These 9: Könnte es auch anders sein…?
Veränderungen von Organisationen brauchen immer Anwälte von den Möglichkeiten, die in der Organisation ausgeschlossenen wurden. Organisationen müssen – wie alle System – vieles ausschließen: Wir produzieren Gummistiefel und keine Handys, wir verkaufen online und nicht am Marktplatz, wir sind Weihnachten fertig und nicht Ostern. Die Banalität der Beispiele ist nur vordergründig. Überall werden in Organisationen bestehende Möglichkeiten in Entscheidungen zugunsten einer Alternative aufgelöst: So und nicht anders! Dabei „vergißt“ jede Organisation leicht, was mal zur Debatte stand und verworfen wurde bzw. droht zu vergessen, dass es auch ganz anders sein könnte. Zudem geht der Sinn dafür, dass es Alternativen gibt, die noch nie ins Kalkül gezogen wurden (also immer schon ausgeschlossen waren), ganz schnell verloren, da genau dies Stabilität erzeugt. Pfadabhängigkeit wird das inzwischen genannt.
Die meisten werden diese Überlegung teilen. Nimmt man sie ernst, ist eigentlich klar, dass man bei jedweder Veränderungsabsicht, zunächst prüfen muss, ob das System das „Bestehende“ mit Kontingenz versieht. Kontingenz ist nur ein Wort für „Es könnte anders sein, als es ist!“. Wenn das Bestehende als alternativlos, richtig, wahr angesehen wird, gibt es keine Veränderung. Wenn das Neue als unmöglich angesehen wird, ebenfalls nicht. Beides geschieht aber bei Veränderungsvorhaben leicht: Teile der Organisationen sehen keine Alternativen oder keine Notwendigkeit oder Realisierbarkeit für Neues oder Anderes. (Siehe mehr dazu hier).
Wie würde es leichter? Dann, wenn allgemein eine Denkart vorherrschen würde, dass es zu jedem Gut ein Gegen-Gut gibt! So wäre klar, dass hinter jeder Entscheidung für etwas Gutes, immer auch einen Entscheidung gegen etwas Gutes erfolgt ist. Jeder Wert hat einen Gegenwert. Damit setzen Werte immer einen anderen Wert zurück. Freiheit geht auf Kosten von Sicherheit, Vertrauen reduziert Kontrollmöglichkeiten, Gründlichkeit vermindert Schnelligkeit, Regeln tilgen Situationsbezogenheit u.v.a.m.
Will eine Organisationen gut sein im Umgang mit Veränderungen, dann muss sie gut werden „vergessene“ Werte im Spiel zu halten und jene Interessen zu befördern, die zu einem früheren Zeitpunkt „verloren“ haben oder gar nie im Spiel waren. Veränderungskompetenz wäre dann daran gebunden, dass man die Welt auf (noch) nicht benutzte Alternativen abtastet.
Je mehr die bestehende Werte und Entscheidungen jedoch als Wahrheit verstanden werden, desto leichter verschwinden die Gegenwerte als Entscheidungsalternative. Darum ist Überidentifikation mit dem Bestehenden (also dem schon mal Entschiedenen) so gefährlich. „So muss das sein!“ „Das war schon immer so!“ etc. (Mehr dazu siehe hier)
Wie können es sich Organisationen erleichtern, dass beide Seiten von (besonders wichtigen) Entscheidungsalternativen im Spiel bleiben? Letztlich ist das einfach: Es braucht einerseits Mittel, um in der Vergangenheit zurückgesetzte Interessen oder Lösungen leichter wieder ins kommunikative Spiel kommen zu lassen. Und es braucht zum anderen Mittel, um neue Interessen und Lösungen in Konkurrenz zum Bestehenden zu bringen. Der häufig Fehler an dem Punkt ist, dass Organisationen sich nicht auf einer grundsätzlichen, abstrakten Ebene mit den Alternativen beschäftigen, sondern auf der Ebene der Tools und Lösungsmittel.
Wenn man auf der abstrakten Ebene anfängt, dann muss man sich mit elementaren Polaritäten beschäftigen und untersuchen, ob und welche Pole im Bestehenden zu kurz kommen, wo Fixierungen auf Pole vorliegen oder wo die gewählten Pole nicht mehr zur Gegenwart und erwarteten Zukunft passen: Halten wir unser Personal zu lange oder feuern wir es zu schnell? Verknüpfen wir zu viele Arbeitsprozesse miteinander oder lassen wir zu viel Autonomie? Orientieren wir uns zu viel am Kunden oder zu viel an den organisationalen Interessen? Entscheiden wir zu früh oder zu spät? Beteiligen wir zu viele an Entscheidungen oder leisten wir uns zu viel Hierarchie? Investieren wir zu viel Vertrauen oder zu viel Kontrolle? Sind wir zu schnell oder zu gründlich? Mehr zu diesen Leitunterscheidungen lesen Sie hier.
Die Vielfalt aller Möglichkeiten, sich zu organisieren, lässt sich nie ausschalten und kontrollieren, so dass jede Organisation sich entscheiden muss und deshalb Nachteile in Kauf nimmt. Daher gibt es auch immer Wettbewerber, die es ganz anders machen und deshalb(!) erfolgreich sind. Der Erfolg von anderen, die anders sind, ist daher nie per se ein Grund anderen nachzueifern. Es ist aber sehr wohl ein Grund sich vor Augen zu halten, dass das Eigene nicht so sein muss, so bleiben muss und in der Zukunft noch passend ist.
Organisationen, in denen Unsicherheit und Nichtwissen normalisiert sind, weil alle wissen, dass es (immer) mögliche Alternativen gab, gibt und geben wird, bewahren die Einsicht, dass man nie weiß, wie es weitergehen wird und es dafür keine Rezepte gibt.
Berater – und das vergessen sie manchmal – sind damit gerade nicht zwangsläufig auf der Seite des Besseren oder der Verbesserung, weil auch sie der Organisation keine Alternativen vorschlagen können, ohne einen Verlust zu erzeugen! Aber ohne Beratung fällt es vielen Organisationen schwer, sich darüber zu informieren, welche Möglichkeiten sie bedenken sollte, das Gleiche anders zu machen.
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.