Warum viele mit Luhmann sich so schwer tun!
Hier nur der 2. von drei Teilen über schwierig zu verstehende Theorieelemente von Luhmann. Diesmal geht es um Kausalität, um Beobachtung und um Logik.
1. Kausalität – oder vom Ende der Objektivität
Das Thema Kausalität ist theorieseitig sehr belastet, weil das naturwissenschaftliche Verständnis von Kausalität so dominiert, dass alle Meinungen, die am Ursache-Wirkung-Denken zweifeln oder gar rütteln, schnell als unseriös gelten und in den Bereich der Esoterik abgeschoben werden. Dabei ist Luhmanns Kritik an diesem Kausalitätsbegriff zunächst relativ schlicht. Ihm geht es darum, darauf aufmerksam zu machen, dass Kausalität ohne die Aktivitäten eines Beobachters nicht auskommt. Das klingt erstaunlich, da der Alltagsverstand selbstverständlich der Auffassung ist, dass der Apfel vom Baum wegen der Schwerkraft fällt und dieser Vorgang nicht vom Beobachter abhängig ist. Das ist auch richtig und es wird in der Systemtheorie gar nicht angezweifelt, dass bei definierter Ursache eine klare und eindeutig definierbare Wirkung isoliert werden kann. Man nennt das im allgemeinen dann Versuchsanordnung, Experiment, Forschungsdesign etc. Was dabei aus systemtheoretischer Sicht ausgeblendet wird, sind die Anfangs- und Endprobleme. In dem Apfel-fällt-vom-Baum-Vorgang nachgezeichnet: Die Ursachen, die dafür verantwortlich sind, dass der Apfel in diesem Moment vom Baum fällt, sind nicht komplett bestimmbar: Temperatur, Jahreszeit, Windstärke, Nährstoffbeschaffenheit, Gärtneraktivitäten, Sonnenlicht, Vogelbesuche, usw.. Anderes Beispiel: Warum schreibe ich diesen Artikel? Kann ich alle meine Motive (Ursachen) wissen? Wenn ich es meiner Frau erkläre, dann wähle ich (willkürlich?) einige der mir bewussten Gründe aus, aber sind damit die Ursachen hinreichend geklärt? Conny Dethloff hat den Anstoss gegeben, klar! Aber warum hat er das getan? Und warum war diese Ursache für mich wirksam? Gleiches gilt nun für die Wirkung. Jeder Versuchsaufbau isoliert über das Messinstrument die Effekte, die gemessen werden sollen. Jedes Forschungsdesign definiert Faktoren, die als signifikant angesehen werden für die Wirkung, die untersucht werden soll. Aber lässt sich überblicken, welche Wirkungen unser Apfel am Boden anrichtet? Welche Mikroben dabei sterben, welche profitieren? Wer sich den Magen verdirbt oder auf dem Apfel ausrutscht? Oder – kann ich als Autor die Wirkungen dieses Artikels absehen?
Man sieht, die Auswahl der akzeptierten Ursachen und der in Augenschein genommenen Wirkungen ist notwendig und bedarf eines Beobachters. In genau diesem Sinn ist Kausalität nach Luhmann immer eine Konstruktion eines Beobachters, weil es eben einer Entscheidung bedarf, auf was man achtet und auf was nicht, was man für relevant hält und was nicht, welche Faktoren man fokussiert und welche man vernachlässigt. Am Anfang, wie am Ende. Hat man dies vor Augen, kann sehr wohl ein und der gleiche Vorgang mit ganz unterschiedlichen Ursachen erklärt werden und für ganz unterschiedliche Wirkungen verantwortlich gemacht werden. Das ist das alltägliche Leben. Im psychischen wie sozialen Kontext lassen sich daher – anders als bei Maschinen – keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Ketten aufbauen. Folglich:
- Wenn zwei Berater das Gleiche tun, ist es nicht das Gleiche,
- wenn einer zweimal das Gleiche zu unterschiedlichen Zeitpunkten tut, ist es nicht das Gleiche,
- wenn Zwei etwas Verschiedenes tun, dann kann es das Gleiche sein,
- wenn Einer Unterschiedliches in unterschiedlichen Kontexten tut, kann es das Gleiche bewirken.
