Klaus Eidenschink
Sollen Organisationen moralisch handeln? (Teil 7/8)
Moral und Welt
Dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Darauf kann man sich leicht einigen. Schwerer wird es, wenn man versucht zu bestimmen, wer für den unerwünschten und leidbringenden Zustand verantwortlich ist. Um die Schuldigen zu bestimmen, braucht es Zustelladressen für die jeweiligen Anklagen wegen unterlassener Weltverbesserung: Im TV, in der großen Presse, in Social Media, in Fachzeitschriften – aber auch jeder privat für sich! Da Schuldigsprechen allein nichts besser macht, greift man zusätzlich zu Forderungen, dass es anders zu machen sei.
Wer eignet sich als Adressat? Bei anonymen Gesellen wie der Kapitalismus oder die Wachstumsideologie fühlt sich niemand gemeint. Lange Zeit wurden folglich vornehmlich Politiker und die Regierungen dafür in Stellung gebracht, um sie wegen ihrem unzureichenden Engagement für die jeweilig als gut angesehene Sache anzuklagen. Aber je dominanter das auf Gewinn und Wachstum geeichte Wirtschaftssystem in der modernen Gesellschaft für den gefährdeten Globus wird, desto mehr kommen Manager und Organisationen für moralisch motivierte Verhaltensänderungen ins Spiel.
So fordern immer mehr Menschen, dass auch wirtschaftlich handelnde Organisationen bzw. die Firma, in der sie arbeiten, die Welt besser machen sollen. Sie sollen etwa nachhaltig wirtschaften, sich den SDG-Zielen der UNO verpflichten oder ihre Geldanlagen moralisch ausrichten – die immer schon gängigen Forderungen nach gerechter Bezahlung, humanen Arbeitsbedingungen und sozialem Engagement eingeschlossen. Man könnte durchaus den Eindruck bekommen, dass es einen wiedergeborenen Moses gegeben haben muss, der einen neuen Dekalog vom Berg des Herrn für die herumirrende Wirtschaft heruntergetragen hat.
Nun ist mir nicht danach, mit ernsten Themen – unser Überleben ist gefährdet – zu spaßen. Im Gegenteil. Gerade wenn es ernst ist, braucht es nichts dringender als Reflexion, ob die ventilierten Ideen, die zur Verbesserung und Rettung der Verhältnisse vorgetragen werden, wirksam sind oder es überhaupt sein können.
Moral und Geschäft
Dass Wirtschaft auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein muss, ist weitgehend unbestritten. Das heißt, dass im gegenwärtigen System kein Unternehmen dem Zwang entkommt, sich zu refinanzieren. Es muss mehr einnehmen, als es ausgibt. Es muss die Zinsen erwirtschaften, um seine Schulden zu bedienen. Es muss Anteilseigner zufriedenstellen, die Rendite erwarten. Kein Unternehmen kann daran für sich etwas ändern. Erst recht nicht einzelne Entscheider:innen. Wird nun erwartet, dass Organisationen ihre Entscheidungen nicht (nur) an der Frage ausrichten, was Gewinne und was Verluste erbringt, sondern auch, was moralisch wertvoll oder verwerflich ist, dann führt man ein bedeutsames und weitreichendes Konfliktfeld in die Unternehmen ein. Dazu gleich mehr. Zunächst: Wie kommt es zu so einer Erwartung? Wirtschaftsunternehmen sind ja – anders als Kirchen – keine moralischen Institutionen! Man kann sich die Antwort auf diese Frage leicht machen und einfach sagen, dass man das erwarten muss(!), um die Welt zu retten. Das scheint mir allerdings beileibe nicht der einzige Grund zu sein.
