Hat New Work auch Nebenwirkungen?
Nichts geschieht ohne Nebenfolgen, ohne unbeabsichtigte Wirkungen. Das ist die Ausgangsthese. Ich gehe von der Annahme aus, dass es in Organisationen (und darüber hinaus) keine Handlungsräume gibt, die allen in jeder Hinsicht dauerhaft nutzen. Daher – und dies ist die erste Schlussfolgerung aus dieser Ausgangsthese: Wer in Organisationen handelt und Entscheidungen trifft, der oder die braucht ein Konzept, welches auch die nicht-intendierten Wirkungen berücksichtigt und konzeptualisiert. Aber noch mehr benötigen diejenigen ein solches Konzept, die Organisationen beraten.
Denn – es ist für Konzepte (und die dahinterstehenden Personen) immer sehr einfach, sich mit den erwünschten Wirkungen, mit den erzielten Erfolgen und Verbesserungen zu identifizieren. Diese werden dann beworben, angepriesen, gelobpreist, besungen, vermarktet und verkauft. Daran ist per se nichts Kritikwürdiges. Wer nicht glaubt, mit dem, was er tut, etwas zu verbessern, der tut meist gar nichts.
Jedoch, und nun kommt das „Aber“, fände ich es hilfreich, wenn sich alle bewusst blieben, dass erstens alles eben auch Nachteile birgt, zweitens diese im Konzept mit bedacht und reflektiert werden sollten, drittens man ein „Nebenfolgenmanagement“ entwickeln muss und viertens die Gefahr abgemildert werden sollte mit dem eigenen Tun oder der propagierten Richtung nur Positives zu assoziieren oder zu versprechen. Wer sich selbst mit dem Guten gleichsetzt, wird blind für die eigenen Schatten.
Daher strukturiere ich diesen Text mal so, dass ich Wünsche an Konzepte ausformuliere, die im Moment unter New Work auf die Altäre gehoben werden. Wünsche, die sich auf eine mir notwendig erscheinende, aber m.W. fehlende oder mir nicht zugängliche Reflexion der jeweiligen Thesen beziehen. Daher möchte ich auch alle Kolleginnen und Kollegen, die dazu etwas zu sagen haben, einladen, Antworten zu formulieren oder auf schon zugängliche Antworten hinzuweisen. Dafür schon an dieser Stelle Dank.
Wunsch aus der Sicht des Coaches und Psychotherapeuten
Ich coache und therapiere seit 30 Jahren. Ein nicht unerheblicher Teil der Themen, mit denen sich Klienten aller Funktionen und Hierarchiestufen beschäftigen drehen sich um Ängste, insbesondere auch Angst vorm Scheitern und vor der Überforderung. Ich sehe viele Menschen, die sich mit Verantwortung, Selbstbestimmung, Sich-Hervortun, Sich-Zeigen, Sich-Vertreten schwer tun. Das sind aber allesamt Kompetenzen, die in New Work bei sehr viel mehr Personen benötigt werden. In den Manifesti und Chartas werden sie meist einfach vorausgesetzt. Sie aber als gegeben – meist getarnt als „positives Menschenbild“ – anzunehmen, erscheint mir offen gestanden nicht realistisch. Da scheinen mir die Vorreiter und Vertreter dieser Konzepte von sich auf alle zu schließen. Das ist ja auch naheliegend. Ich kann jedoch nicht sehen, dass alle Menschen grundsätzlich nur darauf warten würden, selbstbestimmt, intrinsisch motiviert und möglichst ohne Hierarchie arbeiten zu können. Was sind die Konzepte von New Work, wenn man feststellt, dass das gesetzte Anforderungsprofil auf eine nicht unerhebliche Prozentzahl der Mitarbeiter nicht passt? Wer bislang nicht führen wollte, konnte Mitarbeiter bleiben und muss jetzt sich und andere selbst organisieren, wer bislang Angst vor Menschen hatte, fand ein Einzelbüro mit Computerbildschirm und muss jetzt in WOL-Gruppen und stylischen Großraumbüros seinen Tag mit anderen verbringen, wer bislang Angst vor Fehlern mit Perfektionismus bearbeitete, muss jetzt in Sprints anderen seine Fehler zumuten. Die Beispiele sind endlos. Der Inklusionszwang nimmt zu. Es macht einen Unterschied, ob ausgewählte Bereiche, Pilotgruppen mit speziell ausgewähltem Personal oder Freiwilligen New Work leben oder eine ganze Organisation.
