10 Tipps, um ganz sicher zu stagnieren!
Der abschließende Teil meiner Serie zu Aspekten menschlicher Veränderung kann auch wie eine kleine Zusammenfassung gelesen werden. Der grundlegende Gedanke aller Artikel war ja, dass Veränderung nicht erzeugt, sondern zugelassen werden muss. Stabilität liegt für lebende, psychische und soziale Systeme nie vor, sondern muss immer über Aktivitäten erhalten und erzeugt werden. So wie beim Fahrradfahren: Dynamik schafft Stabilität. Nun ist es für das Verständnis psychischer Dynamik ausgesprochen bedeutsam, Stabilität von Stagnation zu unterscheiden, denn Stabilität kann die Form der Stagnation annehmen!
Stabil ist eine Person, die frei ist zu entscheiden, ob sie Neues lernt oder Bewährtes beibehält. Denn Stabilität braucht beides: Lernen und Beibehalten. Auf der Grundlage einer solchen Stabilität verändern sich Menschen, weil sie das Alte und Bekannte bei Bedarf loslassen können.
Stagnativ ist jemand, der unfrei ist, weil er die eigenen Muster nicht in Frage stellen kann und auch dann beibehält, wenn sie ihm oder seiner Umwelt wiederholt und verlässlich Leid verschaffen. Dieses Leid muss nicht unbedingt bewusst sein und es muss nicht unmittelbar auftreten, sondern kann sich mittel- und langfristig entwickeln. Eine solche seelische Unfreiheit erhält sich, um „alten“ Schmerz, der erwartet wird, zu vermeiden. Leider wird damit neuer, gegenwärtiger Schmerz erzeugt. Das ist die Tragik der Stagnation, die Altes nicht loslassen kann und sich daher nur auf der Basis des Alten mehr schlecht als recht optimieren kann.So gesehen ist es wichtig, zu erkennen, ob und wie man sich in stagnativen Prozessen begeben hat.
Ich gebe im Folgenden – als Destillat von fast 23000 Coaching und Beratungsstunden – zehn besonders wirksame „Tipps“, was man tun muss, um unfrei zu werden und zu bleiben. Ich bitte beim Sich-selbst-erkennen vorsichtig zu sein, um nicht in fruchtbare Selbstzweifel zu kommen :-). Nicht jeder Tipp ist für jeden der richtige. Man darf wählen und sich auf 1-2 beschränken, man kann wechseln oder alle nehmen. It’s up to you.
Nun zu meinen Empfehlungen für ein Leben in Stagnation:
1. Definiere Aspekte Deiner Person, die Du ablehnst
Ein vielversprechender Beginn der Stagnationskarriere besteht in jedem Fall darin, wenn es dir gelingt, Aspekte der eigenen Person anhaltend und dauerhaft als defizitär, als nicht lebenstauglich, als nicht liebenswert oder als Grund sich zu schämen, zu klassifizieren. Dann hast du schon mal eine gute Basis gelegt. Du kannst dabei recht frei wählen, ob sich deine Ablehnung auf körperliche Merkmale – Mängel und Hässlichkeiten – bezieht, ob Du deine gedanklichen Fähigkeiten – Intelligenz! – herabwürdigst oder – ganz besonders wirksam – bestimmte Gefühlszustände oder emotionale Reaktionen ins Visier nimmst. Bei letzterem ist wichtig, dass die Unangemessenheit der Gefühle besonders hervorzuheben, ganz eindringlich dir einzuflüstern, dass in solchen Zuständen niemand mit dir zu tun haben möchte oder dich verstehen könnte. Insbesondere erwächst aus diesen Selbstherabsetzungen die Aufgabe, zu versuchen, diese Aspekte von dir zu verbergen und zu tarnen. Meide Situationen in denen sie sichtbar werden könnten, und umgehe möglichst Aufgaben, die sie antriggern. Lege dir Verteidigungs-, Dementierung- und Kaschierungstechniken zu, auf die du verlässlich zurückgreifen kannst. Im Zweifel hilft es, zu flüchten.
