Klaus Eidenschink
Sollen Organisationen Sinn versprechen? (Teil 6/8)
Sinn und Unsinn
„Ich möchte sinnvolle Arbeit tun!“ Ich kenne wenige (jedenfalls unter Akademikern), die einen solchen Satz noch nie gesagt haben. Dabei ist der Zusammenhang von Arbeit und Sinn rein historisch ein eher junges Phänomen. Lange Zeit arbeitete man, um zu überleben. In vielen Regionen der Welt ist das immer noch so. Nun kann jeder, der möchte, natürlich sagen, gut dass diese Zeiten für mich vorbei sind. Dann aber muss man anfangen zu reflektieren: Was ist eigentlich Sinn? Kann Arbeit überhaupt sinnvoll sein? Ist die Arbeit oder der, der arbeitet, für den Sinn verantwortlich? Wer macht die Arbeit, die als nicht sinngebend erscheint? Woran macht man Sinn fest? Am Empfinden des Betroffenen, am Ergebnis der Arbeit, an der Art des Arbeitens, am Beitrag zu einem (höheren) Zweck? Können Organisationen sinnvolle Arbeit versprechen und wenn ja, sollten sie das tun? Schon aus der Fülle der Fragen ergibt sich, dass meine Antworten hier knapp und unzulänglich sein werden. Aber vielleicht erfüllen sie den Sinn, dass sie zum Nachdenken anregen.
Sinn wird in der deutschen Sprache positiv besetzt. Etwas ist sinnvoll (und damit gut). Was unsinnig erscheint, sollte man bleiben lassen. Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es vielleicht wirkt, denn wer hätte nicht schon über vermeintlich Unsinniges persönlich Neues und Wertvolles entdeckt? Die Unterscheidung Sinn/Unsinn verengt den Horizont, weil sie massiv Komplexität reduziert. Das ist hilfreich – weil Orientierung gebend – und problematisch – weil selbsterzeugte Blindheit schaffend – zugleich. Damit ist man auch dem Gedanken auf der Spur, dass Vieles, das für den einen sinnvoll ist, für den anderen an Sinnlosigkeit nicht zu überbieten ist. Zum Spaß schnell Auto fahren? Mit dem Fahrrad bei Regen zur Arbeit kommen? Im Urlaub faulenzen? Im Urlaub sich anstrengen? Dicke schwierige Bücher lesen? Nicht arbeiten? Nur arbeiten? An etwas glauben? Klimaerwärmung verhindern wollen? Voila – allein eine solche Aufzählung lässt die Vermutung aufkommen, dass Sinn und Unsinn etwas sind, das im Auge derer existieren, die eine solche Bewertung vornehmen. Sinn wird verliehen und nicht in der Welt vorgefunden.
Arbeit hat keinen Sinn
Kann man Sinn in der Arbeit finden? Nie und nimmer! Kann man einer Arbeit, die man tut, Sinn verleihen? Immer! Was ist der Unterschied?
- Im ersten Fall hält man Sinn für eine Eigenart der jeweiligen Arbeit oder des Ergebnisses der Arbeit: Diese Arbeit macht Sinn! Wählt man diese Variante muss man sich eine Arbeit suchen, die vermeintlich allgemeingültigen Sinn hat. Das ist ein riskantes Manöver, da man dann davon abhängig wird, dass man zum einen diese sinnvolle Arbeit machen kann (und was, wenn nicht mehr?) und zum anderen nicht Beobachtungen macht, dass die Arbeit möglicherweise gar nicht so sinnvoll ist, wie immer vermutet. Als Psychotherapeut weiß man, dass gerade in den „helfenden“ Berufen wie ÄrztIn, SozialarbeiterIn, LehrerIn oder EntwicklungshelferIn die Gefahr von Sinnverlust, Depression und Zynismus besonders groß ist. Zugespitzt gesagt: Je länger man die Auswirkungen von sinnvoller Arbeit betrachtet, desto sinnärmer wird sie in den Augen derer, die sie tun.
