Ich kann, ich darf, ich will, ich werde
Vorsatz, Wille, Handlung – dieser Drei-Schritt prägt immer noch in weiten Teilen unsere Kultur. Wer etwas an sich ändern will, muss sich erstens etwas vornehmen, dann zweitens es wirklich wollen und es drittens tun. Und wer das nicht schafft, gilt leicht als faul, als Versager, als undiszipliniert, als willens- oder umsetzungsschwach. Die meisten Menschen nehmen es sich selbst übel, wenn sie ihre Vorsätze nicht einhalten oder schnell wieder aufgeben. Sie geraten in Selbstvorwürfe und damit in destruktive und stagnative Prozesse. Aber wieso ist der Weg in die Hölle angeblich mit guten Vorsätzen gepflastert?
Dieser 8. Teil meiner Serie erläutert, wieso obige Handlungstheorie viel zu undifferenziert und in vielen Fällen daher auch ungünstig und schädlich ist. Wer sich ändern will, braucht mehr als kognitive Einsicht, Entschlossenheit und Tatkraft. Wenn es denn nur so einfach wäre…! Was also braucht es, um ein inneres Set zu haben, welches Veränderung ermöglicht?
Um sich in Veränderungsprozessen nicht zu überfordern bzw. nicht an der falschen Stelle anzusetzen, kann man sich an den titelgebenden vier Verben orientieren: Ich kann, darf, will und werde. Substantivisch formuliert: Habe ich ausreichend innere Struktur, ausreichend Akzeptanz, ausreichend Frustrationstoleranz und ausreichend Kraft? Zu diesen vier Grundaspekten jeglicher seelischer Veränderungskompetenz mache ich nun jeweils einige Andeutungen – mehr als das wird es in der Kürze eines solchen Artikels nicht werden können.
„Kann ich?“ – oder die Frage, wie heil ist mein „seelisches Skelett“?
Mit „seelischem Skelett“ meine ich hier die grundlegenden seelischen Strukturen, die es Menschen erlauben, sich und ihr Leben zu regulieren. Dazu gehören u.a. die Fähigkeiten,
- alle aufkommenden Impulse in sich zu spüren und benennen zu können und z.B. nicht einfach nur in Aufruhr zu geraten,
- innere Spannungszustände zu tolerieren (z.B. auf etwas warten können oder hin-und hergerissen zu sein und nicht etwas gleich, unbedingt und ohne Abstriche haben zu müssen),
- sich zu energetisieren und wieder herunter zu regulieren (z.B. Freude, Lust, Trauer oder Ärger aufkommen und abebben zu lassen und nicht in Dauerenergie oder Dauerentladung zu verharren),
- positive wie negative Gefühle zulassen zu können und nicht einem Wohlfühlzwang zu unterliegen oder im Leid zu baden,
- Beziehungen zu genießen und sowohl nah wie fern sein können,
- sowie einen inneren Beobachter mobilisieren zu können, der es erlaubt eine reflektierende Distanz zu sich selbst aufbauen zu können.
Wie man an der Liste schon sehen kann, erwachsen aus fehlenden „Skelettteilen“, durchaus imposante Disregulationen und potentielle Schwierigkeiten mit anderen. Menschen sind dann ohne plausible Erklärung unausgeglichen, verwirrt, unentschieden, genervt, manipulierend, verletzend, klammernd, verstoßend, uneindeutig, widerspüchlich, in Angstzustände, zwanghaft, somatisierend, alarmistisch, u.v.a.m.
Um solche Mängel auszugleichen, sind sie auf ungünstige Ersatzprozesse angewiesen, die sich hier nicht alle benennen lassen. Besonders häufig sind allerdings strenge und generalisierte innere Überzeugungen, die eher schlecht als recht den fehlenden Halt liefern. Sätze wie: „Reiß Dich doch zusammen!“, „Das wird nie was!“, „Du schaffst das nie!!, „Niemand mag Dich!“, „Keiner kommt mit Dir zurecht!“, „Du bist immer nur eine Last!“ und hundert andere mehr liegen wie Zementsäcke auf den Schultern der Betroffenen. Aber auch weniger auffällige Aussagen können auf fehlende „Seelenknochen“ hindeuten: „Du zählst nur, wenn Du Verantwortung trägst!“, „Du musst immer Dein Bestes geben!“, „Das ist nun mal Deine Aufgabe!“, „Du darfst nicht nachlassen!“ oder „Die anderen werden irgendwann merken, dass bei Dir nichts dahinter ist!“.