Jeder weiß das – eigentlich. Aber trotzdem wird nach kontextfrei wirksamen (also isolierten) Interventionen, Change Designs und Best Practice gesucht, so als ob es diese Erkenntnisse nicht gäbe. Wiederholbarkeit, Eindeutigkeit, Objektivität, Personenunabhängigkeit, Reliabiliät, Validität gelten als Wahrheitskriterien in einer auf aristotelischer Logik aufgebauten naturwissenschaftlichen Denkwelt. Das nannte Luhmann alteuropäisch und sprach diesen Denkformen die Leistungsfähigkeit ab, mit komplexen Umgebungen günstig umgehen zu können. Das gilt für Psychotherapiewirksamkeitsforschung genauso wie für organisationale Change-Theorie oder Ideen für High-Perfomance-Teams: Die gleichen Merkmale führen angeblich zum gleichen Ergebnis. Alle wissen, dass das nicht stimmt, und dennoch führen die Rezept-, Ratschlags- und Sozialtechnologie-Bücher die Verkaufslisten an. Die „Theory-in-use“ ist monokausal, bisweilen auch bei systemtheoretisch gebildeten Autoren.
Wenn jedoch in sozialen und psychischen Kontexten multikausale Zusammenhänge, die nie vollständig abbildbar sind – weil dies die Leistungsfähigkeit eines jeden Beobachters übersteigen würde -, dann betreten Unsicherheit, Unerkennbarkeit und Ungewissheit das Spielfeld. Es gibt dann – wie Luhmann es formulierte – keine Durchgriffs-Kausalität. Es endet die Illusion der Beherrsch- und Planbarkeit, aber auch die Idee einer direkten Interventionsmöglichkeit in psychische wie soziale Systeme.
Dann braucht es eine Theorie (und Praxis) die mit Paradoxien, Ambivalenzen, Polaritäten, Mehrdeutigkeiten zurecht kommt, all das willkommen heißen kann oder sogar imstande ist diese Phänomene im Theoriedesign abzubilden.
Das hat Luhmann mit seiner Systemtheorie versucht, indem er Kausalität als Leistung des Beobachters rekonstruiert hat und nicht als objektives Geschehen. Es muss nicht so ganz verwundern, wenn in einer organisationalen und beraterischen Welt, in der Ziele, Pläne, Steuerung, Leistungsversprechen und Messbarkeit dominieren, sich viele mit einer Theorie, deren Versprechen in einer Vorliebe für Unsicherheiten besteht und die ungünstige Vereinfachungen aufdeckt, bisweilen schwer tun.
2. Beobachter – ist das ein Mensch oder was?
Der Punkt an dem sich Luhmann von Maturana und v. Förster wohl am deutlichsten unterscheidet ist zugleich derjenige, der sich vielen mit am schwersten erschließt. Es geht um das Konzept des Beobachtens. Fast zwangsläufig denkt man dabei erstens an Lebewesen und zweitens an den visuellen Sinn. So schreibt ja auch Lutterer in dem von Conny Dethloff geposteten Artikel „Augen her, Augen her!“ (Seite 9). Damit glaubt er Luhmanns Konzept zu kritisieren, dass auch soziale Systeme – also Kommunikationsprozesse – beobachten können. Aber es geht bei diesem Beobachtungsbegriff von Luhmann ganz und gar nicht um „Sehen“ sondern um Erkennen!
Wie ist so eine Aussage – Kommunikationssysteme können erkennen! – mit gesundem Menschenverstand vereinbar? Muss man das als Schrulle eines typisch vergeistigten Professors abtun? Ich denke ganz und gar nicht und ich behaupte, dass ohne ein solches Konzept von Beobachtung/Erkenntnis Organisationen sich sehr viel schlechter verstehen lassen. Also – was könnte damit gemeint sein? (Luhmannkenner mögen mir im Folgenden manches zugunsten von Verständlichkeit verzeihen).
Beobachtung ist für Luhmann der Gebrauch einer Unterscheidung. Im Beispiel: Ich komme in die Bäckerei und will ein Brot kaufen. Die Bäckersfrau beobachtet mich nun als Mensch und sagt „Hallo Herr Eidenschink!“, weil ich dort öfters einkaufe. Sie erkennt mich als Person. Wir plauschen ein wenig und am Ende bekomme ich ihr Brot, sie mein Geld. Ich gehe aus der Tür und die Bäckersfrau hat mehr Geld und weniger Brot und ich weniger Geld und mehr Brot. Da hat nun eine psychische Beobachtung stattgefunden, weil die Bäckersfrau mit Hilfe ihrer Wahrnehmung eine psychische Unterscheidung gemacht und mich aus den vielen anderen Menschen, die sie kennt, herausgefiltert und erkannt hat. Herr Eidenschink wird unterschieden vom Rest der Menschen. Aber diese Unterscheidung führt nicht zum Broterwerb! Es findet interessanterweise – ermöglicht aber nicht durch mich und sie – eine weitere Beobachtung statt.
