Ist man je fertig als Mensch?
Wer über Veränderung nachdenkt, der muss nicht nur darüber nachdenken, wie sie in Gang kommt, sondern auch, wie sie ein Ende findet. Endet sie überhaupt? Warum machen die einen nie und die anderen endlos Coaching, Fortbildung Therapie und Selbsterfahrung? Gilt es, lebenslang zu lernen oder darf man mal zufrieden mit dem Erreichten sein? Kann es auch schaden, wenn man sich verändern will oder immer weiter lernt? Ist man je fertig? Oder ist die Frage Unsinn? Dazu nun ein paar recht grundsätzliche Überlegungen.
Schön, reich, gut und gesund – Irrlichter für die Seele?
Veränderung ist in unserer Kultur meist gekoppelt an ein künftiges Ziel. Man will von einem (unzureichenden) Ist-Zustand zu einem (attraktiveren) Soll-Zustand. Für diesen Soll-Zustand bietet unser westlicher Kulturraum für das Gelingen des Lebens im Wesentlichen vier attraktive Ziele an: Das Schöne, das Gute, der Reichtum und das Gesunde gelten als erstrebenswert. Über Jahrhunderte sind dies die Leuchttürme, die die Richtung weisen. Aber könnte es sein, dass wir Irrlichtern folgen?
Schaut man sich (kritische) Diskussion dieser vier Zielnormen an, setzen diese meist bei der Bestimmung des Inhaltes an. Man fragt: „Was ist schön, gut, erfolgreich oder gesund?“ Dazu gibt es Tonnen von Sachbüchern und somit auch viele, einander widersprechende Antworten. Jeder kennt das.
Die grundlegendere Frage, ob diese Ziele für die Psyche als solche funktional oder hilfreich sind, führt eher ein Schattendasein.
Ich denke, man kommt um eine Analyse dieses psychologischen Veränderungsschemas – „Erreiche als attraktiv geltende Ziele!“ – nicht herum, will man verstehen, ob es für seelisches Wohlbefinden im Kern funktional oder dysfunktional ist. Wir beginnen und fragen:
Hilft Schönheit als Kriterium für ein gelingende seelische Entwicklung?
Hier stößt man auf ein zentrales Problem: Die Seele selbst ist unsichtbar, so dass einem erstmal nur der Körper bleibt, um für Schönheit zu sorgen. Man schminkt und rasiert nicht die Seele am Morgen, sondern das Gesicht. Genau das ist einer der Gründe, warum sich dieser Zielwert schon Jahrhunderte hält: Er ist unmittelbar sicht- und überprüfbar und in seiner Wirkung relativ verlässlich erkennbar! Die Regelmäßigkeit, die Ausdauer und die Inbrunst mit der Menschen versuchen sich körperlich zu verschönern, sind deshalb Teil unserer Kultur und ernähren ganze Branchen und Wirtschaftszweige. Nur wenige entziehen sich dem und dies fällt dann auch sofort auf. Das Problem: Körperliche Schönheit ist vergänglich! Make-up verfällt, Muskeln verkümmern, Botox wird abgebaut, Haut wird faltig. Folglich erwachsen aus Schönheitspflichten Daueranstrengungen. Ob das glücklich macht? Ich komme darauf zurück. Aber sollte man versuchen, eine schöne Seele zu bekommen? Hier betritt man unklares Gelände. Die Wirkungen eines Fitness-Workouts kann man sehen, die Effekte eines Selbsterfahrungsworkshops nicht unbedingt. Seelische Schönheitsfarmen brauchen eine Botschaft, brauchen Glaubwürdigkeit. Woher nehmen? Hier kommen die alten Weisheitslehren, säkulare Religionen (wie Yoga, Ayurveda etc.), Psychogurus und alle Spielarten von Esoterik ins Spiel. Auch hier gibt es einen unübersehbaren „Markt“. Die Versprechungen bestehen dann mehr in Heil und Heilung, Erfüllung, authentischer Erfahrung, Intensität, Inspiration u.a.m. – allesamt auch Ersatzbegriffe für seelische Schönheit. Ziele, die aber eben auch suggerieren, dass der gegenwärtige Zustand ungenügend und verbesserungsbedürftig sei. So bleibt man im Rahmen der gängigen, oben angesprochenen Motivation und damit bei dem Effekt, dass erst das Erreichen des Ziels vom Mangel des defizitären Zustands befreit. Um nicht zu sehr zu entmutigen, arbeiten daher seelische Schönheitskonzepte so gut wie immer mit Stufenplänen und Graden von seelischer Entwicklung. Auch wer noch nicht in der 7. Endstufe angekommen ist, kann doch schon auf Stufe fünf auf untere Stufen zurück- oder herabblicken. Aber ist das wirklich funktional?
