut hier genauer hin und untersucht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Schauen wir uns nun zunächst die Vergangenheit an. Was ist alles in die Wahl der Alternative eingeflossen? Es ist offensichtlich, dass es in der Organisation Unmengen an Entscheidungen gab, die im Vorfeld der Geschäftsführerentscheidung eine bedeutsame Rolle für das Zustandekommen der Alternative gespielt haben. Viele Alternativen möglicher Produktvarianten wurden aussortiert und dem Geschäftsführer erst gar nicht vorgestellt. Jeder weiß, dass in Organisationen gerade auf diese Weise Entscheidungen vordisponiert werden! Die Argumente, die jeweils für oder gegen die beiden Varianten angeführt werden, sind immer unvollständig und sind zudem von Interessen von Personen und Teams geprägt. Für Luhmann müssen diese Prozesse als Aspekt des Entscheidungsvorgangs gesehen werden und somit ist deutlich: Der Geschäftsführer entscheidet aufgrund einer ihm unbekannten Vergangenheit und weiß daher nicht wirklich, was er entscheidet.
Was ist mit der Gegenwart? Der Geschäftsführer kann nicht wissen, was zeitgleich anderswo und in anderer Hinsicht entschieden wird, was aber großen Einfluss auf die Entscheidung hat. Auch hier ist sein Wissen unvollständig und damit weiß er nicht, was er entscheidet.
Die Zukunft ist per definitionem unbekannt. Man kann in ihr weder etwas wissen noch in ihr handeln. Es ist immer die gegenwärtige Zukunft, welche für die Entscheidung herangezogen wird. Es ist jedoch die Zukunft selbst, die entscheidet, welche der vielen möglichen Gegenwarten künftig real werden wird. Also zum dritten Mal: Der Geschäftsführer weiß nicht, was er entscheidet, da er die Wirkungen und „Nebenwirkungen“ „seiner“ Entscheidung nicht wissen kann. Er kann nicht wissen, wie seine Entscheidung von anderen verstanden wird, welche Anschlussentscheidungen getroffen werden etc.
Nun könnte man vielleicht sagen, dass er zumindest selbst in dem Moment der Entscheidung weiß, warum er diese oder jene Alternative wählt. Aber auch hier würde das die These implizieren, dass unser Geschäftsführer sein eigenes Unbewusstes und damit unbekannte Interessen und Ängste kennt, die seine Entscheidung beeinflussen (etwa weil dem einen Produktteam unbewusst mehr vertraut).
So ist aus meiner Sicht die These Luhmanns ausgesprochen nützlich und für Coaching und Beratung unerlässlich. Entlastet sie doch die Organisationen von der Grandiositätsidee, jemand könne die Zukunft kennen und irgendjemand könnte wissen, welche Wirkungen das hat, er tut. Alle sind in einem komplexen, rückbezüglichen Konglomerat von Wirkungszusammenhängen und surfen in einer unbekannten Zeit. Daher entscheidet die Entscheidung. Die Zurechnung von Entscheidungen auf (vermeintliche) Entscheider hat organisationstheoretisch ganz andere – kommunikative – Gründe. Dazu bei Gelegenheit mal ausführlicher an anderer Stelle.
Zeit – oder das Ende der Beherrschbarkeit
Dass Komplexität mit dem üblichen linearen Verständnis von Zeit – ein Punkt bewegt sich auf der Zeitachse – weder zu verstehen, noch zu gut zu bewältigen ist, hat sich eigentlich rumgesprochen. Nur was dieser Abschied von Linearität bedeutet, wird m.E. unglaublich unterschätzt. Dann sind es am Ende eben doch wieder Wirkungsketten, causal loops, Flussdiagramme, Verwechslungen von Korrelationen mit Kausalitäten u.v.a.m. was die Konzepte bestimmt und dominiert. Luhmann war dar radikaler als ihm selbst lieb war. Ihm war bewusst, dass Komplexität und Temporalität eng verknüpft sind und dass dies in das dunkle Gelände von Paradoxien führt: Die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, die Endgültigkeit des Vorläufigen, das Nacheinander des Gleichen, die Wahrheit des Irrtums, die Lügen aller Wahrheiten, die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, der Uneinigkeit im Konsens und die Verbindung im Konflikt – zu jedem dieser merkwürdigen Paare ließe sich ein Buch schreiben (zum Thema Finanzprodukte hat E. Esposito dies mal durchdekliniert: Zur Zukunft der Futures).