Hält man nach anderen möglichen Motiven Ausschau, die zu der Idee führen, Organisationen sollten nicht (nur) wirtschaftlich, sondern auch moralisch erfolgreich sein, dann scheint mir einer dabei besonders bedeutsam. Angesichts einer globalen Lage, in der die westliche Lebensweise in engem Zusammenhang mit Gefährdungen der Lebensbedingungen gesehen wird, wollen viele bei dem, was sie tun und wie sie leben, ein gutes Gewissen behalten. Zudem wollen sie aktiv dazu beitragen, dass die Welt weniger Schaden nimmt. Da liegt es auf der Hand, zu hoffen, dass die eigene Firma ein moralisch hochwertiges Geschäfts- und Produktionsmodell an den Tag legt. Auch als Käufer möchte man sich nicht schuldig machen und sucht nach den nachhaltigen und moralisch vertretbaren Waren und Dienstleistungen. So steigen die Ansprüche: Firmen sollen nicht Gewinn machen, sondern Gewinn, der sich rechtfertigen lässt. Die Arbeit soll Erfüllung und gute Bezahlung schaffen, aber eben auch ein möglichst reines Gewissen ermöglichen. Diese Art doppelter Anforderung macht es anspruchsvoll bis schwierig, geeignete Arbeitsumgebungen zu finden. Man möchte sich im falschen Leben richtig fühlen und Organisationen sollen ihre Entscheidungen daran ausrichten. Sie sollen sich einer guten Sache verschreiben! Aber sind moralische Appelle wirklich hilfreich?
Moral und Appell
Appelle häufen sich immer dann, wenn andere sich auf eine Weise verhalten, wie man es selbst für falsch findet. Das führt automatisch zum äußerst unbeliebten Gefühl der Ohnmacht. Man kennt das mit Kindern. „Du solltest mal rausgehen statt immer Computerspiele zu machen!“. Helfen reine Appelle nicht, untermauert man sie mit beschämender Moral. „Richtige Jungs spielen Fußball!“. So sehen sich auch Firmen und deren Management moralischer Appelle ausgesetzt: „Wirtschaftet nachhaltig!“, „Senkt den CO2-Ausstoß!“, „Kein Einkauf bei Lieferanten, die Kinderarbeit nutzen!“ Kann da jemand dagegen sein? Die Plausibilität ist doch überwältigend!
Doch diese hält nur so lange, wie es unkonkret bleibt. Denn im Konkreten sind so gut wie alle moralischen Entscheidungen (wie alle Entscheidungen) anfechtbar und auch anders möglich. Sonst wären es ja gar keine Entscheidungen. Ist Elektromobilität nun moralisch richtig oder geht es nicht eher auf Kosten der Kinder in den Lithiumminen? Ist es moralisch zu rechtfertigen, dass man Energie bei Despoten einkauft? Wenn ja, gibt es da böse und weniger böse? Ist es moralisch geboten die Freiheit der Mitarbeiter im Homeoffice zu unterstützen oder unterstützt man so ihre Vereinsamung? Kann man eine nationale Sondermoral in einem globalen Wettbewerb pflegen? Sind negative Effekte einer solchen Haltung moralisch legitimiert? Das sind schwierige Fragen. Die Streitigkeiten darüber füllen täglich Presse und Parlamentsdebatten.
Da könnte die Frage auftauchen, welche Ausbildung Manager brauchen, wenn sie diese Debatten auch in ihren Entscheidungsmeetings führen sollen? Wer stellt ihnen die Zertifikate für moralisch hochwertige Diskurskompetenz und ethischer Reflexionskompetenz aus? Wieso sollten Betriebswirte, Juristen, Ingenieure, Naturwissenschaftler etc. einfach mal so moralisch abgesicherte Urteile fällen können? Wie kann man wissen, ob Nachhaltigkeit gut ist und worin sie im Konkreten besteht. Diejenigen, die an das Management appellieren, haben es leicht – sie haben die eigene Moral vor Augen. Beim Management laufen somit alle Appelle, die auf ganz unterschiedlichen moralischen Ansichten beruhen, zusammen. Welcher dieser Moralen sollen sie dienen? Aber damit sind die Schwierigkeiten noch nicht ausgeschöpft. Wir kommen zum oben schon erwähnten Konfliktfeld zurück. Kann Moral wirtschaftlich erfolgreich sein?