Macht Reichtum glücklich?
Eine sehr traditionsreiche Zielsetzung, die mit seelischem Glück verbunden wird, ist Reichtum. Dem Anhäufen von Ressourcen ordnen viele Menschen ihr gesamtes Leben unter. Varianten des Besitzes sind Erfolg, Karriere, Ansehen, Renommee. Die Annahme ist, dass wer Erfolg hat und reich wird, etwas richtig macht. Diese Idee wurde mit dem Ende der ständischen Gesellschaft im Ausgang des Mittelalters geboren. Plötzlich waren alle gleich, und es war eine Frage des Leistungswillens und des Einsatzes, wohin man im Leben kam. Vom Tellerwäscher zum Millionär – nur sind Millionäre wirklich glücklicher oder auch nur zufriedener? Da mag nun jeder seine eigene Meinung haben. Worauf es mir ankommt, ist,
- dass auch diese Zielsetzung in den allermeisten Fällen durch Endlosigkeit imponiert. Nur wer so gebaut ist, dass er nach der ersten Million eine zweite verdienen will, verdient die erste. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Die Anstrengung bleibt. Die Sorgen bleiben. Die unerfüllten Wünsche ebenso.
- Ganz besonders jedoch scheint mir der Sog fatal zu sein, Bedürfnisbefriedigungsmittel mit Bedürfnissen zu verwechseln. Das Essen im Sternelokal macht seelisch nicht satt. Bewunderer schenken keine Liebe. Weltreisen erzeugen keine Vitalität. Bilder in der Presse erschaffen kein Selbstbewusstsein. Eher im Gegenteil. Reichtum macht oft arm, weil die Selbstwahrnehmung in der Jagd auf äußere Erlebnisse auf der Strecke bleibt und dann stumpfe Seelen in exaltierten Umgebungen ihre Verlorenheit kultivieren.
Die gute Seele als Ziel?
Es hat eine lange Tradition, seelische Veränderung mit Moralfragen zu behandeln. Persönliche Eigenarten werden mit dem Schema gut/böse untersucht. Das ist übersichtlich: Etwas oder jemand ist dann gut oder böse. Mit Hilfe solcher Urteile hat man eine Orientierung, von wem man sich fernzuhalten hat und wer als Vorbild dienen könnte. Will man eine gute Seele bekommen, waren die Religionen sehr lange die Quelle der nötigen Informationen. So ging es dann darum einen Weg zu finden, der in inneren Haltungen wie Barmherzigkeit, Mitgefühl, Güte, Fürsorglichkeit u.ä. sein Ziel fand. Das gibt es natürlich weiter, auch wenn man sehen kann, dass die Religionen durchaus uneins sind, welche Haltungen ins Paradies führen. Selbstverständlich haben sich säkulare Äquivalente entwickelt. Beliebte Kandidaten dafür sind Achtsamkeit, ökologisches Bewusstsein, Zugewandtheit, Gemeinwohlorientierung oder Gerechtigkeitsempfinden.
Diese Form der Zielsetzung seelischer Entwicklung leidet unter vielfältigen Schwierigkeiten. Aus guten Motiven können verlässlich auch schlechte und schädliche Wirkungen entstehen. Mit den Hinweisen darauf, dass (vermeintlich) gute Menschen auch Problematisches generieren (Missbrauch durch Menschen, denen Kinder anvertraut sind, Selbstbereicherung bei Menschen, die für Gerechtigkeit stehen etc.), werden solche Entwicklungsentwürfe immer auch schon diskreditiert. Umgekehrt – böse Taten können gute Wirkungen haben (Tyrannenmord, Rettung des Lebens der Mutter durch Tötung des Fötus etc.) Für das Innenleben hat dieses Veränderungsverständnis große Nachteile: Erstens ist auch mit dieser Unterscheidung die Seele nie am Ziel. Man kann immer noch besser, noch gütiger etc. werden. Zweitens kann man sich nie sicher sein in Bezug darauf, was das Gute ist. Und drittens ist es schwer, einen Umgang mit den (vielen) uneinsichtigen bösen Menschen zu finden. Kreuzzüge gibt es ja nicht nur im Mittelalter. So überzeugt auch das „Gut-Sein“ als Ziel seelischer Veränderung nicht wirklich. Dennoch wird es weiterhin gern benutzt und führt zwangsläufig zu scharfen Konflikten und gesellschaftlichen Spaltungen. Was dann?
