These 6: Von der Illusion des einen (guten) Zwecks
Der Sinn des Lebens ist zu leben, sagt die Philosophin Agnes Heller. Das einseitige Erstreben von Glück macht unglücklich, den das Leben bietet für die meisten von uns durchaus beides: Glück und Unglück. Man muss mit beidem zurecht kommen, wenn man leben will und nicht am Glück oder Unglück zerbrechen.
Genauso ist es bei Organisationen. Sie organisieren sich um ein unüberschaubares und widersprüchliches Geflecht von Zwecken, Zielen und Interessen. Eine Organisation ist kein Ding. Sie kann nicht wie eine Maschine optimiert und auf einen Zweck hin ausgerichtet werden. Organisationen sind Widerspruchsbündel.
Wenn Organisationen keine Dinge sind, was sind sie dann? Diese Fragestellung führt im Grunde jedoch gleich schon wieder zum Ding. Besser wäre es, die Frage etwas zu verändern: Wenn Organisationen keine Dinge sind, wie sind sie dann? Wie-Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf ein Geschehen (weniger auf etwas Festes), auf ein Werden (weniger auf etwas Vorliegendes), auf das Entstehen und Vergehen von Ereignissen (weniger auf Gleichbleibendes). Der Fokus geht auf das, was passiert. Denkt man also über den Prozess des Organisierens nach (statt über Organisationen), dann ist man damit konfrontiert, dass die Zeit als Theoriedimension ebenso wichtig wird, wie sachliche und soziale Fragestellungen. Was geschieht gleichzeitig in Organisationen, was nacheinander, an was, wird sich erinnert, was wird vergessen, was wird künftig erwartet, vermieden und angestrebt? Wie wird die Vergangenheit uminterpretiert, zurechtgelegt und -gebogen? Wie robust macht man die Pläne und wann gibt man sie auf für einen Plan B? Zu früh? Zu spät? Wie können die vielen Ziele, Zwecke und Mittel zeitlich koordiniert werden?
Diese Fragen geben schon einen Eindruck davon, dass man mit diesem Fokus mit Widersprüchen, Dilemmata und Paradoxien zurecht kommen muss. Der Umgang mit Unerwartetem wird ein wesentlicher Teil organisationaler Kompetenz. Niemand kennt die Zukunft, niemand weiß die Motive anderer und niemand hat Kenntnis, was anderswo in der gleichen Gegenwart entschieden und gemacht wird. Schon aus diesem Grund – untilgbare Unkenntnis – löst sich die Annahme, dass sich Organisationen zentral steuern können, in Luft auf. Nicht nur, dass es alle Kapazitäten sprengen würde, zu verarbeiten, was die Organisation weiß, es fehlen schlicht die meisten wichtigen Informationen, weil diese in der Zukunft liegen. Organisationen organisieren sich um die unterschiedlichen Wissensbestände und die vielen erstrebten Zukünfte herum selbst. Es sind viele, unüberschaubare, gleichzeitige, widersprüchliche und rückbezügliche Prozesse und Entscheidungen, welche ständig Alternativen produzieren, verwerfen, schließen und neue ermöglichen.
Die Organisation führt sich selbst. Die offizielle (hierarchische legitimierte) Führung ist davon nur ein Aspekt – wenngleich natürlich ein wichtiger. Dennoch verändert sich mit dieser Denkweise zwangsläufig auch das Verständnis und damit die Aufgabenzuschreibungen für Führung. Man sieht Führung nicht als Kompetenz von Personen sondern als kommunikativer Vorgang. Damit landet man bei der Doppelkompetenz von Führen und Sich-führen-lassen, von Einfluss nehmen und gewähren. Nur wenn die Organisation beides kann, kann sie sich effektiv und effizient selbst organisieren.
Wenn also jede Organisation selbst organisiert ist (auch hierarchische!), dann muss man sich auch von der Idee eines oder auch weniger guter Zwecke verabschieden. Organisationen zeichnen sich in ihrer Leistungsfähigkeit gerade dadurch aus, dass sie mit vielen Zwecken (= Erwartungen, Vorgaben, Zielen, Visionen, Karriereinteressen, Strategien) zurecht kommen müssen. Das was in einer Hinsicht ein gutes Mittel für den avisierten Zweck ist, ist in anderer Hinsicht ein Schaden oder Erschwernis. Interessenausgleich ist das Medium in dem die Selbstorganisation schwimmt.
Organisationen um Zielkonflikte herum gebaut. Zugespitzter noch: Sie „bestehen“ aus Zielkonflikten, die auf Dauer nicht hierarchisiert werden können. Letzteres – Zielkonflikte sind über Prioritätensetzungen aufzulösen – würde bedeuten, zentrale Entscheidungen in Organisationen zugunsten eines guten Zwecks zu zementieren. Damit würde einerseits die Resonanzfähigkeit der Organisation auf Änderungen in der Umwelt zu stark reduziert – sie würde starr. Wichtiger noch – die Organisation müsste davon ausgehen, dass sie in ihrer Umwelt nur zusammenpassende, mit der eigenen Zielgewichtung kompatible Erwartungen vorfindet. Dies ist illusorisch. Organisationen bedienen viele Erwartungen: Märkte, Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, Shareholder, Behörden, lokales gesellschaftliches Umfeld, Kreditgeber u.a.m.. Diese Erwartungen sind in sich zerrissen und können intern nicht so aufgelöst werden, dass eine eindeutige Zweckhierarchie entsteht, alle alle diese Zwecke kennen und sich alle mit dem ausgewählten Zweck identifizieren und wohlfühlen können.
Organisationen verändern sich also, wenn im Ringen der vielen Zwecke und Mittel, der Lösungen und Interessen, der Wünsche und Gegenwünsche neu und anders bestimmt wird, welche Zwecke zugunsten anderer zurückgestellt werden. Bisweilen wird in Beratungstheorien die Illusion erzeugt, als ob es einen Herrn der Zwecke der alle anderen Zwecke knechtet und bindet geben könnte oder geben sollte. Das jedoch schürt problematische Erwartungen und schon Tolkien wusste, dass der Freiheitswille der vielen anderen Zwecke jedwede Gemeinschaft zum dunklen Berg in Mordor führt, um zu zerstören, was alle zu Einen droht.
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