Moral und Erfolg
Wenn Unternehmen moralisch entscheiden sollen, verlangt man von ihnen, dass sie zwei Logiken folgen. Die Entscheidungen sollen gut sein und sie müssen das Unternehmen erfolgreich halten, also zu Gewinn führen. Ob aber gut und erfolgreich zusammenpassen, ist durchaus fraglich. „Erfolg ist keiner der Namen Gottes!“, sagte mal Martin Buber. Warum? Spielen wir es am Beispiel Sport mal durch. Wenn alle auf Doping verzichten, hat der, der dopt besonders große Vorteile. Wenn alle dopen, dann hat der, der es nicht tut, besonders starke Nachteile. Moralisches Handeln in einer nie gänzlich moralischen Welt droht immer ein Wettbewerbsnachteil zu sein. Als Individuum kann man sich dafür entscheiden. Wer als Manager in einer Organisation als einziger von den Kollegen keinen Verhandlungspuffer in die Budgetverhandlungen einbaut, wird zum Verlierer werden. Am Markt als Einziger der Konkurrenten teuren Umweltschutz in die Preise einzukalkulieren, kann fatal sein. Zu hoffen, dass sich Moral auch verkauft, ist mutig, vielleicht sogar tollkühn. Wenn Unmoral ambivalenzfrei Kunden gegenüber Fehler tarnen, Mängel verschweigen, Gefahren vertuschen, falsche Versprechungen machen und gezielt lügen kann, dann ist es unter Konkurrenzbedingungen nicht zu erwarten, dass Moral sich durchsetzt. Im realen Leben gewinnen nicht wie bei Karate Kid oder ähnlichen Filmen am Ende die Guten.
Moral gegen Moral
Es gibt jedoch noch ein weiteres Problem. Es steht nicht nur Gutes gegen Böses und Gutes gegen Gewinn sondern auch Gutes gegen Gutes. Moralphilosophisch gibt es kein Konzept, das ohne Wertkonflikte auskommt. In einigen der Fragen oben wurde es schon angedeutet. Es gibt nicht DIE Moral. Es gibt VIELE Moralen. Werte und Normen stehen miteinander in Konflikt. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit vertragen sich nicht. Prinzipientreue und Situationsklugheit auch nicht. Was gesund ist, darüber lässt sich streiten. Was der Pension des Opas nützt, schadet seinem Enkel. Die Gewissenhaftigkeit des einen bringt den Enthusiasmus des anderen zum Erliegen. Der gentechnisch veränderte Mais sichert für die einen die Ernährung der Ärmsten und gefährdet für die anderen die Gesundheit aller. Der Impfstoff rettet für die einen Leben und für die anderen beschert er massive Schäden im Immunsystem. Wie sollen Manager über solche Wertkonflikte befinden, wenn schon die Wissenschaft oder der Ethikrat sich nicht einigen können? Erst recht, was soll geschehen, wenn die Moral des einen, das Überleben des anderen gefährdet? Moralische Normen können nicht glatt aufgehen. Sie sind nur wirksam, wenn sie situativ auch außer Kraft gesetzt werden können. Sobald Moral ins Spiel kommt, nährt sich schnell die Hoffnung, gutes Handeln hätte keine schlechten Nebenfolgen. Selbst bei so selbstverständlich scheinenden moralischen Geboten wie „Du sollst nicht töten!“ kann man sehen, dass im Konkreten bei Fragen wie Tyrannenmord, Abtreibung oder Krieg die Klarheit der moralischen Regel ins Wanken kommt. Will man moralische Auseinandersetzungen in Entscheidungsmeetings wirklich haben? Wer entscheidet über Ausnahmen und absolutiert die Sündigen? Die Geschäftsleitung als eine neue Spielart der Glaubenskongregation?
