Agilität: Mode, Entwicklung oder Evolution?
Management- und Beratungsmoden – so hatte ich im 2. Teil dieser Serie geschrieben – dienen dem Zweck, Aspekte von Führung, von Zusammenarbeit oder des Organisationsverständnisses in den Vordergrund zu bringen, die unterschätzt, vernachlässigt oder abgewertet sind.
Nun beanspruchen aber immer wieder einzelne solcher Ansätze mehr zu sein, als eine Mode oder Hype. Sie positionieren sich als Weiterentwicklung, als Verbesserung, als neue und richtige Weise zu führen, zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten und (große) soziale Systeme zu organisieren. Dann kommen Begriffe ins Spiel wie (stille) Revolution, New Work, Übergang auf eine höher Daseinsstufe (etwa Spiral Dynamics mit avisierten „teal organisations“).
Andere wiederum sehen eine evolutionäre Änderung in der Gesellschaft. Daraus leitet sich dann ein Anpassungsdruck und -bedarf ab, welcher auch die Art und Weise zu arbeiten und zu wirtschaften umfasst.
Wenn solche Differenzierungen im Spiel sind, scheint es mir wichtig, die Unterschiede zwischen Moden, Entwicklung auf „höhere“ Ebenen und evolutionären Musterwechseln zu verstehen. Sonst übernimmt man Implikate, denen man sich nicht bewusst ist und die man vielleicht gar nicht richtig findet. Um die Unterschiede anschaulicher zu machen, möchte ich sie gern am Thema Agilität durchbuchstabieren. Zwangsläufig geschieht das hier kurz, daher zugespitzt und provokant.
1. Agilität als Mode
Versteht man Agilität als Mode, dann fasst man es als eine Denk- und Handlungsart auf, welche u.a. in den Polaritäten schnell/gründlich oder verändern/beibehalten oder innenorientiert/außenorientiert sich für den vernachlässigten Pol stark machen. Man sucht Wege schneller, flexibler oder kundenorientierter zu werden und bietet dafür andere Prozesse, Strukturen, Methoden, Tools, Prinzipien und Werte an. So wird Agilität häufig verstanden und von Beratern verkauft. Genauso oft kann man nun aber auch lesen und hören, dass das am Wesen von Agilität vorbei geht. Nichtsdestoweniger hat dieses Verständnis viele Organisationen dazu gebracht, etwas zu verändern und „das Alte“ kam und kommt unter Rechtfertigungsdruck. Es entstand Bewegung, die nun ihrerseits kritisiert wird. Damit wird die Spannung zwischen z.B. zwischen den oben genannten Polen neu ausgehandelt und auf die Passung und Funktionalität in einer veränderten Umwelt (VUCA) neu justiert.
2. Agilität als Entwicklungssprung
Versteht man Agilität als Entwicklungsschritt hin zu einer (höheren) Entwicklungsstufe, dann muss man es als das Richtige und Bessere ansehen. Das hat im Verhalten die Konsequenz, dass man zum Evangelisten wird. Man glaubt an die Verbesserung der Welt und hält ein Werkzeug dafür in der Hand. Man muss dann darauf achten, dass das (neue) Evangelium – fallweise Manifesto, Charta etc. – richtig ausgelegt wird. Es entstehen neue Rollen: Experten, Hüter der reinen Lehre, Missionare, Abweichler, Kardinäle und mit dem Verstreichen von etwas Zeit selbst ernannte Dogmatiker, geweihte Priester (Lizenzen!) und Konzilien, die man heute Kongresse nennt. Man findet zwangsläufig dann Anhänger und Pioniere, es bilden sich Gemeinden, Zirkel, Produkte, Firmen, die für Agilität stehen und diese verkaufen. Es gibt Auslegungsstreit über die „rechte Lehre“, es gibt Abweichler und andere, die unterschiedliche heilige Schriften mischen und Nebenlinien der Verkündigung aufsetzen. All das ist eine unmittelbare und erwartbare Folge, wenn man in Entwicklungsstufen und Weltverbesserung denkt. Es fällt den Lesern wahrscheinlich nicht schwer, die entsprechenden Phänomene der agilen Szene mit den oben genannten Rollen und Strukturen in Verbindung zu setzen. Ein solches Verständnis hat viele Vorteile, da es Identität stiftet, man sich auf der richtigen Seite weiß und man leicht zu Gemeinsamkeiten kommt, die darauf hoffen lassen, dass eine „Bewegung“ entsteht, an der man Anteil haben kann. Dies speist sich meist auch einem verständlichen und berechtigten Protestpotential gegenüber einer Welt, die niemand nur gelungen finden kann.
