Klaus Eidenschink
Das Leben ist an allem schuld!
– Der leidstiftende Wunsch nach einer heilen Welt und der heillose Bedarf die Bösen zu finden –
Wie kommt es, dass das Anklagen, Verurteilen und Richten anderer eine solche Attraktivität für so viele Menschen hat? Warum brauchen so viele Menschen Schuldige? Angesichts der Flut an Anklagekommunikation, die sich gegenwärtig lesen und hören lässt, drängt sich die Annahme geradezu auf, dass die Klärung von Schuldfragen, die Identifikation von Schuldigen und die Feststellung, wer die Bösen sind, möglicherweise mehr den Anklägern dient als der Verbesserung der Verhältnisse. Der folgenden Text analysiert die seelischen Funktionen von Beschuldigungen und reflektiert die Gründe, warum viele glauben, eine bessere Welt erreichen zu können, wenn man die „Bösen“ bekämpft.
Vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse
Im Grunde ist es sehr erstaunlich, dass der Glaube etwas sicher zu wissen, sich so verbreitet hat. Denn einer der Grundmythen unserer Kultur ist die Vertreibung aus dem Paradies. Der Grund für die Vertreibung war, dass Adam einen Apfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aß. Er maßte sich an, eine Beurteilungsposition einzunehmen, die nicht an ihn selbst gebunden ist, sondern quasi außerhalb der Welt angesiedelt ist. So beurteilen können wie Gott, das war das Versprechen der Schlange: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“.
Das Leid der Menschen begann gemäß dieser Erzählung mit dem Verlust der Demut im Hinblick auf das eigene Erkenntnisvermögen. Alles, was gesagt wird, wird von jemandem gesagt. Wer etwas für gut hält, spricht immer für sich. Es ist unglaublich verführerisch – so sagte es N. Luhmann einmal – die Unterscheidung von Gut und Böse zu gebrauchen und sich dabei dann auf die Seite des Guten zu stellen. Ist man historisch etwas gebildet, kann man wissen, dass besonders leidbringende Taten – Völkermorde, Kriege, Hexenverbrennungen, Kreuzzüge, Folterungen, Ausschaltung Andersdenkender – sehr häufig im Namen der Guten und Selbstgerechten stattfanden. Wer Gründe hat, sich selbst gut zu finden, der hat eben auch meist Gründe andere als schlecht, falsch oder böse anzusehen.
So ist es interessant zu beobachten, dass die Coronakrise offensichtlich auch das Potential hat, dass „gut und böse“ als Kommunikationsmittel gerade eine steile Karriere machen. Das fällt besonders auf, wenn politisch Andersdenkenden das moralische Abitur abgesprochen wird. Es fällt auf, wenn plötzlich Denunziation unter Nachbarn üblich wird, wenn Autoren wissen, warum die Welt, so wie sie ist, ganz schlimm ist, oder wenn Kommentatoren vermeintliche oder wirkliche Profiteure der Krise identifizieren. Aber es fällt eben auch auf, dass in Summe so viele glauben, dass eine Verbesserung der Welt für alle mit ein bisschen gutem Willen möglich sei. Die Begriffe, die dann vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse fallen, sind vielfältig: Macht, Ungleichheit, Hierarchie, Kapitalismus, Wachstum, Ausbeutung u.v.a.m..
Dabei wird leicht übersehen, dass jeder, der recht haben will, jemanden braucht, der unrecht hat. Andernfalls müsst man ja gar nicht miteinander reden. Es wird selten darüber diskutiert, ob 2+2 wirklich 4 ist. Das Ringen um passende Entscheidungen und vorübergehend verbindliche Wahrheiten ist endlos und unerschöpflich. Es macht nun allerdings einen gewaltigen Unterschied, wenn es nicht mehr um Richtigkeit oder Passung, sondern um das Gute geht. Es verändert etwas im Grundsatz, wenn nicht mehr das Reduzieren von Ungünstigem, sondern das Ausmerzen von Bösem das Ziel ist. Warum kommt diese zusätzliche Unterscheidung ins Spiel? Wozu braucht es diese Verschärfung in der Kommunikation? Warum die Lust am scharfen Konflikt in der Klärung darüber, wer der Gute und wer der Böse ist? Über die psychologischen Gründe – es gibt andere – soll es nun im Weiteren gehen.
Der vierfache Nutzen der moralischen Anklage
Je mehr Unglück, Angst, Leid und Schmerz im Wahrnehmungsfeld von Menschen sind, desto größer ist der Sog, nicht nur Unglück, Angst, Leid und Schmerz zu lindern, sondern die Verursacher oder die Ursachen anzuklagen. Eigentlich wäre ja ersteres ausreichend. Was nützt die Anklage, die einen selbst ins Recht und andere ins Unrecht setzt? Ich sehe vier wichtige seelische Funktionen, die durch Moralisierung bedient werden.