Der Broterwerb (oder -verkauf) findet nämlich nicht dadurch statt, dass sich zwei Menschen begegnen und als Personen erkennen. Sondern die Verkäuferin und der Käufer geraten (in diesen Rollen) in ein Kommunikationsmuster – siehe Teil 1 der Serie -, welches die Unterscheidung Zahlung/Nicht-Zahlung nutzt. Der Käufer geht davon aus, dass er, wenn er Geld hat, ein Brot bekommt, und die Verkäuferin geht davon aus, dass sie Geld bekommt, wenn sie ein Brot hergibt. Dass beide (!), zeitgleich (!) einen (!) Preis (!) akzeptieren und eigentlich wertloses Papier für Brot eintauschen, liegt daran, dass sie am Kommunikationssystem Wirtschaft teilhaben. Die Bäckersfrau wie ich sind Umwelt dieses Kommunikationssystems und mit ihm fest gekoppelt. Ich kann natürlich versuchen die kommunikative Unterscheidung Zahlung/Nichtzahlung zu verweigern und das Brot rauben (Folge ist der Übertritt ins Kommunikationssystem „Recht“), oder die Bäckersfrau kann mir das Brot schenken, weil ich Geburtstag habe – in beiden Fällen bricht das Kommunikationssystem „Wirtschaft“ zusammen, weil keine Einkaufskommunikation mehr vorliegt. Die simple Situation des Broterwerbs ist also bei genauerer Betrachtung eine hoch voraussetzungsreiche Kommunikation, die viele Prämissen – funktionierende Märkte, Finanzwirtschaft, fälschungssicheres Geld etc – in sich birgt. Diese kann man untersuchen und verstehen und dann auch als Kommunikationssystem verändern, ohne dass die Bäckersfrau oder ich verändert werden müssten. Denn die Kommunikation „Brot gegen Geld“ ist kein Vorgang im Bewusstsein, sondern etwas „anderes“. Etwas ohne Ort, ohne Gestalt, ohne Stimme – aber eben und trotzdem durchaus wirksam.
In dem Beispiel spielen die beteiligten Personen noch eine große Rolle, weil die Kommunikation unter Anwesenden stattfindet und nur zwei Personen umfasst. Da kann man schnell die Akteursbrille aufsetzen und handelnde Individuen identifizieren. Aber mit etwas gutem Willen kann man an dem Beispiel vielleicht doch verstehen, dass diese Kommunikation ein Eigenleben hat und damit eine eigene Unterscheidung nutzt. Stellt man sich dieses Prinzip nun für ein größeres soziales System vor, dann kommt man der Luhmannschen These auf die Spur, dass in einem Gerichtssaal alle Anwesenden andere Mitteilungen machen und diese Mitteilungen anders verstanden werden, als im Parlament, wenn Gesetze gelesen werden oder im Hörsaal, wenn eine Vorlesung gehalten wird. Im einen Fall geht es um Rechtmäßigkeit, im anderen Fall um für alle verbindliche Entscheidungen, im letzteren um die Frage, ob eine These wahr ist. Es würde komisch sein, wenn im Hörsaal jemand die Verurteilung des Professors verlangen würde, weil er anderer Meinung ist. Soziale Kommunikationssysteme haben einen eigenen Operationsmodus. Das hat Luhmann ein Leben lang beschäftigt.
Angewandt auf Organisationen ermöglicht dieses Verständnis die Eigendynamik der dortigen Prozesse genauestens zu untersuchen und sich vom Verhalten und den Motiven einzelner Menschen zunächst zu lösen. Statt dessen operiert man mit der Einsicht, dass in unterschiedlichen Bereichen und Kontexten der Organisation unterschiedliche Beobachtungsmuster die jeweiligen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse leiten. Solche Beobachtungsmuster können z.B. sein: Karrieredienlichkeit/-schädlichkeit, Kunden-/Produktorientierung, Kontrolle/Vertrauen, Stabilisierung/Veränderung u.v.a.m. Auch eine Mischung unterschiedlicher kommunikativer „Beobachter“ (bitte jetzt nicht an Menschen denken) ist Alltag. Zum einen wird eine Standortschließung beschlossen, um das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen und zum anderen wird gleichzeitig beobachtet, ob der Vorstand diese Entscheidung lange „überleben“ wird (als Vorstand!).