Also mein Wunsch in Kürze: Was sind die theoretischen und praktischen Antworten darauf, dass nicht alle Menschen aus unterschiedlichen Gründen für New Work gebaut sind?
Wunsch aus der Sicht des Gruppendynamikers
„Wer genug hat von schlechten und despotischen Chefs, der möge es mal mit führungslosen Gruppen versuchen“. Dieser alte Spruch unter Gruppendynamikern kommt nicht von ungefähr. In den ca. 400 gruppendynamischen Seminaren und Teamentwicklungen sowie in zahllosen Supervisionen kooperativ aufgestellter Vereinigungen, Genossenschaften, Lebensgemeinschaften, Nachbarschaftsprojekte etc. konnte ich für meinen Teil nicht erkennen, dass Destruktivität in Arbeitskontexten an vertikale Hierarchie gebunden wäre und alles einfach wird, wenn Menschen sich in (Arbeits-)Gruppen als gleichrangig begegnen. Daher wundere ich mich über die Euphorie und die Ambivalenzarmut mit der in New Work das Lob der Gruppe und der intrinsisch motivierten Zusammenarbeit geredet wird. Sozialer Druck, soziale Erwünschtheit, Ausgrenzungsversuche und Eingemeindungspflichten, group think, Lagerbildung – ich nenne nur ein paar Stichworte zu Phänomenen, die doch auch in den Arbeitssettings von New Work vorkommen. Wieso ist davon nie die Rede. Warum liest man in den Praxisberichten nichts über die Konflikte in Sprints oder Kränkungen bei Design Thinking Prozessen, über Enttäuschungen wegen fehlenden Rückhalts oder fehlender Offenheit für Neues bei anderen usw.? Es gibt profundes Wissen darüber, dass es ein langwieriger, mühsamer und anspruchsvoller Prozess sein kann und meist ist, damit eine Gruppe arbeitsfähig wird. Je mehr Wechsel in der Zusammensetzung, desto herausfordernder wird es. Wie kann es sein, dass es plötzlich möglich sein soll, dass dieser Invest nicht mehr notwendig zu sein scheint, nur weil es für die unterschiedlichen Zusammenarbeitsformate in den verschiedenen Ansätzen andere Bezeichnungen gibt? Kollektive Selbststeuerung ist m.E. darauf angewiesen, dass eine Mehrheit der Beteiligten die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, zur Reflexion impliziter Gruppenregeln, zur Abgrenzung gegenüber Erwartungen anderer, und zur Gelassenheit auch bei Anfeindungen und Abwertungen mitbringt.
Mein Wunsch: Welche Konzepte stellen sicher, dass die problematischen gruppendynamischen Entwicklungen in Arbeitsumgebungen nicht dominant werden, die sich durch wenig formale Struktur und Hierarchie sehr häufig ausbilden? Wo werden in New Work diese Themen diskutiert und aufgegriffen?
Wünsche aus der Sicht des Konfliktmoderators
New Work Konzepte arbeiten oft (siehe etwa bei Markus Väth hier) mit abstrakten Begriffen: Humanität, positives Menschenbild, Selbstverantwortung, Eigeninitiative etc.
Diese sind semantisch ausschließlich positiv besetzt. Es erweckt den Anschein, als ob alles besser werden würde: Allen wohl und niemand wehe. Mir ist klar, dass das nicht die Absicht ist bzw. dass die dahinter stehende Absicht selbstverständlich gut ist. Aber nicht immer führt „gut gemeint“ auch zu guten Ergebnissen. Wenn Theoriekonzepte gewählt werden, die in sich nur positiv erscheinen, dann hat das immer die Folge, dass die impliziten Konflikte ausgelagert, semantisch negiert oder schlicht übersehen werden. Sie tauchen dann an anderer Stelle wieder auf. Daher meine Bitten:
Als Konfliktmoderator wünsche ich mir Analysen dazu, mit welchen anderen und neuen Konfliktlagen in New-Work-Verhältnissen zu rechnen sind. Auf welche Pain-Points haben sich die Menschen in den entsprechenden Firmen und Arbeitsumfeldern einzustellen? Welche Interessenlagen treffen häufiger wo und wie konflikthaft aufeinandertreffen, wenn es nicht mehr die Führungskraft ist, in der diese gegensätzlichen Anforderungen sich treffen? Bislang müssen die Führungskräfte dies austarieren, weil die Führungskraft gleichzeitig der Vertreter seines Teams in der Organisation und Vertreter der Organisation in seinem Team ist. Wo werden diese gegensätzlichen Interessen in Zukunft verhandelt und für einen gewissen Zeitraum arrangiert und befriedet? Wie werden Konflikte begrenzt, wenn es weniger formale Hierarchie gibt, die in vielen Fällen dies bislang gemacht hat? Wie werden harte Entscheidungen getroffen? Wie wird mit Fehlern umgegangen, die man beim besten Willen nicht mit „Lernchance“ quittieren kann, sondern wo jemand Verantwortung übernehmen muss oder seine Fehlqualifikation offensichtlich wird? Fragen über Fragen, die sich zwar in der sogenannten Praxis stellen, in den theoretischen Überlegungen, Chartas, Büchern etc. nicht oder kaum vorkommen. Oder übersehe ich da was?