2. Meide Menschen, die Dich in Frage stellen
Ein sehr effektive Methode in der Stagnation zu verharren, ist es, wenn es gelingt, nur angepasste Menschen in sein Umfeld zu lassen. Suche Dir möglichst ausschließlich Menschen, die Dich bewundern, die auf Dich angewiesen sind, die gleicher Meinung sind mit Dir, die sich für ähnliches begeistern. Achte auf Personen, die das Potential besitzen, Dich zu kritisieren, dir unbequeme Fragen zu stellen und die Dir nicht nach dem Mund reden. Lass sie nicht zu nah an Dich heran und nutze sie vorrangig als Feindbild. Am besten Du findest einen Weg ihnen unlautere Motive zu unterstellen. Mach Dir klar, dass sie sich irren und stelle das umgehend richtig. Überhaupt – verteidigen ist super wichtig. Entscheidend aber ist, dass Du das alles nicht zu auffällig machst. Sei geschmeidig, erwecke den Anschein von Einsichtigkeit und Dazu-Lernen-Wollen. Wichtig ist nur, dass es Dir innerlich am A… vorbei geht. Nur Du weißt über Dich Bescheid, vergiss das nicht. Andere – in ihrer beschränkten Perspektive – müssen aufgeklärt und belehrt werden, so dass sie im Stande sind, Dich angemessen zu beurteilen.
3. Glaube das, was Du denkst und erwartest
Du weißt, wie die Welt ist und was von anderen Menschen zu erwarten ist. Da kannst Du Dich ganz auf Dich verlassen. Wenn Ereignisse auftreten, die Deinen Erwartungen zu widersprechen scheinen, ist das nur der Anlass darauf zu warten, dass die eigentliche Wahrheit nur etwas Zeit braucht um ans Licht zu kommen. Besonders kommt es darauf an Deine pauschalen Überzeugungen nicht zu hinterfragen. Nur einige wenige Beispiele dafür wären: „Auf andere kann man sich nicht verlassen, am Ende ist jeder allein!“, „Niemand interessiert sich in der Tiefe für mich, weil alle letztlich nur etwas von mir wollen!“, „Wenn ich es nicht mache, macht es sowieso keiner!“, „Nur wenn ich anderen gefalle und Gutes tue, dann bleiben sie bei mir!“, „Am Ende wird jeder merken, wie ich wirklich bin und sich entsetzt abwenden“, „Ich kann es einfach nicht!“ oder „Nur wer sich anstrengt und Leistung bringt, der darf mit sich zufrieden sein!“. Stelle solche Sätze auf gar keinen Fall in Frage. Im Gegenteil – sammle Bestätigungen und Belege, so dass Du immer ausreichend Beispiele an der Hand hast, um Deine Sicht der Welt, von anderen und von Dir selbst zu untermauern und plausibel zu machen.
4. Versuche immer die Kontrolle zu wahren
Nur wenn Du die Kontrolle behältst, kann nichts in dir wach werden, was Du nicht spüren willst. Daher Vorsicht: Lass niemanden wirklich in der Tiefe an Dich ran. Halte immer den innersten Bereich Deiner Seele sauber. Gewähre niemandem dort Zutritt. Keinenfalls darf jemand so wichtig werden, dass es eine Katastrophe wäre, wenn er geht. Umgekehrt sorge dafür, dass Menschen, die wichtig sind, in subtiler Weise von Dir abhängig werden. Dafür dienlich sind insbesondere Dankbarkeitspflichten.:Menschen, die Dir etwas schulden, sind Gold wert, weil sie bleiben auch dann, wenn Du selbst unnahbar bleibst. Aber auch solche, um deren Geheimnisse Du weißt und die sich erpressbar fühlen, bleiben im Dunstkreis Deiner Kontrolle. Großartig! Wenn Du Leute förderst, achte darauf, dass sie Dir ähnlich sind, aber eine Nummer kleiner bleiben.
Hast Du das geschafft, ist es wichtig alles, was Dir ungeheuer ist, zu vermeiden. Bring Dich nicht in Situationen, in denen Du nicht souverän rüber kommst. Expertise ist alles. Dein Wissen muss Dein Halt werden. Experimente nur dort, wo es unumgänglich ist. Bring Dich nur ein, wenn Du Dir sicher bist. Wenn das nicht geht, tue so als ob. Tarnen und täuschen ist unabdingbar. Unsicherheit ist Dein Feind, Fragen müssen durch Antworten erschlagen werden. Von allem, was vage, offen, doppeldeutig oder nicht durch Fakten zu belegen ist, halte Abstand. Das gilt selbstverständlich ganz besonders für Gefühle. Am besten meide sie ganz. Bleib vernünftig und rational. Dann bist Du auf der sicheren Seite.