Das ist natürlich für die allermeisten Berater praktischer Alltag. Aber mit einer kommunikativen Theorie, die vom psychischen System abstrahieren kann, lassen sich viele Phänomene klarer und prägnanter beschreiben. Zudem werden Menschen nicht ungünstig in ihren Einwirkungsmöglichkeiten überlastet oder wird vorschnell mit problematischen Wertungen operiert, die der Organisation oder einzelnen Vertretern (meist dem Management) Vorwürfe machen.
In Summe macht Luhmann also darauf aufmerksam: Beobachtungen machen sowohl psychische als auch soziale Systeme.
Beide bilden mit Hilfe der von ihnen benutzten Unterscheidungen Schemata aus, die dann Identität bilden und für Stabilität sorgen. Um Kommunikationsmuster zu verändern, ist diese Theorie sehr nützlich, weil sie solche Muster (menschenfrei) beschreiben kann und über Kommunikationen zu diesen Mustern Veränderungen bewirken kann. Luhmann nannte das Beobachtung 2. Ordnung (Mehr dazu findet man in unserem Portal hier).Das ist bei Systemen, die z. B. aus 200000 Menschen „bestehen“ auch nötig, da man nicht zeitgleich so viele Menschen verändern kann…
3. Zweiwertigkeit – oder die Last mit richtig versus falsch!
Die große Not unserer Kultur lässt sich in gewisser Hinsicht auf die aristotelische Logik zurückführen, die bis heute die Basis des wissenschaftlichen Diskurses ist. Es gibt richtig oder falsch – ein dritter oder gar vierter Wert ist nicht vorgesehen. Viele prominente Versuche alternative Logiken einzuführen sind gescheitert, wiewohl z. B. die Quantenphysik ohne eine Logik zeitlicher Aussagen nicht zu begründen ist, wiewohl die Paradoxien der Erkenntnis mit richtig und falsch nicht zu verstehen sind und das Gödelsche Unvollständigkeitstheorem selbst für die Logik angewiesen hat, dass sie sich nicht selbst begründen kann, sondern von axiomatischen Setzungen ihren Ausgang nehmen muss. Weder Hegel, noch Nietzsche, noch Wittgenstein, noch Günther, noch Spencer Brown, noch von Weizsäcker, noch Kähr oder Goldhammer – um nur einige zu nennen – haben sich bislang durchsetzen können. Luhmann entzog sich dieser Schwierigkeit, in dem er schlicht seinerseits eine axiomatische Setzung vornahm: „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt“ schreibt er und wurde dafür vielfältig kritisiert. Was damit gemeint ist, ist dass niemand den eigenen Anfang begründen kann. Niemand kann wissen, was etwas ist, bevor es seinen Lauf genommen hat. Bewegung ist grundlegender als Vorhanden-Sein. Die Rückbezüglichkeit, die Systeme – kybernetische wie biologische – ausmacht, braucht Zeit. Zeit ist aber in der klassischen Logik gar nicht vorgesehen. 2+2=4 egal wer rechnet, wann gerechnet wird, wo gerechnet wird. Aber gilt das auch für die Frage, wodurch Beziehungen glücken, wie sich Organisationen bilden, wie Teams gut zusammenarbeiten? Ist das auch zeitüberdauernd, orts- und kulturunabhängig gleich? Eigentlich weiß jeder – nein! Dennoch gilt Wissenschaft dann als wahr, wenn sie Erkenntnisse liefert, die für jedermann gleich sind, wiederholbar sind und überall auf der Welt gelten. Man sieht, die klassische zweiwertige Logik, in der für den, der rechnet, oder für die Zeit kein Platz ist, beherrscht viel Dialoge.
Das bedeutet nun allerdings nicht, dass jeder das für wahr halten kann, was er will. Damit würde Kommunikation ersterben und die Möglichkeit sich in einer gemeinsamen Realität zurechtzufinden zunichte werden.
Wenn Logik in Bewegung kommt, wird sie reflexiv. Dann gibt es keine Organisation mehr, sondern einen Prozess des Organisierens (K.Weick), dann gibt es kein Team mehr, sondern es teamt, dann gibt es kein menschliches Wesen mehr, sondern ein menschliches Werden (wie Lutterer so schön zitiert).
Und diese Prozesse sind weder beliebig, noch willkürlich.
Dieser Denkart des Flüssigen, des Beweglichen, des Vorläufigen, des Vagen, des Nicht-Definierbaren hat Luhmann versucht eine theoretische Grundlage zu geben, indem er die Selbst-Herstellung (Autopoesis) aller Systeme unter die Lupe genommen hat. Dann kommt man aber an Paradoxien und damit an einer Entscheidungstheorie und einem Verständnis von Zeit nicht vorbei. Diesen Themen von Luhmann gehe ich im abschließenden 3. Teil nach.
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