Es fällt uns mit der auf Eindeutigkeit ausgerichteten Denkart in unserer Kultur enorm schwer, Paradoxien überhaupt zu erfassen. Man landet allzuschnell bei den kleinen Schwestern und Brüdern wie Polaritäten, Ambiguitäten, Ambivalenzen, Dualitäten, Sowohl-als auch etc. Dabei unterschätzt man, wie grundlegend ein Zeitverständnis, das mit Linearität bricht, alles durcheinander wirbelt. Dann steht die Zukunft sowohl fest wie dass sie unbekannt ist, dann ist die Vergangenheit sowohl terminierend wie veränderbar, dann wird die wesentliche Leistung des Gedächtnisses das Vergessen (siehe H. v. Förster), dann entstehen „Welten ohne Grund“ (W. Vogt). Nietzsche schon spricht vom wahren Irrtum und wurde damit nicht verstanden.
Luhmann hat ein Denkerleben mit diesen Fragen gerungen und ich persönlich habe nicht den Eindruck, dass er damit so fertig geworden ist, wie er sich das gewünscht hat. Aber er hat vor den Schwierigkeiten in die das Denken und Handeln kommt, wenn es sich vom Zeitverständnis von Aristoteles und der Scholastik verabschiedet, nie die Augen verschlossen. In seinen Büchern und Texten finden sich sehr unterschiedliche Versuche die Paradoxien der Zeit in ihren Auswirkungen auf Kommunikation, Wissenschaft, Planung und die Gesellschaft zu erfassen. Eine Auswirkung war ihm allerdings sonnenklar: Erkenntnis macht blind zugunsten von Stabilität! Wer etwas erkennen will, der wird immer auch blind für Wahrheiten, die für ihn auch wichtig wären. Die Zeit ist so gebaut, dass eine Gesamterkenntnis der Welt ausgeschlossen ist. Sie hat ein Eigenleben, welches sich nur ausschnitthaft zu beherrschen, zu kontrollieren und zu befrieden ist. Das hat enorme „praktische“ Folgen. Eine der unbeliebtesten ist, dass es auf der Welt keinen Konsens geben kann, dem man nicht widersprechen kann und muss. Für Organisationen heißt dies, dass sie dauerhaft und endlos Konflikte bearbeiten müssen.
Die Idee einer Organisation ohne Konflikt ist so sinnig wie die Vorstellung von einem Organismus ohne Stoffwechsel.
Luhmann hat daher betont, dass ein Verständnis von Desintegration und Konflikt genauso wichtig sind, wie das von Integration und Einigung. Aber auch das ist nur eine der vielen Folgen, wenn man Zeit beginnt anders zu denken…
Theorie und Praxis – eine mehr als fragwürdige Brille
Das führt uns zum Abschluss zu einer Unterscheidung, von der ja auch so getan wird, als ob sie gottgegeben sei: Theorie und Praxis. Auch diesen Unterschied hat Luhmann als Unterscheidung behandelt, die Folgen hat, die sich beschreiben lassen. Theorie, Praxis (und damals noch Poesis) sind Begriffe der griechischen Philosophen. Sie beruhen im Wesentlichen auf zwei Annahmen:
- Der Mensch wird zum Menschen durch seinen Verstand, mit dem er Anteil hat an dem göttlichen Logos, welcher die Welt sich ausgedacht und dann gemacht hat. Man sieht damals schon: Erst Theorie, dann Praxis! Der Mensch ist hier zur Erkenntnis überzeitlicher Wahrheiten fähig und dazu muss er seinen Verstand benutzen. Diese Annahme macht damit die Fähigkeit Wahrheit zu erkennen, zu einer ausschließlichen Leistung des Verstandes. Gefühle, Sinneswahrnehmung etc. werden zu nachrangigen und zweifelhaften Informationsquellen. Dies – und nicht nur das meist damit verunglimpfte Christentum – war der Grund, warum sich im Abendland eine Leibfeindlichkeit breit machen konnte. Der Körper, die Sinne, die Emotionen können in diesem Verständnis nicht denken (=erkennen) und sind für Wahrheitsfindung eher schädlich, meist irrelevant. Liest man Luhmanns Kunsttheorie, findet sich dort ein brilliante Analyse der Bedeutung von Wahrnehmung für die Erkenntnis.