Bietet der Unterschied von gesund und krank einen hilfreichen Ausweg?
Das körpermedizinische Differenzierungsschema von „gesund/krank“ mit seiner klaren Bevorzugung von Gesundheit ist ebenfalls einer der Grundpfeiler unserer Kultur. Alle Theorien, die Krankheit als ebenso wichtig ansehen, fristen ein Schattendasein und gelten weitgehend als unwissenschaftlich. Das möchte ich hier in seinen destruktiven Konsequenzen nicht weiter verfolgen. Für unseren Fokus der seelischen Veränderung kommt es mir hier darauf an, dass die Unterscheidung von gesund und krank im psychischen Bereich die Folge hat, dass es darum geht, seelisch gesund zu sein und kranke Aspekte zu beseitigen. Das führt jedoch zwangsläufig zum „Kampf“ um das Label „seelische Gesundheit“. Keiner will seelisch krank sein. Wer angeblich seelisch gesund ist, hat gute Gründe, Veränderungsvorschläge von sich zu weisen. Es entwickeln sich folgerichtig psychologische Theorien, die gesunden Narzissmus von der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, gesunden Perfektionismus von Zwängen, gesunde Abgeklärtheit von Gefühlsarmut, gesunde Trauer von Depression usw. unterscheiden. Sonst entstünde in diesem Schema die „Not“, dass zu viele Menschen seelisch krank wären. Seelische „Krankheit“ muss begrenzt werden. Das ist in diesem Feld leichter möglich, da sie nicht so leicht zu messen ist, wie Fieber, Verstopfung oder Bluthochdruck und somit ein größerer Einschätzungs- und Definitionsspielraum dessen bleibt, was gesund ist. Damit weiß die Psychologie vermeintlich, was nicht sein soll – nämlich Krankes. Sie definiert dann Gesundheit vornehmlich als Abwesenheit von krankhaften Zügen oder Episoden. Alternativ sucht man nach einer „positiven Psychologie“, deren Messkriterien das Erreichen von Glück, Flow und Erfolg sind. Damit bleibt dann wiederum undiskutiert, ob Dauerglück wirklich glücklich macht und Ausdruck „seelischer Gesundheit“ ist. Auch hier ist der gedanklich m.E. eher desaströse Unterbau der Unterscheidung von gesund und krank gut getarnt, so dass er weiterhin benutzt wird und werden kann.
Zwischenthese
„Schön“, „reich“, „gut“ und „gesund“ taugen nur sehr begrenzt als Orientierungsgeber für Zielsetzungen seelischer Veränderungen.
Die immer schon sichtbaren Begrenzungen dieser Konzepte verschärfen sich jedoch nochmals in besonderer Weise, je vielfältiger, diverser, dynamischer und komplexer die Welt wird, mit der man seelisch zurechtkommen muss. Denn die Kriterien dessen, was als schön, reich, gut und gesund angesehen wird und was sich damit als verbindlich durchsetzen kann, lassen sich kaum mehr stabil halten oder gar verobjektivieren. Seelische Veränderung bräuchte also andere Konzepte für Formate des Gelingens oder Scheiterns. Wie könnte eine Alternative aussehen?
Die Ko-Existenz der Systeme
Körper, Seele und Soziales sind zwar getrennte Systeme, aber nicht getrennt lebensfähig. Bislang ist es nicht gelungen, die Seele oder auch nur das Bewusstsein aus dem Hirn downzuloaden und gesondert abzuspeichern (siehe für ein solches Szenario den Roman Hollogrammatika), noch entwickelt sich ein Ich-Bewusstsein ohne andere Menschen (siehe Teil 4 der Serie), noch weiß man so recht, ob Kommunikation ohne Menschen (etwa ausschließlich über „künstliche“ Existenz) möglich wäre. Bis auf weiteres sind organismisches, psychisches und soziales System unter Kopplungszwang. Dazu kommt die ökologische Umwelt, auf die der menschliche Körper nur in einem sehr kleinen Korridor mit Anpassung reagieren kann (Temperaturen, Gifte etc.).