Es gibt aber noch eine weitere Folge von Entwicklungs- und Stufenmodellen, die oft übergangen werden. Man handelt sich alle Theorieprobleme ein, die mit solchen Konzepten an sich verbunden sind. Es fehlt hier der Raum darzustellen, in welcher denkerische Nöte man kommt, wenn man versucht zu rechtfertigen, dass sich komplexen Systeme von niedrigen zu höheren Stufen in einer festgelegten zeitlichen Abfolge entwickeln. Entwicklungstheorien und Evolution vertragen sich theoretisch nicht (Es ist kein Zufall, dass Ken Wilber die Evolutionstheorie ablehnt). Daher seien hier nur die Stichworte genannt, welche auf diese Theorieprobleme hinweisen: Die jeweiligen Stufen sind nie trennscharf, oft vermischen sie psychische und soziale Phänomene, die Zuordnung zu geschichtlichen oder biographischen Phasen erscheint oft willkürlich, wichtige Phänomene fehlen oder lassen sich nicht zuordnen, „Rückschritte oder Rückfälle“ lassen sich schwer erklären und es lässt sich so gut wie nie eine „Abwertung“ der niedrigen Stufen vermeiden. Zudem wird meist mit einer Art „Endstufe“, eine Person oder Welt mit hoher Idealität avisiert, in der es dann keine Brüche, Widersprüche und Konflikte mehr gibt oder diese allesamt als lösbar angesehen werden. Aus meiner Sicht sind solche Entwicklungsmodell auf sozialer Ebene verweltlichte Modelle einer eschatologischen (= auf das Ende aller Tage gerichteten) Denkstruktur (die in der christlichen Theologie eine lange Tradition hat).
All diese impliziten Probleme sprechen aus meiner Sicht dafür, Agilität nicht als Bestandteil einer „Höherentwicklung“ anzusehen. Man droht das Thema auf diese Weise eher zu verbrennen. Spätestens wenn die Nachteile der agilen Arbeitsweisen sichtbar geworden sind und die Vertreter der „niedrigeren“ Stufen ausreichend Munition haben, um nachzuweisen, dass auch dieses Gold nicht nur glänzt, wird es zu ungünstigen Diskussionen kommen. So würde Agilität zu einem Hoffnungsträger mehr, der die Versprechungen einer humanen Arbeitswelt nicht einlösen kann.
3. Agilität als evolutionärer Musterwechsel
Es bleibt jedoch noch die dritte Möglichkeit, Agilität zu verstehen: Man könnte es als Prozessmusterwechsel im Kontext evolutionärer Prozesse zu verstehen. Evolution ist im Gegensatz zu Entwicklung blind. Sie hat kein Ziel, keine Absicht, kein Interesse. Evolution „verbessert“ nichts, sie variiert und selektiert. Ausgang ungewiss. Aussterben möglich. Dann wäre Agilität nicht besser, sondern eine Antwort auf ein anderes Prozessmuster.