All solchen Sätzen ist gemeinsam, dass Menschen, die nicht wirklich Halt haben, sich mit innere Härte und rigide Regeln behelfen. Sie werden mit sich selbst unglaublich streng und hoffen sehr häufig bei Partnern, ihren Kindern, der Rolle im Job, in Gruppen, bei ihren Anhängern etc. Sicherheit zu finden. Dabei werden sie oft symbiotisch abhängig von diesen Umständen oder sie suchen sich Feindbilder, die bekämpft werden können und auf diese Weise Orientierung geben. Auch wenn die inneren und äußeren Prozesse sichtlich problematisch sind, können sie nicht einfach verändert werden. Nicht weil die Menschen nicht wollen, sondern weil sie nicht können. Appelle oder Vorsätze helfen da nicht weiter.
Wenn jemand keine Beine hat, sagt man ja nicht „Steh auf und geh! Streng Dich halt ein wenig an!“.
Das wäre zynisch. Nicht anders ist es bei seelischen Versehrungen dieser Art. Anstrengung hilft nicht, sondern vergrößert die Verzweiflung. Was solche Menschen brauchen um sich zu verändern, sind Rahmenbedingungen, in denen in ihnen die Sehnsucht, heil zu sein, wieder wachsen kann. Es braucht den Wunsch und nicht den Willen (!) mit der eigenen Kraft und Energie der Welt und anderen Menschen begegnen zu wollen. Der Seele können durchaus wieder „Beine wachsen“, sofern sie nicht muss, sondern einen Nährboden hat, auf dem es attraktiv wird, „Ich“ zu sagen. Solche Rahmenbedingungen bestehen z.B. in Therapieformen, die nicht auf Verhaltensänderungen setzen, sondern auf Begegnung. Denn, wenn das Gegenüber etwas will (Stabilität, Kontakt, Beruhigung, Ende des Aufruhrs, Verlässlichkeit u.v.a.m.), dann setzt sich das Drama fort: Der Klient muss sich ändern – auch in der Beratung – und fühlt sich neuerlich unzulänglich. Er braucht ein durch und durch absichtsloses Gegenüber und nicht neuerlich eins, das klare Vorstellungen hat, wo es hingeht. Diese Haltung „Du bist genug, schön und passend, so wie Du jetzt gerade bist!“ ist aber auch unter Coaches und Therapeuten nicht so weit verbreitet. Die meisten Beratungskonzepte haben einen Plan, ein Behandlungs-, Therapie- und Beratungsziel, das in einer Differenz zwischen dem Status quo und dem „Richtigen“ besteht. Genau aus diesem(!) Grund profitieren Klienten mit derartigen Themen nicht von solchen Formaten, weil die Kernthemen der Persönlichkeit (= „Ich kann“) eher neuerlich verwundet („Selbst als Klient scheitere ich!“) als gebessert werden.
Fazit 1: Wem „seelische Skelettteile“ fehlen, der braucht sich mit mit den Problemen um dürfen, wollen oder tun erst gar nicht zu beschäftigen. Das führt zu nichts, außer dem Gefühl ein Versager zu sein. Die Folgen fehlender Selbststeuerungskompetenzen bestehen ein Leben lang (oft subtil) in permanenter Angst, Wut, Verzweiflung oder Leere. Weil das sehr unangenehm ist, soll das weggehen. Das ist dann der Auftrag an den Coach oder Therapeuten. Steigt dieser darauf ein, ist dies der sichere Weg, dass diese Zustände erhalten bleiben.
„Darf ich?“ – oder die Frage, wie gut bin ich zu mir?
Gut zu sich sein, ist Bedingung aller Veränderung. Wer sich treibt, zwingt und anklagt, mag zwar wirksam sein und Ziele erreichen, aber er verändert sich nicht. Dabei gilt es mit einem gängigen Missverständnis auszuräumen.
„Gut zu sich sein“ bedeutet beileibe nicht, alles an sich gut zu finden.
„Gut“ ist in diesem Satz hier nicht der Inhalt einer Bewertung, sondern eine Haltung der Akzeptanz (die Bejahen und Verneinen umfasst). Man kann also sehr wohl gut zu sich sein, indem man etwas falsch findet, was man gemacht hat. Das entscheidet sich daran, ob die Verneinung mit innerem Wohlwollen verbunden ist. Paradox formuliert: Ob ein ‚schlechtes‘ Gewissen ein gutes oder schlechtes Gewissen ist, entscheidet nicht der Inhalt, sondern die Art, wie innerlich die Bewertung präsentiert wird.
