Seh ich was, was Du nicht siehst?
Menschen wie Teams wie Organisationen verändern sich – unter anderem – durch einen anderen Aufmerksamkeitsfokus. Wer sieht, dass er nicht sieht, was er (bislang) nicht sieht, fängt an sich zu verändern.
Aus diesem Gedanken folgt recht unmittelbar, dass Beratung dem Kunden Beobachtungen anbieten muss, die die Aufmerksamkeit des Kunden verändern. Partielle Blindheit nennt man alltagssprachlich Selbstverständlichkeiten. „Das ist so, muss so sein, ist so richtig, geht nicht anders!“ oder „Da wollen wir hin, das Ziel ist ohne Alternative, wir müssen das machen!“ Solche Selbstverständlichkeiten entwickeln sich, weil jeder Mensch, jedes Team, jede Organisation vergißt, dass es mal Alternativen gab, gegen die man sich entschieden hat. Weil man vergessen hat, dass es auch anders sein könnte (oder ggf. auch nie anders war), sieht man nicht, dass auch anderes möglich wäre. Viele Manager machen diese Erfahrung, wenn sie das Unternehmen wechseln und feststellen, dass manches dort ganz anders gelöst wird, als im alten Kontext. Der Verlust von Alternativen bedeutet aber immer auch einen Verlust an Freiheit, Anpassungsmöglichkeiten an andere Bedingungen und damit Erfolgs- und Überlebensfähigkeit.
Was brauchen nun Berater, um Selbstverständlichkeiten des Kunden als solche zu erkennen und nicht den Rahmen der Weltdeutung, den der Kunde benutzt, zu übernehmen? Sie brauchen – philosophisch gesprochen – eine Heuristik, also ein Schema, welches hilft etwas zu entdecken. Heureka heißt griechisch „Ich habe es gefunden!“. Wenn nun Berater entdecken sollen, was der Kunde ausgeschlossen und verworfen hat, dann sind Heuristiken hilfreich, die Entscheidungsalternativen schematisieren. Für Coaching etwa beispielhaft Fragen wie: Was reflektiert jemand und was hält er unbewusst? Was bejaht er und was lehnt er ab? Was zeigt er von sich und was versucht er zu verbergen? Was lässt er sich spüren und was unterbindet er in seinem Erleben? In Teams spielen Fragen eine Rolle wie. „Verändern oder halten wir unser Ziel stabil? Orientieren wir uns an den Anliegen der Organisation oder an den Wünschen der Mitarbeiter? Berücksichtigen wir Interessen oder lösen wir Probleme?“ In Organisationen sind wichtige Alternativen, ob man eher schnell oder gründlich ist, wer mit wem sich abstimmen muss oder nicht, ob man regelorientiert oder situationsspezifisch vorgeht, ob kontrolliert oder vertraut wird u.a.m.
Entscheidend bei den Heuristiken der Berater ist aus unserer Sicht immer, ob es wirklich Heuristiken sind (Es könnte so oder anders sein!) oder ob es Normierungen sind (Es muss so sein!). Wer selber weiß, was richtig ist, führt den eigenen blinden Fleck beim Kunden ein. Er kann selbst nicht sehen, dass es auch anders sein könnte. Wer dem Kunden eine beschreibende Heuristik anbietet, die gleichwertige Alternativen bereit hält, der lässt die Möglichkeit bestehen, dass die Wahl des Kunden durchaus richtig war und sich (vielleicht!) überlebt hat oder die Wahl des Kunden, wohin er sich verändern will, (vielleicht!) eine vorschnelle Aufgabe von Bewährtem ist. Der Berater kann – wenn er nicht wertet – sehen, was der Kunde aus seinem Möglichkeitsraum ausgeschlossen hat. Erst wenn zu etwas was praktiziert wird eine Alternative vorliegt, kann man zu beiden(!) Alternativen Vor- und Nachteil, Funktionales und Dysfunktionales erkunden. Wenn Beratung sieht, dass jede Wahl immer auch Nachteile mit sich bringt, dann kann sie dem Kunden auch helfen zu erkennen, dass Veränderung nie nur angenehm ist, dass man mit anderen Entscheidungen zu Lösungen kommt, die andere Probleme mit sich bringen. Dies hat auch den Vorteil, dass das, was der Berater sieht, nicht zwangsläufig als Kritik an dem verstanden werden muss, was der Kunde tut oder lässt.
Die Kunst der Beratung besteht also nicht zuletzt darin, dass man ein hochdifferenziertes Bild von den grundsätzlichen Möglichkeiten hat, die die Welt bietet. Dazu braucht es anspruchsvolle Theorie. Berater werden so zu den Anwälten der Möglichkeiten, die der Kunde noch nie gesehen hat, nicht sehen kann oder nicht sehen will. In allen Fällen ist der Berater der Hüter der freien Wahl. Seine eigenen Freiheitsgrade die Vielfalt der Welt zu sehen, bestimmen damit immer auch, die Möglichkeiten die er dem Kunden zur Verfügung stellen kann. Zugleich kommt mit Beratung wieder die strukturelle Überforderung ins Spiel, die allen Entscheidungen eigen ist. Wenn Entscheiden zwischen gleichwertigen Alternativen wählt, gibt es keine Sicherheit. Darum sind Entscheidungen in gewisser Weise unbeliebt. Wenn es mal entschieden ist, muss man sich keinen Kopf mehr drum machen. Wenn Beratung also auch darin besteht, Fässer wieder zu öffnen, die schon mal zugenagelt waren, darf sie nicht erwarten, immer willkommen mit dem zu sein, was sie auf den Tisch bringt. Aber genau das ist ihre Aufgabe:
Unsicherheitstoleranz statt Heilsversprechen ist also die Devise.