1. Intoleranz für Leid
Ein ebenso sympathischer, wenn auch sehr problematischer Hintergrund warum Menschen zum Moralisieren und Anklagen neigen, ist, weil sie (menschliches) Leid nicht gut ertragen können. Daher darf oder soll nicht sein, was sie innerlich in die Bredouille bringt. Sieht jemand beispielsweise, dass ein anderer ungerecht ist, sein Kind anschreit, andere missachtet oder Vergleichbares, dann kann es sein, dass er selbst schmerzliche Erfahrungen mit Benachteiligung, mit der Aggression anderer oder mit Vernachlässigung gemacht hat. Dieser innere Schmerz lauert – weil nicht gut verarbeitet – wie ein Monster im Schrank. Er droht hervorzukommen, wenn man mit der Not und dem Schmerz anderer Menschen konfrontiert ist. Solche Beobachtungen könnten das eigene Leid, früher einmal das Opfer fremder Aggression gewesen zu sein, ins Bewusstsein holen. Darum muss einerseits fremdes Leid möglichst verhindert werden. Das kann durch Wegschauen oder Weghören erreicht werden. Aber wenn dies nicht möglich ist, dann greift das Muster, dass an Leid immer jemand schuld ist. Die (implizite) Überzeugung ist: Jedes Leid ist durch einen Täter verursacht und diesen Täter muss man an den Ohren ziehen und ihm zeigen, dass es böse ist, was er tut oder getan hat. Verurteilt man den oder die Bösen dann, tut man indirekt also auch etwas Gutes für sich. Man spielt gewissermaßen über Bande und sagt sich selbst, dass es Unrecht war, was einem widerfahren ist. Fazit:
Wer Leid bei anderen automatisch mit Tätersuche und Anklagezwang beantworten muss, birgt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit inneres – im Wortsinn un-erhörtes – eigenes Leid in sich.
2. Intoleranz für Ungewissheit
Kaum etwas stiftet soviel Gewissheit, wie die klare und sichergestellte Unterscheidung von Gut und Böse. Mehr an Orientierung ist kaum möglich. Jeder Mensch braucht eine Richtschnur, braucht Prämissen, die nicht in jeder Situation in Frage gestellt werden. Das entlastet von einer nicht zu bewältigenden Fülle von Einzelüberlegungen. Nun weiß man nach ein paar Lebensjahren, dass es zu jeder Regel auch Ausnahmen braucht, soll es nicht zu gänzlich absurden Folgen kommen. Eine solche Abwägung, was die Situation erfordert, braucht allerdings das, was man landläufig Selbstvertrauen nennt. Eine der besonders einschneidenden Folgen von verlorenem oder nie aufgebautem Selbstvertrauen ist es nun, dass die fehlende Kompetenz selbst über die Anwendung einer Regel zu entscheiden, dazu führt, Regeln zusätzlich moralisch aufzuladen und abzusichern. Es darf keine Ungewissheit entstehen, weil diese den fehlenden inneren Halt spürbar machen würde. Die Moral zementiert ein fragiles „Ich“. Dieses Zement-Ich kann und darf Übertretungen der Moral verständlicherweise auch bei anderen nicht tolerieren. Daher müssen diejenigen, die sich dem eigenen moralischen Zement nicht anpassen, als böse, sündig, egoistisch, habgierig, uneinsichtig, belehrungsbedürftig oder verabscheuungswürdig klassifiziert werden. Man bestraft sie mit Missachtung, Verachtung, Dämonisierung oder Verfolgung. All das dient im Kern „nur“ dazu ein unsicheres und zerbrechliches inneres Selbst zu ummanteln.
Aus einem Mangel an Selbstachtung wird der Überfluss an Verachtung für alles, was als unmoralisch eingeordnet wird.
3. Intoleranz für eigene Aggressionen
Wer für sich und die eigenen Überzeugungen eintritt, braucht seine Kraft und eine gewisse Robustheit gegen Zweifel. Viele Menschen machen in ihrer Biografie jedoch sehr früh die Erfahrung, dass ihre Kraft, ihr Frech-Sein, ihre Pfiffigkeit, ihre Unangepasstheit nicht auf Gegenliebe und Ermutigung stossen. Oft erleben sie im Gegenteil, dass andere sie dominieren, zurechtstutzen, verunsichern und bestrafen. Wer ein solches Muster „Wenn ich mich kraftvoll zeige, werde ich von anderen negativ sanktioniert“ in sich trägt, der kann als eine Form der Lösung versuchen, sich mächtige Verbündete zu suchen. Eine der mächtigsten Kräfte die man sich zu eigen machen kann, ist Moral. Wer die Moral, das Gute oder das Edle für sich beanspruchen kann, der ist gegen Kritik geimpft. Darum ist es so naheliegend, dass Menschen, die in ihrer Kraft bekämpft und in Schwäche und Selbstzweifel gebadet wurden, sich auf die Seite des moralisch Guten schlagen. Aus erlebter Ohnmacht wird die Macht des Anklägers, der – zweifelsfrei und legitimiert – nun seinerseits andere versucht klein und wirkungslos zu machen. Aus dem Eintreten für Eigenes wird der Kampf gegen Anderes. Aus dem Ringen um Lösungen wird die Rechthaberei der Selbstgerechten.