In Summe: Was ich mir wünsche ist, dass konkret von den Vertretern von New Work (und nicht den Kritikern) dargestellt wird, wo die neuen Konzepte an ihre Grenzen kommen, wie die neuen Konzepte mit ihren Begrenzungen dysfunktional umgehen, und wie sie die Stärken der alten Konzepte, die sie ablösen wollen, ausgleichen und kompensieren können.
Wünsche aus der Sicht des Organisationsberaters
Organisationen dienen vielen Zwecken und Zielen. Sie sind gewissermassen um Konflikte herum gebaut. Wenn nun die Arbeit etwa entlang von Wertschöpfungsströmen und nicht in Funktionsketten organisiert wird, wird versprochen, dass damit Silos aufgebrochen werden. Silos sind systemtheoretisch sogenannte „lokale Rationalitäten“. Damit ist gemeint, dass sich Sub-Systeme in Organisationen bilden,
- um reduzierte Komplexität auf der Sachebene zu ermöglichen,
- um Identitätsbildung auf der sozialen Ebene zu bewerkstelligen und
- um überschaubare Handlungsabläufen (Anfang und Ende) auf der zeitlichen Dimension zu erreichen.
Sub-Systeme (hier „Silos“) beurteilen und erklären Problemlagen und Lösungswege mit einem eigenen, begrenzten Fokus, der andere Belange der Organisation ausblendet, um reflexions- und handlungsfähig zu werden. Das Gesamtsystem könnte seine eigene Komplexität nicht mehr verwalten, würden sich diese Sub-Systeme nicht bilden. Sie wählen einen eigenen „Umweltausschnitt“ und lassen vieles folglich unberücksichtigt. Solche „lokalen Rationalitäten“ lassen sich daher auch in New Work nicht vermeiden. Zwangsläufig kommen so unterschiedliche „Ströme“, Projekte, Prozessketten etc. in Konkurrenz oder sind zumindest – weil loser gekoppelt – nicht vollständig synchronisierbar. Wenn nun gleichzeitig die Identifikation mit den jeweiligen Sub-Systemen höher wird, werden vermutlich auch die Konflikte zwischen diesen Sub-Systeme schärfer, da höhere Identifikation mit dem Eigenen meist die Einfühlung in das Andere erschwert.
In Summe mein Wunsch: Wo tauchen in den von New Work propagierten Organisationsstrukturen lokale Rationalitäten in neuem, anderen Gewande auf? Wie wird empfohlen damit umzugehen? Welche (Eskalations-)Strukturen werden genutzt, um Fehlabstimmungen, Fehlsynchronisationen und Ressourcenkämpfe zu bearbeiten?
Fazit
Veränderungen basieren darauf, dass Möglichkeiten, die ausgeschlossen wurden oder noch nie zur Debatte standen, zur Wahl stehen. Viele New Work Ansätze haben hier Erstaunliches und Wichtiges geleistet und tun dies weiterhin. Damit sich Änderungen stabilisieren können, braucht das Neue eine Reflexion darüber, welchen Preis es hat, dass es seinerseits Möglichkeiten ausschließen muss. Geschieht dies nicht, wird das Neue schnell in Misskredit kommen und es kommt zu Rebound-Effekten. Darum finde ich eine Diskussion über die Schattenseiten neuer Arbeitsformen so wichtig, wenn man Interesse hat, Veränderungen zu verdauern. Zu dieser Diskussion möchte der Artikel einladen.
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