Klaus Eidenschink
Wer nicht spürt, wie er ist, kann nicht wissen, was er will!
Kann man durch Denken herausfinden, was man will?
Viele meiner Coaching-Klienten kommen zu mir, weil sie Hilfe wollen, um Orientierung in wichtigen Fragen zu finden. Egal ob es eine mögliche neue Stelle ist, eine angebotene andere Aufgabe, Probleme mit Kollegen oder Mitarbeitern, die Suche nach dem Sinn des Tuns, die Ausarbeitung einer neuen Strategie oder eines Geschäftsmodells – immer ist die Frage im Spiel: Was will ich (eigentlich)? Und die allermeisten meiner Klienten haben über diese Frage immer schon ausgiebig nachgedacht. Sie suchen die Antwort auf das Ziel der Veränderung mit Hilfe des Werkzeugs „Denken“. Sie wollen das Richtige für sich wissen! Aber vielleicht liegt darin schon ein Problem?
Schaut man sich den Satz: „Was will ich?“ genau an, dann kommen in diesem Satz drei Wörter vor: Was, will und ich.
Mit dem Wunsch nach Wissen fokussiert man auf das „Was“! Die Idee ist, wer das „Was“ kennt, hat sein Problem gelöst. Und das „Was“ findet man durch Nachdenken. Das ist aber zuallermeist eine Illusion, weil Denken immer in ein Pro und Contra führt: Was spricht dafür, was dagegen. Würden kleine Kinder nach dem Frühstück so verfahren, käme nie ein Spiel zustande. Pläne und Ziele sind per se immer reflektierbar. Auf diese Weise ist grundsätzlich sichergestellt, dass Denken nie zum Ende kommt – außer man beendet es willentlich. Hat man sich für ein denkerisch erzeugtes „Was“ entschieden, bedeutet das nun aber nicht, dass man das ausgedachte „Was“ auch tun will. Wissen heißt nicht tun! Darauf komme ich weiter unten zurück.
Welches „Ich“ spricht?
Das eigentliche Hauptproblem in dem Satz „Was will ich?“ ist jedoch oft das Wort „Ich“. Wer spricht da? Naiverweise gehen viele Menschen davon aus, dass sie wüssten, wer spricht, wenn sie das Wort „Ich“ benutzen. Dieser Irrtum fällt oft jahrelang nicht auf, weil sie sich mit ihrem bewussten Denken verwechseln.
So kommt es zu dem Phänomen, dass Menschen ihr Leben auf der Basis von „Ich bin meine Überzeugungen, meine Ansichten und tue, was meinem bewussten Ich gefällt“ leben. Aber das Motto „Tu, was Du willst!“ wird dann verwechselt mit „Tu, was Deinem Denken zugänglich ist!“. Der Wille wird vom Einfall – also dem bewussten Denken – bestimmt.
Eine der Folgen: Probleme werden konsequenterweise als Verhaltens- und Handlungsprobleme angesehen. Die Auffassung ist, wenn man erstmal weiß, was richtig ist, hat man anschließend dieses Richtige zu tun. Meine Klienten denken deshalb oft, sie hätten ein Handlungsproblem, weil sie wissen, was richtig ist, es aber nicht umsetzen. Frage ich dann aber nach, stellt sich oft sehr schnell heraus, dass das „eigentliche“ Problem in eingeschränkter oder fehlender Selbstwahrnehmung liegt. Ein Großteil ihrer „Ichs“ findet sich in dem Satz „Was will ich?“ überhaupt nicht wieder! Es fällt solchen Klienten schwer, auf Fragen wie „Was spüren Sie, wenn Sie mir darüber erzählen?“, „Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn Sie den Job bekämen?“ oder „Was erleben Sie in sich, wenn Ihr Chef Sie kritisiert?“ zu antworten. Oft kommt ein „Es fühlt sich gut/schlecht an!“ als Antwort. Aber weder „gut“ noch „schlecht“ sind ein Gefühl. Es sind lediglich Bewertungen eines Empfindens, welches für sich diffus bleibt. Frage ich nach, was sich gut oder schlecht anfühlt, bleibt die Antwort zunächst oft aus. Daher – wer wenig von sich spürt, kann oder muss sich (aus-)denken, was richtig ist! Das jedoch ist in gewisser Hinsicht beliebig, in jedem Fall aber immer reflektierbar.
Darüber, wie wichtig Gefühle für Entscheidungen sind, ist viel geschrieben und geforscht worden. (siehe etwa das Büchlein von M. Storch, Das Geheimnis kluger Entscheidungen, oder A. Damasio, Ich fühle, also bin ich). Das muss ich hier nicht referieren. Dieser Zusammenhang – ohne emotionale und körperorientierte Selbstwahrnehmung keine klugen Entscheidungen und kein orientierungstiftendes Selbst – ist eminent gut erforscht und belegt. Nur über Selbstwahrnehmung entsteht ein Zugang zu (echten) Bedürfnissen und nicht zu Ersatzbedürfnissen. Da erstaunt es doch, wie wenig dieses Wissen im Management, in Entscheiderteams und in Führung Berücksichtigung findet. Hier sind es dann doch oft die vermeintlichen Fakten, welche die Ängste der Beteiligten tarnen und damit schlechte Entscheidungen begünstigen.
Spüren wird gern vermieden
Im Coaching wiederum sind Methoden nicht so selbstverständlich, die die bewussten Ziele der Klienten hinterfragen und mit den latenten Mitteilungen des Klienten arbeiten – also Körpersprache, Mimik, Atemmuster, Klang der Stimme, Muskelspannungen und -verhärtungen, Blickkontakt etc. Aber genau in diesen Aspekten des Selbstausdrucks verbergen sich die ausgeblendeten Selbstwahrnehmungen und die dazugehörigen „Teil-Ichs“, die an den bisherigen Zielfindungsversuchen gar nicht beteiligt waren.