Wenn man diese Gedanken akzeptiert, bedeutet das, dass der psychische Prozess gerade darin besteht, dass er dauerhaft mit der Gebundenheit an seinen Körper, seine soziale und die ökologische Umwelt zurechtkommen muss. Aus reinem Selbsterhalt wäre Leben dann die Aufgabe, die Verbundenheit mit allem zu erleben und darauf zu antworten. Eine solche Antwortkompetenz darf angesichts der Komplexität der Verhältnisse nie und nimmer einseitig einen Beobachtungsaspekt wie schön, reich, gut oder gesund zum Bezugspunkt nehmen, weil man sonst inkompetent bleibt im Umgang mit den Gegenpolen. Man kann eher annehmen, dass dies ein besonders sicherer Weg der Selbstzerstörung ist. Macht man sich diesen scheinbar banalen Sachverhalt klar, sind Regeln und Normen für einfache Zusammenhänge sinnvoll: „Wenn es dich friert, dann zieh dir was an, sonst reagiert dein Körper mit Erkältung!“ Aber lässt sich Komplexes wie die Liebe mit Regeln – „So hast Du lebenslang eine liebevolle Beziehung!“ – bearbeiten? Oder kann man mit Ausführungen à la „So geht Führung!“ oder „So funktioniert ein Team!“ wirklich diese Lebensfelder beackern? Wohl eher nicht! Schon deshalb nicht, weil Komplexität immer nur zu labilen Gleichgewichten findet und nur in kontinuierlichen Aushandlungsprozessen Stabilität finden kann.
Die Seele – so meine These – braucht um mit Umwelt, Körper und sozialer Kommunikation zurecht zu kommen Wahlfreiheit zwischen gleichwichtigen und zusammengehörenden Polen. Stimmte das, dann wäre gesund so wichtig wie krank, arm so wichtig wie reich, gut so wichtig wie böse und schön so wichtig wie hässlich.
Pointiert formuliert: Wer nicht auch den Spielraum hat, hässliche, arme, böse und kranke Lebenssituationen zu nutzen, daraus zu lernen, mit ihnen zurecht zu kommen, der hat nicht ausreichend seelische Komplexität aufgebaut, um mit der Welt, wie sie ist, zurecht zu kommen.
Veränderung wäre dann weder Verbesserung der Person, noch Vollendung seiner selbst, noch die Erreichung eines Ideals, sondern die Zunahme innerer und äußerer Möglichkeiten in der Begegnung mit dem eigenen Körper, den anderen und der Welt im Ganzen. Die ständig neu entstehenden Alternativen des Lebens erzwingen neue Entscheidungen, die immer Vor- und Nachteile mit sich bringen. Mit beidem muss man wiederum gut leben lernen. „Der Sinn des Lebens ist zu leben.“, wie die ungarische Philosophin Agnes Heller es mal formulierte.
Wenn man davon ausgeht, dass Menschen psychisch ein Leben lang auf Reize der körperlichen und sozialen Umwelt zu antworten lernen, dann kann niemand mit Veränderung seiner seelischen Struktur je fertig sein. Vor allem aber kann man nie für sich oder andere im Vorhinein wissen, was sich bewährt. Orientierung käme dann dadurch zustande, dass man spielerisch auswertet, was die Folgen der eignen Antworten sind. Passendes wiederholt man, Unpassendes lässt man und probiert Neues oder Varianten. Es erscheint naheliegend und wahrscheinlich, dass diese Antworten einerseits spezifisch, situationsbezogen und wechselnd sein müssen. Andererseits muss man schon aus Entlastungsgründen auch Routinen, Schemata und Gewohnheiten nutzen. Zudem müssen sie den Möglichkeiten und Begrenzungen des Körpers wie des sozialen und ökologischen Umfeldes entsprechen. Eine einseitige Optimierung irgendeines Fokus zieht immer Kosten an anderen Stellen nach sich: Karriere geht auf Kosten der Beziehung zu den Kindern, sportliche Betätigung belastet das Zeitbudget für soziales Engagement und die fachliche Weiterbildung, Freude am Wein fordert die Leber…! Oder – der Erhalt günstiger Lebensbedingungen auf der Welt wird nicht ohne Verzicht, mit dem man sich anfreundet, möglich sein. Aber man kommt in einer solchen Denkart ohne Norm, ohne Entwicklungsstufen, ohne allgemeine Richtigkeiten und damit ohne Defizitzuschreibungen aus.
Menschliche Veränderung ist in diesem Verständnis die Gestaltung von Kontakt zu ständig sich ändernden relevanten Umwelten.
Weil diese Gestaltung aber immer Gelingen und Misslingen gleichzeitig erzeugt, immer Wirkungen und Nebenwirkungen hat, kann Leben nicht im Glück verharren
Stattdessen lohnt es sich, die Fähigkeit zu entwickeln, Glück wie Unglück zu leben und beides zu nutzen für sich wie die relevanten Umwelten.
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