Nur ein Mangel an Selbstvertrauen braucht den Besitz der Wahrheit und die Unterwerfung der anderen unter die eigene Meinung.
4. Intoleranz für eigene Ängste
In komplexen Verhältnissen weiß man immer erst im Nachhinein, ob man richtig lag und richtig entschieden hat. Und selbst das weiß man nicht immer. Daher braucht es im Leben kaum etwas mehr als die Kompetenz, Ängste in sich zu tolerieren. Leben heißt unsicher sein können. Etwas mit Angst tun zu können, ist Voraussetzung für Offenheit, Flexibilität, Neugier, Lernen und Veränderung. Aber nicht alle Menschen können das. Sie haben eher im Gegenteil gelernt, Angst als Stoppsignal zu interpretieren. Angst ist für sie zum Hinweis geworden, etwas bleiben zu lassen. Gefahr wird so gefährlich und nicht ein Anlass, mit Bedacht und Achtsamkeit dran zu bleiben. Wer in einem solchen Muster lebt, der verbessert seine Lage, wenn er etwas findet, was ihm seine Ängste nimmt, weil alle Zweifel an der Richtigkeit des Tuns zu Staub zerfallen. Es liegt auf der Hand, dass die Gewissheit auf der moralisch abgesicherten Seite des Guten zu sein, eine solche Funktion erfüllt. So wurden schon immer aus ängstlichen Zweiflern die hyperüberzeugten Kreuzritter. Wer für das Gute eintritt, kann nicht falsch liegen und muss keine Angst haben. Er kann, darf, ja muss handeln. Man will ja das Gute und muss andere vom Bösen und Falschen abhalten.
Als Anwalt des Guten darf man sicher sein. „Das Gute“ nimmt für einen das Risiko der Fehlentscheidung aus der Welt und lässt ruhig schlafen.
Wer ist schuld?
Also – wer ist schuld an einer Welt mit so viel Leid? An wen soll man die Anklageschrift für eine unvollkommene Welt zustellen? Vielleicht könnte man am ehesten sagen: „Das Leben ist schuld!“. Leben ist Glück und Leid. Es spricht nichts dagegen das Glück zu fördern und das Leid zu reduzieren. Aber es spricht alles dagegen, Schuld und Schuldige zu suchen. Beschuldigte werden renitent oder bunkern sich ein. Es führt zur Verhärtung und Polarisierung, sozial wie sachlich.
Die ungarische Philosophin Agnes Heller sagte: „Der Sinn des Lebens ist zu leben!“. Alles in sich erleben zu dürfen und mit Freude und Glück wie mit Schmerz und Leid einen Umgang zu finden – nur das macht unabhängig und frei. Vor allem aber erlaubt es einem, auf die Beschuldigungen von anderen und deren vermeintlich bösen Absichten zu verzichten. Die Basis für Vorwürfe kommt abhanden und die Voraussetzung für Dialog und gemeinsame Suche nach besseren Lösungen entsteht. Und spürt man dann doch den Hang zur Anklage, weiß man um ein ungelöstes inneres Thema.
Der Preis, den man dafür zahlt ist, dass man damit leben lernen muss, keinen Zugang zum Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu haben. Der Gewinn ist, dass man auch sich selbst nicht mehr richten und anklagen wird. Und das – mit Verlaub – erleichtert das Leben doch ungemein.
Martin Gössler
Wunderbarer Text, sehr inspirierend!
Mir fällt noch ein Nutzen des Beschuldigens ein. Der eben verstorbene Wolf Büntig hat darauf hingewiesen: Ich kann das Selbst-ideal des Unschuldigen aufrecht erhalten. Aber – so Wolf – Erwachsensein ist juristisch und menschlich mit schuldfähigkeit verbunden – also der Fähigkeit, eigene Täteranteile wahrnehmen und Schuldgefühle „halten“ zu können. Oder würden Sie das anders sehen?
Heinz-Günter Andersch-Sattler
Das trifft ziemlich genau das, was ich über die gegenwärtige Situation denke. Die klaren Worte sind hilfreich, auch wenn sie sicher von vielen nicht gehört werden wollen. Ich habe in einem eigenen Blog etwas in einigen Passagen Ähnliches geschrieben und erhielt folgenden Kommentar: das sei doch sehr systemimmanent. Der dann folgende Hinweis auf einen Psychiater, der lautstark gegen die derzeitigen politischen Maßnahmen eintritt und sie eben verteufelt, statt sich kritisch damit auseinanderzusetzen, krönte dann die Belehrung. Eine diskursive Auseinandersetzung fand nicht statt. Schade und traurig.