Wenn ein größerer Teil der (möglichen) Selbstwahrnehmungen gar nicht im Spiel ist, kann die Antwort auf die Frage „Was will ich?“ und „Welche Ziele tun mir gut?“ kaum mehr wirklich verlässlich sein.
Das führt zurück auf den Punkt oben, dass wer das „Richtige“ weiß, nicht unbedingt auch in der Verfassung ist, dass er es ausdrücken und tun will. Woran hängt dieses Umsetzungsproblem? Das lässt sich anhand des bislang Ausgeführten ganz einfach sagen:
Ohne umfassende Selbstwahrnehmung kann niemand sich sicher sein, ob er das, was er denkt, was er will, er auch emotional will.
Abgewehrte und abgespaltene Ängste tun nämlich im Untergrund ihre Arbeit. Wer die Teile des „Ichs“, die dem denkerisch-gewollten Ziel entgegenstehen, nicht spürt, der hat den Gegner des Ziels bei sich zu Hause. Und dieser Gegner ist mächtig. Das äußert sich dann so: „Eigentlich weiß ich (Ich Nr.1), was ich will, aber ich (Ich Nr. 2) tue es nicht!“ Mit diesem Kampf in sich, wird Handeln schwierig. Man gibt schnell auf, zweifelt, hat zu wenig Energie und Kraft, nimmt Rückschläge und Schwierigkeiten zu ernst usw.
Wer das Bedürfnis spürt, welches hinter dem Ziel steckt, der tut das, was er will. Er hat kein Umsetzungsproblem. Wer ein Ziel verfolgt, das nicht einem echten und gespürten Bedürfnis entspringt, der wird bei Erreichen des Ziels sich eher leer oder – im Gegensatz – großartig fühlen, aber er wird nicht in der Tiefe zufrieden sein. (Zum Thema warum großartige Gefühle oft ein Problem darstellen, wird es einen gesonderten Artikel geben). Jedes Tun, das nicht im Dienst des eigenen Seins steht, ist beliebig austauschbar. Man wird zum Söldner von erdachten Ersatzbedürfnissen.
Zufriedenheit erwächst aus einer Sättigung mit dem, was innerlich nährt – und nicht aus dem, von dem man glaubt, dass es toll ist oder sicher macht oder Erfolg bringt oder…! Je weniger man spürt, desto mehr ist man anfällig für destruktive Ideale.
Angst, Schmerz, Schuld und Scham
Ohne umfassende Selbstwahrnehmung kann niemand wissen, was er will. Intelligenz schützt nicht vor einem verfehlten Leben. Ohne Selbstwahrnehmung kein Glück und kein Sinn. Das kann ich hier in meinem Coachingraum täglich beobachten. Wie ist das zu erklären? Wieso wollen so viele Menschen mit ihren Emotionen und körperlichen Empfindungen nichts zu tun haben? Warum ignorieren sie, wie verspannt, verbissen und verkrampft sie sind? Warum zeigen sich gerade äußerlich erfolgreiche Menschen oft so kühl, kalt und distanziert?
Auch das ist letztlich schnell erklärt. Für viele Menschen sind Gefühle spüren und Unangenehmes spüren gekoppelt. Viele waren ungünstigen äußeren Bedingungen ausgesetzt, etwa Eltern,
- die emotional unerreichbar waren,
- die genau wussten, was gut für ihr Kind ist,
- für die das Kind Lebensinhalt oder Lebenserschwernis war,
- die mit sich selbst genug beschäftigt waren,
- die chronisch miteinander im Streit lagen,
- für die nur Leistung zählte,
- die mit Sucht oder Traumatisierungen zu kämpfen hatten.
Das sind nur ein paar Beispiele. An keinem geht so etwas spurlos vorüber. Das Gemeinsame ist immer, dass man mit schlimmen Gefühlen wie Angst, Schmerz, Schuld oder Scham allein war. Und wer mit solchen Gefühlen allein gelassen wurde, der hört sinnvoller Weise auf, an den entsprechenden Stellen seine Selbstwahrnehmung aufrecht zu erhalten. Man kann emotional den Vogel Strauß abgeben: Das Spüren in den Sand stecken und schon kommt man klar. Nur die Orientierung ist weg. Um diese wieder zu finden, führt an einer Auseinandersetzung mit solchen „Aua“-Gefühlen kein Weg vorbei. Sie geben wie nichts sonst Auskunft darüber, welche Muster unser gegenwärtiges Leben bestimmen und Veränderungen unterbinden. Emotionale Muster sind hyperstabil.
Wer anfängt sich wahrnehmend auf sich einzulassen, findet meist recht schnell Empfindungen, die nicht angenehm sind. Aber genau an diesen Empfindungen hängen die Aspekte des „Ichs“, die man wiedergewinnen muss, will man wieder der werden, der man immer schon war:
Ein empfindsames Wesen, das merkt, was gut tut und was nicht.
Will man Aua-Gefühle nicht spüren, die sich in der Vergangenheit gebildet haben und die Gegenwart unbemerkt prägen, verliert man in Teilen die Orientierung, die man in einer hoch individualisierten, hyperkomplexen Gesellschaft unbedingt braucht.
Insbesondere erzeugt man aber durch Vermeiden von unangenehmen Gefühlen in Beziehungen permanent Konfliktpotentiale. Darum wird es dann im dritten Teil gehen, der die Überschrift tragen wird: „Ich möchte, dass Du…!“
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.