Moral und Konflikt
Zum letzten Punkt meiner Überlegungen, ob Organisationen moralisch handeln sollen. Moralische Kommunikation arbeitet aus systemtheoretischer Sicht mit dem Gewähren und Entziehen von Achtung. Wer unmoralisch handelt setzt die Achtung anderer aufs Spiel bzw. man droht mit dem Entzug derselben, wenn jemand sich falsch verhält. „Wie kann man nur so ein Mensch sein!“. In dem Moment, in dem aber Fragen von Achtung und Nicht-Achtung ins Spiel gebracht werden, stehen nicht nur sachliche Meinungsunterschiede im Raum, sondern die Integrität der Personen. Konflikte werden scharf, weil mehr als nur die richtige Entscheidung zur Debatte steht, sondern ob ich oder der andere der böse Mensch ist. Luhmann nannte das polemogen (=streiterzeugend). Das Phänomen lässt sich in fast allen gegenwärtigen öffentlichen Debatten beobachten. Der Krieg findet nicht nur in der Ukraine statt, sondern in den Socialmedia-Threads und Leserbriefdebatten, wo Waffenlieferungen, Maskenregelungen, Gaspreise etc. diskutiert werden. Anfeindungen übelster Sorte aus dem Geist eigener moralischer Rechtschaffenheit. Will man Diskussionen dieser Art, in dem Moral dazu dient dem anderen die Integrität abzusprechen, in die Organisationen tragen? Ich beobachte solche scharfen Diskussionen und Konflikte bei Kunden, die stark mit Werten identifiziert sind, besonders häufig: Bei NGOs, bei Start-ups, im Gesundheitssystem, in Betriebsräten, in gemeinwohlorientierten Institutionen, in Kirchen und Klöstern.
Fazit
Wer von Organisationen erwartet, dass sie die Unterscheidung von gut und böse in ihrer Kommunikation über Entscheidungen berücksichtigen, sollte wissen, was er sich wünscht. Manche Wünsche gehen anders in Erfüllung, als man das gehofft hatte. Wer Organisationen will, die sich nach unseren westlich geprägten Maßstäben für moralisch integre Produkte, Lieferketten, Produktionen und Verkaufskanäle entscheiden, der muss sagen können, wie diese unter (globalen) Wettbewerbsbedingungen erfolgreich bleiben können. Wer diese Moral in Organisationen nicht will, der muss sagen, wie man in einer umfassenden ökologisch gefährdeten Welt zu einem Wirtschaftssystem kommt, welches mit dem Überleben der Menschheit kompatibel ist. Alle Anstrengungen, die gegenwärtig in Diskussionen um wertorientiertes Entscheiden fließen, wären bei der Frage, wie Rahmenbedingungen im Wirtschaftssystem geschaffen werden können, in denen die oben dargestellten Spannungsfelder moralfrei günstiger bearbeitet werden können, aus meiner Sicht besser aufgehoben.
Moral ist bei weitem zu unterkomplex, um zu Verbesserungen von Entscheidungen in Organisationen ernsthaft beitragen zu können. Wer für moralisch hochwertige Organisationen plädiert, wird möglicherweise leicht zur Kraft, die zwar das Gute will und einen Schein nur schafft. Die Wahrscheinlichkeit, dass Organisationen solche Anforderungen im Wesentlichen auf ihrer von S.Kühl so genannten „Schauseite“ lösen, ist maximal. Sie präsentieren Moral, aber leben sie nicht. Damit erleiden sie das Schicksal aller „Kirchen“, sie werden Orte der Doppelmoral und liefern so weiteres Material, um moralisch angeklagt zu werden.
Das hilft weder den Menschen, noch den Organisationen und auch nicht der gefährdeten Welt.
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