Klaus Eidenschink
Menschen sind nicht fälschungssicher
„Wie verändern sich Menschen? Teil 1/10“
Dies ist der Start einer Serie, die sich mit den Fragen rund um menschliche Veränderung beschäftigt. Dabei stelle ich immer mal wieder Bezüge zu Coaching, Organisationsentwicklung und Arbeiten im Team her. Im Kern geht es aber oft auch darum, wie mit guten Absichten und guten Mitteln schlechte Wirkungen erzielt werden, wenn Menschen den Versuch starten, sich ändern zu wollen. Mit Veränderung ist dabei nicht der Aufbau neuer Fertigkeiten oder Kompetenzen gemeint – das wäre Lernen -, sondern die Änderung emotionaler, willentlicher oder gedanklicher Routinen, Muster und Reflexe.
Wer als Berater, Coach oder Therapeut Veränderungsunterstützung als Dienstleistung anbietet, braucht ein Verständnis von Veränderung. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man davon ausgeht, dass lebende Systeme – wie die Seele – ständig aus sich heraus etwas wollen oder ob sie zu etwas „gebracht“ werden müssen (was sie wollen sollen). Wenn man Letzteres annimmt, dann muss man sich „formen“. Man muss dann in die Seele – wie bei einem Navigationsgerät – Zielen eingeben, damit sie dort landet, wo sie hin soll. Wenn sie sich „verfährt“, muss sie auf Kurs gebracht oder repariert werden. Das macht die Sache (= das Leben) in gewisser Hinsicht übersichtlich: Mach was aus Deinem Leben!
Der konzeptionelle Ausgangspunkt dieser kleinen Artikelserie ist ein anderer. Um diesen zu pointieren, beginne ich zunächst mit einer vielleicht etwas merkwürdigen These:
Dass Menschen sich um ihre Veränderung kümmern müssen, ist ein Irrglaube. Sie verändern sich von ganz allein oder sie verhindern ihre Veränderung (=Stabilisierung), indem sie mit dem Vertrauten weitermachen wie bisher.
Oder mit Arnold Beisser:
„Veränderung geschieht, wenn man wird, was man ist…“
Menschen sind Vorgänge, keine Dinge. Sie entwickeln sich und wenn nicht, dann nutzen sie ihre Energie um ihre Stagnation zu erzeugen. Auf der Grundlage dieses Gedankens werde ich mich in dieser Artikelserie also mehr mit der Frage beschäftigen, was wohl die Gründe sein mögen, warum Menschen ihre seelische Veränderung blockieren, insbesondere und gerade dann, wenn sie unzufrieden oder unglücklich sind.
Wenn Veränderung das Normale ist, dann muss man den (seelischen) Stillstand erklären und bearbeiten können. Nicht „Wie schaffe ich es keine Angst mehr zu haben?“, sondern „Wie schaffe ich es, Ängste in mir zu erzeugen und stabil zu halten?“. Nicht „Wie komme ich zu mehr Selbstvertrauen?“, sondern „Wie untergrabe ich mein Selbstvertrauen?“. Nicht „Wie gehe ich mit meinem Ärger um?“, sondern „Wie schaffe ich es mich zu ärgern?“.
Menschen müssen von klein auf mit günstigen und ungünstigen Bedingungen zurecht kommen. Wir stellen uns so auf die jeweilige Umwelt ein, dass wir möglichst Lustvolles erleben und Schmerzhaftes vermeiden. Dies geschieht, indem wir Erwartungen ausbilden: „Was geschieht, wenn …?“. Diese Erwartungen bilden stabile Muster und geben uns Orientierung. Damit man sich an diesen Erwartungen orientieren kann, muss man erstens lernen, das in sich zu verhindern, was zu schlechten Ergebnissen führt. Einfach gesagt: Man hemmt innere Impulse. Zweitens muss man liefern können, was zu guten Ergebnissen führt. Wiederum einfach gesagt: Man zeigt sich so, wie gewünscht.
