These 4: Organisationale Veränderung braucht psychische Wahrnehmung
Wenn – systemtheoretisch gedacht – Organisationen zwar kommunizieren, aber nicht wahrnehmen können, und Menschen zwar wahrnehmen und sprechen, aber nicht kommunizieren können, dann sorgt dies des öfteren für Empörung, weil darin eine Herabwürdigung des Menschen o.ä. gesehen wird. Aber genau das Gegenteil ist der Fall!!! Organisationen brauchen für Veränderungen ihrer Entscheidungsmuster nichts so dringend, wie psychische Wahrnehmung. Das sei hier so deutlich gesagt, weil die systemtheoretisch konzipierten Lesart den psychischen Fähigkeiten einen sehr präzisen Ort in der Organisationsdynamik gibt. Um diesen Ort soll es hier kurz und knapp gehen.
Wenn ein Mensch etwas mitteilt, was er wahrgenommen hat, dann passiert mehreres gleichzeitig:
- Er macht aus seiner Wahrnehmung eine Information. Jemand hört Musik. Ein anderer kommt und fragt, „Was machst Du?“. Er antwortet „Ich höre Musik“. Jetzt (und erst jetzt) ist es eine Information, die mitgeteilt wurde, weil er die Frage beantworten wollte. Und in dem Moment hört er aber nicht mehr Musik, sondern teilt sich mit. Er beschäftigt sich nun mit Kommunikation und nicht mehr mit Wahrnehmung. Seine Aufmerksamkeit hat sich verschoben.
- Es verdoppelt sich die Welt. Es gibt nun das Musikhören (wahrgenommene Welt) und es gibt die Information/Mitteilung „Ich höre Musik“ (gewusste Welt). Nur über diese gewusste Welt kann Kommunikation entstehen. Weil – in unserem Beispiel – kann der Fragesteller nicht das Musikhören das anderen hören, noch kann er dazu ja oder nein sagen. Die Wahrnehmung des einen ist für den anderen unerreichbar.
- Die kommunikative Welt entsteht, wenn der andere nicht schweigend geht, sondern reagiert, in dem er die Mitteilung des einen annimmt oder ablehnt: Er glaubt es oder auch nicht. Er kann nicht die Wahrnehmung des anderen anzweifeln, aber sehr wohl die Mitteilung der Wahrnehmung: „Das sagst Du nur, damit ich Dich in Ruhe lasse!“. Er kann es auch glauben und sagen: „Ach wie schön, da entspannst Du Dich doch immer so schön!“. Egal wie, die kommunikative Welt basiert auf zustimmenden oder ablehnenden Verstehen. Das hält sie am Laufen. Darum sind Konsens und Konflikt untrennbar mit Kommunikation verbunden. Kommunikation, die nur auf Konsens ausgerichtet wäre, käme zum Erliegen.
Das hat nun Folgen für die Veränderung von Kommunikationssystemen. Organisationen müssen Entscheidungen treffen. Ständig. Diese Entscheidungen basieren auf mitgeteilten Wahrnehmungen der Mitarbeiter. Daher spielt es eine enorme Rolle, welche Wahrnehmungen die Mitarbeiter in die Kommunikationen bringen, bringen dürfen, bringen können, bringen sollen. Das unterschätzte Problem dabei: Menschen nehmen die gleiche Situation, die gleiche Präsentation, das gleiche Kundenfeedback, das gleiche Qualitätsproblem meist sehr unterschiedlich wahr. Daher ist Konflikt, Widerspruch oder Ablehnung als Ergebnis von Kommunikation zunächst mal wahrscheinlich(er). Es braucht also gesonderte Prozesse und Strukturen, dass man zu zustimmenden Formen des Verstehens kommt. Solche Strukturen können sein „Das ist einer von uns, also hat er recht!“, „Den brauche ich für meine eigenen Ziele, also stimme ich ihm zu!“, „Der Chef hat es gesagt, also mach ich es!“ oder 1000 andere Möglichkeiten. Soziale System geben deswegen sehr ungern einen einmal erreichten Stand der Zustimmungs- und Ablehnungsbereitschaft auf. Das hält das System stabil und schützt aber auch vor dem kommunikativen „Eindringen“ von Wahrnehmungen, die unerwünscht sind oder zur Überprüfung von Ablehnungsbereitschaft führen würden. Der einfache Appell „Jetzt hört mir doch mal zu, ihr versteht mich nicht!“ führt ja meist zu weiterem Dissens.
Organisationen verändern sich, wenn neue, nicht zu den vorhandenen Erwartungen passende Wahrnehmungen in die Kommunikation kommen. Also einfacher – wenn Mitarbeiter Gesehenes, Gehörtes, Erlebtes, Gespürtes, Gefühltes und Gedachtes mitteilen, auch wenn dies als falsch, ungeliebt, lästig, feindlich, störend, bremsend, ängstlich, skeptisch, gefährlich o.ä. interpretiert werden könnte. Das ist umso unwahrscheinlicher, je mehr Werte und Normen es gibt.
Wenn eine Organisation die bestehenden „Meinungen“ normativ auflädt (= So ist es richtig!), desto unwahrscheinlicher wird die Kommunikation über Wahrnehmungen, die nicht zu den herrschenden Normen und Werten passen. Dadurch verliert die Organisation aber eine Unmenge an Alternativen in ihren Entscheidungsprozessen. Der Entscheidungsraum verarmt und die Entscheidungen werden dadurch schlechter. Das stabilisiert die Organisation in ihrem Muster und Veränderung wird schwer.
Werte und Normen haben also eine bedenkenswerte Schattenseite und sollten daher mit Vorsicht gehandhabt werden. Wir leben in einer Kultur, die allerdings schon seit mindestens 2000 Jahren auf dieses Mittel zurückgreift. Unerwünschte und als gefährlich eingestufte Wahrnehmungen und Impulse der Menschen, werden versucht über Gebote im Untergrund zu halten: „Du sollst nicht …!“. Wenn Organisationen Veränderungen wollen, sollten sie überlegen, ob es nicht günstig wäre, wenn die Mitarbeiter über das reden dürfen, was nicht gesollt ist!