5. Lenk Dich ab, mit dem, was Dir angenehm ist
Suche Dir Möglichkeiten, deine Kraft und Vitalität zu gebrauchen, ohne Gefahr zu laufen, in persönliche Veränderungsprozesse zu geraten. Das geht besonders leicht, wenn Du versuchst, Dein Leben so viel es geht mit Vergnügungen zu füllen. Das kommt gut und zieht meist keine Kritik auf sich. Gegen Vergnügen ist nichts zu sagen. Wein, Mann/Frau (früher Weib) und Gesang haben eine lange Tradition. Bleib an der Oberfläche des Spasses, des Konsums, der Karriereorientierung und den Annehmlichkeiten der Welt. Gezielter Einsatz von Alkohol, Aufputschmittel, Serienmarathons auf Netflix und anderen leicht zugänglichen Drogen kann dies erleichtern. Besonders hilfreich ist auch ein Hobby, das Dich verlässlich mit guten Gefühlen versorgt. So kommst Du nicht auf dumme Gedanken oder in Gefühle von Leere, Einsamkeit oder Verlorenheit. Auch gegen Ängste, Zweifel und Langeweile gehe konsequent mit Ablenkungen vor. Wenn sonst nichts funktioniert, Essen ist häufig ein guter Weg. Ein harter Workout hilft zudem, Niederlagen oder Konflikte zu vergessen. Ablenkungskompetenz ist gefragt. Übe sie dauerhaft.
Beim Zusammensein mit anderen umgehe schwierige Themen und wenn Leute unglücklich wirken, frage nicht ernsthaft nach oder beruhige sie schnell. Das wird schon wieder! Die ernsthafte Beschäftigung mit der Not anderer ist gefährlich, da es Dir die eigenen Nöte und Hilflosigkeit bewusst machen könnte. Überlass das Profis.
6. Beschäftige Dich ausgiebig mit Schuldzuweisungen
Wahrscheinlich wird es Dir nicht ganz gelingen, ohne Krisen durchs Leben zu kommen. Hier ist wichtig immer Klarheit darüber herzustellen, wer schuld ist.
Variante 1: Du bist an nichts schuld: Krank ist der Körper und deine Psyche spielt da keine Rolle. Bei Trennungen ist der andere schuld, bei Kündigungen selbstverständlich der Chef. Beziehe nichts von dem, was schlecht läuft auf Dich. So kann es gelingen, Selbstzweifel, die ein erster Hinweis auf innere Unzulänglichkeitsgefühle sein würden, im Keim zu ersticken.
Variante 2: Du bist an allem schuld! Wenn du diese Variante wählst, hat das den klaren Vorteil, dass der Schuldige Dir nicht aus dem Weg gehen kann! Schnupfen, Bluthochdruck, Scheidung, Unfälle, ausbleibende Beförderung, schlechtes Wetter – alles ist Deine Schuld und Ausdruck der Schlechtigkeit Deiner Seele. Fühlt sich schlecht an, dafür ist es sicher und Du kannst ein Leben lang einsichtig sein und versuchen dich zu bessern. Das gibt eine verlässliche Orientierung, auch wenn es nicht gelingen wird. Wenn die Last der Schuld zu groß wird, nutze Tipp 5, um Dich davon abzulenken.
7. Lass Dich nicht von wiederkehrend schlechten Erfahrungen irritieren
Der Tipp ist ganz wichtig. Wenn Du feststellst, dass in bestimmten Lebensfeldern – Partnerschaft, Zusammenarbeit, Prüfungen, Erziehung der Kinder, Verhältnis zu Vorgesetzten, öffentliche Auftritte, Zugehörigkeit in Gruppen u.a.m. – sich schlechte Erfahrungen wiederholen, dann lass Dich davon nicht irritieren. Denk einfach, das ist zufällig schlecht gelaufen oder hoffe, dass es beim nächsten Mal es anders wird. Wenn das nicht geht, nutze Tipp 6 und mach Dich oder andere schlecht. Komm auf gar keinen Fall auf die Idee, dass Du selbst ernsthaft zum Misslingen oder den Konflikten beiträgst. Mach Dir klar, dass selbst wenn das so wäre, man daran nichts ändern könnte. Jeder ist nun mal wie er ist! Solltest Du doch der Versuchung erlegen sein, eigene Anteile zu sehen, dann höre die Beschäftigung damit ganz schnell wieder auf, wenn Du mitkriegst, dass es mit Ausdauer und Kosten verbunden wäre, daran zu arbeiten. Ein kleiner Rückschlag und Du hast ein gutes Argument, dass das alles nichts bringt. Finde Dich damit ab, dass andere sich über Dich beklagen. Das ist deren Problem.