Diese beiden Fähigkeiten – Unerwünschtes unterdrücken und Erwünschtes designen – kann man nun ein Leben lang für Veränderungen nutzen. Der Nachteil dieser Veränderungsstrategien ist jedoch, dass man beim Unterdrücken sich selbst verstümmelt und beim Designen ein Ideal von sich produziert. In beiden Fällen lebt man nicht mehr sich selbst und kann sich daher auch nicht mehr lieben – sondern nur noch toll finden oder ein Leben lang an sich herummäkeln.
Man kann also wirklich ein anderer werden, als man ist – das geht überraschenderweise! Menschen sind nicht fälschungssicher. Beide obigen Strategien orientieren sich – im Stil eines Kindes – am Äußeren. Wer bestimmt, was sein darf oder sein soll? Es sind dies die anderen, die Partner, die Freunde, die Eltern, die Vorgesetzten, die Gruppe, die Kollegen, die Mode, die Werbung,Vorbilder, Helden, die Leute, denen man imponieren möchte oder die es vermeintlich „geschafft“ haben usw.
So bleibt man – scharf gesprochen – psychisch Kind und verliert seine Autonomie. Die Orientierung für das, was man möchte, gründet nicht mehr in der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse. Statt dessen hemmt man seine Bedürfnisse, ganz oder zum Teil, weil sie mit Schmerz, Scham, Schuld oder Enttäuschung verknüpft sind. Oder man geht Ersatzbedürfnissen nach, die die innere Leere füllen, die man vorfindet, wenn man sich nicht mehr spürt. Ersatzbedürfnisse erkennt man daran, dass sie kein Maß haben. Man wird nie satt, braucht immer mehr davon. Die wichtigsten dieser Ersatzbedürfnisse sind Bewunderung, Macht, Besitz, Erfolg, Karriere, Arbeit, Leistung, Anhängerschaft, Drogen. Menschen können sich unglaublich im Hinblick darauf, was ihnen gut tut, irren. Diese Irrtümer sind immer Folgen von erlebten Nöten und sind meistens mehr als gut gedanklich abgesichert: „Das tut man nicht!“, „Das geht gar nicht!“, „Das muss so sein!“, „Das ist doch geil!“, „Ohne dem geht es nicht!“, „Das muss man doch erwarten dürfen!“, „Das ist gefährlich!“, „Das nutzt eh nichts!“ und hunderttausend andere Sätze sichern die Stagnation ab. Kognitiver Beton, der sich als Wert, als Pflicht, als Wahrheit verkleidet.
„Werde die beste Version deiner selbst!“ ist ein in letzter Zeit propagierter Satz. Das ist durch und durch destruktiv und der Beginn einer narzisstischen Karriere. Selbstoptimierung klingt sinnvoll. Wo ist das Problem? „Designer-Ziele“, die man sich aussuchen kann, sind zu allermeist einleuchtend: Wer kann etwa gegen Erfolg, Anerkennung, Leistungsfähigkeit, Karriere, Zielerreichung, Genuss, Spass oder Vergnügen sein? All das kann in seiner seelischen Funktion wunderbar und erfüllend sein oder aber schrecklich und täglicher Terror (der nicht als solcher erlebt wird).
Ob obige Ziele eine problematische psychische Funktion darstellen, lässt sich sehr leicht feststellen: Man muss sich nur fragen, ob man etwas will oder ob man etwas haben oder darstellen muss! Der entscheidende Unterschied ist der innere Zwang.
Wer etwas will und auch dann gut damit zurechtkommt, wenn es nicht klappt, der muss sich keine Sorgen machen. Wer davon abhängig ist, welchen Besitz er hat, welche Position er einnimmt, welche Leistung er erbringt, welche Anerkennung er bekommt, der sollte sich reflektieren, welche Funktion diese Ideale (=Designer-Ziele) für ihn haben. Selbstoptimierung als Aufgabe ist eine besonders unauffällige und besonders infame Form der Selbstdestruktivität.
Wenn man nun fragt, ob und wie sich diese ungünstigen Formen der Veränderung – Abtrainieren und Designen – verändern lassen, dann sind die Antworten: Ob? Ja, das geht! Wie? Das ist anspruchsvoll!