„Gut zu sich sein“ heißt, sich nie abzusprechen, dass man grundsätzlich liebenswert ist, und darauf zu verzichten, sich nach einem Bild zu formen, wie man zu sein hat oder glaubt sein zu wollen. Verändern tun Menschen sich demnach dann, wenn sie an Stellen gut zu sich werden, wo sie sich bislang bekämpft haben. Wenn ein Coachee zu mir sagt, er möchte in der Vorstandssitzung nicht mehr schüchtern sein, dann frage ich gelegentlich zurück, was denn diese Schüchternheit dazu sagt, wenn sie hier „weggecoacht“ werden soll. Der Kampf gegen bestimmte Seiten oder Impulse in sich prägt bei manchen Menschen das gesamte Leben. Das korreliert allerdings überhaupt nicht mit Erfolg. Erfolgreiche Menschen sind sehr häufig nicht gut zu sich, ebenso wie erfolglose.
Die Entwicklung einer guten, selbstakzeptierenden Haltung ist Voraussetzung einer lebenslang gelingenden Veränderung. Veränderung ist etwas anderes als sich irgendwohin zu zwingen oder sich zu dressieren (Siehe Teil 1 meiner Serie). Wer zu einer solchen Haltung finden will, der beschäftigt sich so gut wie immer wieder und wieder mit der Frage:
„Was ist das Risiko, das ich eingehe, wenn ich mich selbst von Herzen liebe?“
Wer sich selbst nicht oder wenig liebt, hat immer auch Angst davor, empfindet Beschämung, kommt in Berührung mit alter Trauer und Einsamkeit. Genauso kann man es als gefährlich erleben, wenn man den inneren Zuchtmeister, Ankläger oder Richter aufgibt, weil diese Stimmen viel Halt und Orientierung geben.
Fazit 2: Wer nicht gut zu sich ist, hat es schwer im Leben. Allerdings gibt das innere „Sei anders, als Du bist“ oftmals sehr viel Halt und Orientierung. So halten Menschen oft unerbittlich daran fest, über sich zu Gericht zu sitzen und die Nicht-Akzeptanz der eigenen Person zu pflegen. Das Loszulassen ist deshalb schwerer als man denkt. Die inneren Überzeugungen, dass es in Katastrophen endet, wenn man sich in Liebe hegt, können sehr ausgeprägt sein.
„Will ich?“ – oder die Frage, wie gut kann ich verzichten?
Wer „kann“ und wer „darf“, der hat eigentlich die innere Basis, zu entscheiden, was er will. Wie kann das Wollen dennoch beeinträchtigt sein? Das kann auf mehrerlei Weise geschehen. M.E. ist das häufigste und wichtigste aller schädlichen Muster in diesem Feld – und auf dieses beschränke ich mich hier, dass man nur wollen will, wenn man bekommt, was man möchte. Mit einem solchen Schema versucht man quasi im Vorhinein sicher zu stellen, dass ihr Bedürfnis befriedigt wird. Man entwickelt – im Vergleich gesprochen – nur Hunger, wenn es auch sicher etwas zu essen gibt. Doch dieses Vorgehen schränkt unglaublich ein. Ein paar Beispiele:
- Ich mache nur dann den Mund auf und vertrete meine Meinung, wenn ich sicher zu sein glaube, dass mir zugehört wird. (= Einzigartigkeitsbedürfnis)
- Ich engagiere mich nur dann für die Gruppe, wenn ich sicher zu sein glaube, dass die anderen das wichtig finden. (= Zugehörigkeitsbedürfnis)
- Ich spreche nur dann jemanden an, wenn ich sicher zu sein glaube, dass ich auf Interesse stoße. (= Nähebedürfnis)
- Ich bin nur dann für mich, wenn ich sicher zu sein glaube, dass der andere mir das nicht übel nimmt. (= Distanzbedürfnis)
- Ich probiere nur dann etwas aus, wenn ich sicher zu sein glaube, dass es nicht schief geht. (= Freiheitsbedürfnis)
- Ich sage nur dann etwas verbindlich zu, wenn ich sicher zu sein glaube, dass es mich nicht zu stark einschränkt. (=Sicherheitsbedürfnis)
An diesen Beispielen kann man erkennen, dass man im eigenen Wollen unfrei wird, wenn man darauf angewiesen ist, dass man nicht frustriert wird.