Denkt man so, dann kann man sich die Frage stellen, auf welche Mutation in der Umwelt Agilität eine Reaktion sein könnte. Was hat sich geändert, worauf agiles Denken und Handeln besser als das bislang herrschende organisatorische Paradigma angepasst ist? Sucht man eine Antwort, bietet sich aus meiner Sicht der folgende Gedanke an (1):
Was wäre, wenn man annimmt, dass zur Bearbeitung von Produkt- und Kundenanforderungen die Steuerung über eine Oben/Unten-Hierarchie an ihre Leistungsgrenze gekommen ist? Die üblichen Stichworte dafür sind VUCA, gestiegene Komplexität oder auch Digitalisierung. Wenn dies eine zutreffende Annahme wäre, dann hätten Organisationen in der Tat einen großen Bedarf sich anders zu ordnen, um mit der neuen Welt zurecht zu kommen. Worin besteht aber nun das neue Prozessmuster? Verblüffenderweise kann man ständig lesen und hören, dass das agile Muster in einer Abschaffung von Hierarchie besteht, in einem Arbeiten „Oben ohne“. Es wird behauptet, dass agiles Arbeiten (weitgehend) hierarchiefrei sei. Damit wird gleichzeitig auch die Aussage getroffen, man könne Hierarchie abschaffen. Das halte ich für einen Denkfehler.
Das Konzept „Agilität“ schafft Hierarchie nicht ab, sondern führt eine andere Form von Hierarchie ein. Diese orientiert sich nicht an der Unterscheidung oben/unten, sondern an der Unterscheidung außen/innen. Einfach gesprochen: Der Leistungsempfänger wird zum Chef. Hier kann man offen lassen, ob der Leistungsempfänger der externe Kunde oder ein Teil-System der Organisation ist. In jedem Fall steigt beim Leistungserbringer das Maß des Nicht-Wissens, der Unsicherheit, der Instabilität, welches bislang vom „Oben“ abgefangen wurde. Nirgendwo findet sich kein Chef nicht, der mehr weiß, was zu tun ist, der es schnell genug weiß, und der verlässlich den vielen sagen kann „Da geht‘s lang!“.
Da wundert es nicht, dass neue Antworten darauf gesucht werden, wie man herausfinden kann, wodurch und wie man erfolgreich ist bzw. wie man überhaupt rechtzeitig fertig wird. Eine dieser Antworten – eine hochintelligente obendrein – sind die agilen Konzepte. Zirkularität, Mehr-Hirn-Denken, Multi-Perspektiven-Dialoge und Viel-Mensch-Handeln, fail early/learn quickly, heterarchische Strukturen, kontinuierliche Aushandlungsprozesse über Priorisierungen und Grenzen des Auftrags – all das und viel Ungenanntes werden so m.E. zu Erkennungsmerkmalen eines evolutiven Paradigmenwechsels. In diesem Sinne wäre „Agilität“ nicht nur Mode (allenfalls in Teilen), sondern eine Antwort auf einen Evolutionsschritt, der die gesamte Gesellschaft aus einer klaren, auf Gewissheiten aufgebauten Welt in eine rhizomatische, multikausale Welt geführt hat. Aus meiner Sicht spricht viel für diese Lesart.
Fazit
Ich hoffe, es ist trotz der Kürze deutlich geworden, dass es nützlich sein könnte, sorgfältige Begriffsarbeit zu leisten. Das würde die Sprachverwirrung in der Branche reduzieren und weniger Verwirrung bei Kunden stiften. Das würde nach sich ziehen, dass Beratung allerdings sich nicht vorrangig als Geschäftemacherei versteht, sondern – eher wie die Medizin – als von Forschergeist getriebene Kraft, die gemeinsam mit dem Kunden um Lösungen ringt – in gewisser Weise also selbst agil vorgeht und nicht expertenhaft zu wissen vorgibt, was der Kunde braucht. Sonst gleicht man als Berater letztlich genau dem Chef, der oben an der Quelle des Wissens saß und sein Wasser der Weisheit über den Wasserfall in untere Geländeformationen fließen lies. Dieser Selbstwiderspruch vieler agiler Berater und Coaches nimmt m.E. gerade täglich zu.
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