Warum ist es schwierig von einmal etablierten Mustern der Selbst-Manipulation abzulassen? Diese Antwort ist relativ einfach: Es ist schwierig, weil das nicht ohne unangenehme Gefühle wie Angst, Schuld, Scham, Ekel, Wut, Hass, Trauer, Verachtung oder Schmerz geht. Und es ist schwierig, weil es sehr häufig nicht alleine geht. Muster, die sich gebildet haben, weil man in bestimmten Zuständen oder Situationen allein war, lassen sich eben schlecht neuerlich allein unterbrechen. Man braucht ein Gegenüber.
Kleines Beispiel von letzter Woche: Ein erfolgreicher Unternehmer ist wegen Burnout und Depressionen im Coaching. Er beginnt nach ein paar Sitzungen zu spüren, wie ihm nicht nach Besitz, sondern nach Musik (machen) zumute ist, und er sich mit dem Gedanken beschäftigt, das Unternehmen zu verkaufen, um dann entspannter angestellt zu arbeiten (Der Gedanke, er könnte lernen so zu arbeiten, wie er Musik macht, ist Lichtjahre entfernt). Als ihm aber einfällt, dass er seiner Frau dann nicht mehr so viel bieten könnte und er zu fürchten beginnt, dass sie und die Kinder jeden Respekt vor ihm verlieren würden, wenn er nicht mehr der ‚“große starke Typ“ ist, verwirft er zunächst alle Überlegungen. Der Schmerz des Verlassen-Werdens und der Zwang sich für andere verantwortlich zu fühlen, überwältigen ihn. Es fällt ihm nicht leicht, sich auf einen inneren Zustand einzulassen, in dem er seine lebenslange Überforderung spürt. Er beginnt zu merken wie früh er angefangen hat, stark und eigenständig sein zu müssen. Er sagt dann: „Ich war schon im Laufstall Unternehmer. Das Produkt war „Niemandem zur Last zu fallen und so zu sein, dass andere stolz auf einen sein können!“. Man sieht – Abtrainieren und Designen kann früh einsetzen.
Günstige seelische Veränderungen geschehen – wenn sie geschehen – durch (aktives und gewolltes) Zulassen, nicht durch Machen und Tun. Vor allem durch Zulassen von o.g. Gefühlen wie Angst und Schmerz. Nicht als Selbstzweck, nicht um Anzuklagen, schon gar nicht um nur wieder zu Leiden, sondern weil an diesen unangenehmen Gefühlen der Zugang zu den gehemmten Bedürfnissen zu finden ist. Das ist wichtig, denn es sind die aufgegebenen und gehemmten Sehnsüchte und Bedürfnisse, die der Seele eine Orientierung geben, was gerade wichtig und nötig ist. Zudem erlauben Bedürfnisse – im Gegensatz zu Verboten und Idealen – frei zu sein. Bedürfnisse lassen sich regulieren, befriedigen, aber auch frustrieren und dosieren. Sie haben ein Maß und einen Kontext. Sie stiften Kontakt und lassen uns auf die Welt – und nicht auf Konzepte – reagieren. Mehr dazu HIER
Seelische Freiheit kann man nicht machen, man kann sie nur zulassen. Zulassen bedeutet, dass man sich innerlich dem zuwendet, was innerlich spürbar ist.
Beenden der Stagnation läuft über Spüren, nicht über Denken.
Daher werden die Stichworte Aufmerksamkeit, Selbstwahrnehmung, Spüren und Resonanz in den kommenden Wochen in dieser Serie immer wieder Raum einnehmen. Schon beim nächsten Mal wird die Überschrift sein: Wer nicht spürt, wie er ist, kann nicht wissen, was er will…
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Ausführlicher ist diese integrative Psychologie dargestellt im neuen Buch von Gehard Roth und A. Ryba: Klaus Eidenschink, Ohne Integration ist alles nichts. Skizze einer Metatheorie der Psychodynamik, in: G. Roth/A.Ryba, Coaching und Beratung in der Praxis: Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell, Klett-Cotta, Stuttgart, 2019