„Wollen“ braucht zu allermeist Frustrationskompetenz. Sonst werden Bedürfnisse mit dem „Wie-geht-es-am-Ende-aus?“-Kalkulator gekoppelt. Mit diesem stirbt die Spontaneität und man gerät ins dunkle Reich der Dauerreflexion: „Soll ich oder soll ich nicht?“ Dieses ungünstige Ambivalenz-Schema ist einerseits quälend und verstärkt sich zusätzlich, wenn es „schlecht“ ausgeht. Wenn sich das „Wollen“ nicht gelohnt hat, geht man anschließend mit sich ins kritisch ins Gericht: „Das hätte ich mir sparen können!“ oder „Wie konnte ich nur so blöd sein und mich so bloßstellen!“.
Fazit 3: Wer mit Enttäuschungen gut zurecht kommt, der kann seinen Bedürfnissen nachgehen und kann mit jedem Ergebnis gut leben. Das macht frei. Die allermeisten Menschen müssen das an der ein oder anderen Stelle lernen. Andernfalls bleibt das Wollen immer eingeschränkt und auf den Bereich des Abgesicherten begrenzt. Das Leben stagniert.
„Werde ich?“ – oder die Frage, wie viel Kraft stelle ich mir zur Verfügung?
Wer Kindern zuschaut, wie sie auf eine Hüpfburg zurennen, der weiß auch, wie es ist, wenn man dem Können, Dürfen und Wollen seinen Lauf lässt. Ein oft unterschätzter Faktor in seelischen Veränderungsprozessen besteht darin, wie entschlossen, wie eindeutig, wie kraftvoll, wie energetisiert, wie vital, wie unbeirrt man im Tun und Handeln wird bzw. werden kann. Wer etwas kann, darf und will, aber in der Umsetzung kraft- und saftlos bleibt, der ist am Ende auch gescheitert.
Wie kommt es zu solchen Phänomenen? Auch hier spielen verinnerlichte Erfahrungsschemata eine große Rolle. Jedes Kind testet vom ersten Atemzug aus, ob die Eltern seiner Kraft und Energie gewachsen sind. An den Stellen an denen die Eltern in ihrer Vitalität abfallen, laufen die Kinder ins Leere. Zu allermeist regulieren sie sich dann auf das Lebendigkeitsniveau des Gegenübers zurück. Eltern „erziehen“ ihre Kinder durch die Atmosphäre, die von ihnen ausgeht. Läuft der Vater nur auf 2 Zylinder, wird es der Sohn, die Tochter auch tun.
Das Wilde, Ungestüme und Vitale ist bei jedem Menschen anders ausgeprägt. Nicht unbedingt nur laut, sondern durchaus auch leise, nicht nur Rock ’n Roll, sondern auch Jazz oder Mozart. Wem aber seine eigene Form die Kraft zu leben, verloren gegangen ist, der wird als Erwachsener unterdosiert bleiben, zu uneindeutig sein und zu früh aufgeben, wenn es schwer wird. Das untergräbt das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit. So wird man noch vorsichtiger und so entsteht ein Teufelskreis, der in die Stagnation führt. Das unweigerliche Risiko jeder Handlung kann ohne Kraft nicht wirklich entspannt getragen werden. Auch das fördert die Vorsicht und man tut nichts, wiewohl man könnte, dürfte und wollte.
Fazit 4: Handeln ist immer riskant. Daher braucht man die richtig dosierte Kraft, um die Wahrscheinlichkeit des Gelingens hoch zu halten.
Wer Löwe ist, aber mit Enten groß geworden ist, wird das Brüllen nicht wirklich entwickelt haben.
Das heißt aber nicht, dass der Löwe zur Ente geworden ist, auch wenn er Gründeln kann. Wer gelernte Ente ist, kann den Löwen in sich auch später noch wieder entdecken. Oft gelingt das über Partner, Freunde, mit Hilfe von Hobbies oder im Sport. Wenn diese Wege nicht helfen, lohnt es sich, sich Unterstützung zu suchen. Auch hier ist es wichtig, auf das Energielevel der Therapieform oder der Person des Beraters/der Beraterin zu achten. Allzuschnell wiederholt sich sonst das Muster…!
In Summe gilt: Veränderungsprozesse brauchen eine Differenzialdiagnostik. Wenn nicht unterschieden wird, wo genau jemand beeinträchtigt ist und sich hemmt, passiert entweder nichts oder das Falsche.