8. Verhindere um jeden Preis ein Nachlassen Deiner Anstrengung
Das Leben in stagnativen Prozessen ist kein Ponyhof. Du brauchst dafür durchaus Verkrampfungen, Verspannungen, körperliche Fehlhaltungen, auch eine gewisse seelische Mühsal ist nicht auszuschließen. Wenn etwas in der Art, wie Du es versuchst, nicht klappt, gib nicht auf, es genau auf die gleiche Weise weiter zu versuchen. An Deiner Verbissenheit kannst Du erkennen, dass Du der Stagnation treu bleibst. Auch die Sorgen von Menschen in Deiner Umwelt, ob es denn all das wert ist, was Du für Stagnationsziele opferst, widerlege mit Beschwichtigungen und Vertröstungen. Wenn geliebte Menschen anfangen an der Beziehung mit Dir zu zweifeln, sich zurückziehen, Dich aufgeben oder an Deiner Seite depressiv werden – lass nicht los und stell Dich nicht weiter in Frage. Besonders wirksam ist es, wenn das Ziel der Anstrengung, das der Vermeidung Deiner Selbstwahrnehmung dient, ein besonders hehres ist. Je berühmter oder mächtiger Du wirst oder je mehr Du Dich für eine gute Sache aufopferst, desto leichter ist es, alle kritischen Anfragen abzutun. Es geht schließlich um was. Und kurz vor dem Ziel darfst Du nicht aufgeben. Nie!
9. Vorbei ist vorbei
Auch wenn Du Ahnungen hast, dass es zu Beginn Deines Lebens nicht nur leicht war, auch wenn Du um höchst problematische Züge von wichtigen Bezugspersonen weißt, auch wenn es schlimme Ereignisse gab, womit Du allein warst, auch wenn früh mehr von Dir verlangt wurde, als für Dich gut war, auch wenn Du Zeuge vieler schlimmer Konflikte warst, die dich verstört und verängstigt haben, auch wenn … – vorbei ist vorbei! Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, also schlag ein Ei drüber und vergiß, was war. Bleib bei dieser Haltung auch wenn Du subtil spürst, dass Deine Vergangenheit eben nicht vergangen ist, sondern in Dir täglich lebt und Dich prägt. Erst recht musst Du Deine Anstrengungen, alles zu vergessen, verdoppeln, wenn Du feststellst, dass Du so geworden bist, wie Menschen unter denen Du gelitten hast. Du hast es überlebt, also wird es anderen auch nicht schaden! Kommen Schuldgefühle auf, dann nutze Tipp 5 und lenk Dich ab! Tu es ausgiebig! Hör erst auf damit, wenn Du wieder frei davon bist.
10. Hole Dir auf gar keinen Fall Hilfe
Der letzte Tipp ist schnell erzählt. Hol Dir keine Hilfe. Bringt eh nix! Und wenn es anderen hilft, Dir nicht! Erspar Dir die Demütigung Dich jemandem anderen zu offenbaren, Dich anzuvertrauen. Es führt eh nur wieder dazu, dass schlechte Gefühle kommen und es dabei bleibt. Wer soll Dir schon helfen? Am Ende muss jeder allein klar kommen. Wenn Du Hilfe in Erwägung ziehst, dann definitiv nur, um schnell Lösungen zu finden und wieder in Dein gewohntes Leben zurückzukommen. Erinnere Dich an Tipp 4: Kontrolle ist alles. Coaches, Trainer und Therapeuten, die Dir das versprechen, findest Du leicht.
Gutes Gelingen!!!
Wenn jemandem das zu anstrengend oder in Summe dann doch nicht so verlockend erscheint, der bekommt in sich und in seiner Umwelt ein Leben lang „Material“, um Veränderung geschehen zu lassen bzw. seinen stagnativen Aktivitäten auf die Schliche zu kommen. Hat man den Dreh mal raus, wird das Leben auf andere Art leicht und vor allem dauerhaft interessant und aufregend. Man kann sich dann keine Sekunde mehr langweilen. Keine schlechte Aussicht wie ich finde.
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