- Der Mensch wird in der griechischen Philosophie gleichzeitig gesehen, als von der Idee des Guten infiziert und ihr verpflichtet. Die Unterscheidung Gut und Böse ist die Handlungsleitlinie für die Praxis, das Tun. So gerät die Praxis unter das Fallbeil des Urteils von gut/böse oder richtig/falsch. Das Handeln findet sich im Felde des Eindeutigen, des Bestimmbaren wieder: Entweder etwas ist gut oder böse, richtig oder falsch. Darüber streiten sich die Gelehrten und quälen sich die armen Sünder, die nicht so recht wissen, was nun das Richtige ist. Sie müssen daher von den Wissenden (heute Wissenschaftler und andere Experten, früher der Klerus) unterwiesen werden. Es gibt dann eine richtige Praxis und diese muss möglichst verallgemeinert werden. So dachte selbst Kant mit seinem kategorischen Imperativ(!) noch: Die einzelne Handlung muss so sein, dass sie generalisierbar ist, also auf alle anwendbar. Das ist die denkerische Grundlage für Rezepte, Best Practice und So-geht-es-richtig-Expertenberatung. Aber will man wirklich heute(!) die Annahmen der griechischen Philosophie ungeprüft zur Grundlage des Handelns machen? Damit entscheidet man sich für die Unfähigkeit, die oben skizzierten Mehrdeutigkeiten zu handhaben. Statt dessen entsteht eine Kultur der Besserwisserei und Rechthaberei. Alle dienen ihrem eigenen (Erkenntnis-)Gott und führen Kriege.
Die Unterscheidung von Theorie und Praxis macht somit blind, dass jedem Handeln eine Erkenntnis zugrunde liegt und jeder (theoretische) Gedanke eine Handlung darstellt. Die in der Beraterszene übliche Frage „Was bringt mir das nun für die Praxis?“ übersieht, dass theoretische Überlegungen erst dann praxisrelevant werden (können), wenn es nicht die Theorie eines anderen ist, sondern die eigene! Man glaubt, Wissen importieren zu können. Das geht nicht. Wenn ich einen Vortrag höre, muss ich die Inhalte selbst denken (lernen), sonst ist er nicht praxisrelevant. Wenn ich aus einer Theorie eines anderen nur die Handlungsableitungen mir anschaue, dann werde ich zum Rezeptkocher und Gebrauchsanweisungsausüber. Aber ich habe weder eigene Theorie, noch eigene Praxis. Ich weiß weder, was ich tue, noch tue ich etwas, was ich verstanden habe. Darum ist vermeintlich leicht verständliche Theorie so enorm gefährlich! Sie erzeugt die Illusion etwas verstanden zu haben, ohne selbst wirklich denken zu müssen. Man muss sich nur etwas „merken“. Aber Gedächtnis erzeugt keine eigenen Gedanken. Dies führt zu einer unbewussten, also theorielosen Praxis, die sich damit begnügt irgendwas zu tun, das wirksam ist, aber nicht darlegen kann, was die wirklichen Licht- und Schattenseiten des gewählten Vorgehens sind.
Damit bin ich am Ende dieses dritten Teils angekommen. Ich freue mich, wenn auch dieser zum Denken und Tun anregt und das Problembewusstsein, dass alles Wichtige nicht so leicht zu haben ist, etwas gefördert hat. Luhmann hat bei mir jedenfalls dazu erheblich beigetragen. Auch dafür sind diese Artikel ein Dank.
Christine Gindert
… alles Wichtige ist nicht so leicht zu haben – Ihr Artikel macht es etwas einfacher, danke!