- Im zweiten Fall kann man bei allem, was man tut, Sinn erleben. Sinn ist dann kein Merkmal der Arbeit, sondern ein Vorgang im Bewusstsein: Spaß, Kompetenzerleben, investierte Achtsamkeit und inneres Gewahrsein, Freude an der Qualität des Produkts, Stolz auf den Beitrag zu einem größeren Ganzen oder im Bewirken von etwas, das man für gut hält. Der Möglichkeiten, die man wählen kann, um seiner Arbeit Sinn zu geben, sind viele. Der große Vorteil ist, dass man damit kaum Abhängigkeiten schafft und gerade auch bei einfachen – oft fälschlicherweise sinnlosen – Tätigkeiten besonders viel Sinn erleben kann. Die Lebensaufgabe ist dann nicht „Wie finde ich sinnvolle Arbeit?“, sondern „Wie gebe ich meiner Arbeit Sinn?“
Vom Was und vom Wie des Sinns
Schaut man sich nun genauer an, wie man Arbeit persönlich Sinn verleiht, dann spielt dabei weniger eine Rolle, was man tut, sondern sehr viel mehr wie man es tut. Sinn ist die Folge einer persönlichen Art und Weise zu arbeiten. Er ist ein Attribut des Arbeitens – nicht der Arbeit. Man kann im Leben lernen, auf eine Art zu arbeiten, dass man dabei Sinn erlebt. Dieser Arbeitsstil steht in einer gewissen Spannung zu dem, der in unserer Kultur eher vorherrschend ist. Viele Menschen sind das, was man ergebnisorientiert nennt. Das Ergebnis ist für das Urteil „sinnvoll“ bestimmend. Das ist aus psychologischer Sicht jedoch ein sehr effektives Mittel, um ein Leben voller ungünstiger Anstrengungen zu führen und sich dabei unglücklich zu machen. Wer dagegen kompetent wird, in der Arbeit aufzugehen, Hingabe zu entwickeln und mit Achtsamkeit bei der Sache zu sein, für den ist der Weg das Ziel. Das widerspricht natürlich nicht einem guten Ergebnis am Ende. Dieses verliert allerdings an seelischer Bedeutung. Wer Erfüllung in dem findet, wie er Dinge tut, der muss sich nicht mit dem Erfolg identifizieren. Das macht frei und weniger kränkbar.
„Guter“ Sinn wirkt konfliktanheizend
Gehen wir zurück zur ersten Variante des Lebens von Sinn, in der die Annahme herrscht, Sinn befindet sich in der Welt und man muss im Leben das Sinnvolle finden. Nur wenn Sinn auf diese Weise vom Sinngeber entkoppelt wird, kann man ihn anschließend verallgemeinern. Dann gibt es per se Sinnvolles und Nicht-Sinnvolles. Beliebte Beispiele sind „Ich will mit Menschen arbeiten!“, „Ich will nachhaltige Produkte herstellen!“ oder „Ich will in einem gemeinwohlorientierten Unternehmen arbeiten!“. Identifiziert man sich mit einer solchen „guten Sache“, wird man allerdings anfällig dafür, dass man Widerspruch nicht mehr gut tolerieren oder gar nutzen kann. Zugleich verschärfen sich die potenziellen Konflikte, die darüber geführt werden müssen, was z.B. für den Menschen, mit dem man arbeitet, nun das Beste ist, worin Nachhaltigkeit besteht und wie sie zu gewährleisten ist, oder was dem Gemeinwohl dienlich ist und wo der Eigennutz anfängt. Menschen wie Organisationen, die sich einer guten Sache verschreiben, laufen immer Gefahr in heftige Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, wie das Gute zu bewerkstelligen ist.
In den Entscheidungsprozessen steht dann oft zu viel auf dem Spiel, als dass man nachgeben könnte oder Kompromisse tolerabel sind. Die schärfsten Konflikte, die ich in meiner Laufbahn moderiert habe, waren allesamt in Organisationen, die sich höchsten Wertvorstellungen verschrieben hatten. Diese Form von von Identifikation mit dem richtigen Sinn führt sehr leicht zu dem, was man früher Glaubenskriege genannt hat. Ob Organisationen gut daran tun, zu Glaubenssystemen zu werden, sei bezweifelt. Wenn sie solche Sinnversprechen machen, dann drohen davon meist auch Menschen angezogen zu werden, die man landläufig „Fanatiker“ nennt. Diese haben kein Selbstdistanzierungsvermögen im Hinblick auf ihre Überzeugungen. Damit wird jede Meinungsverschiedenheit schnell zum scharfen Streit oder lässt wechselseitige Abwertungsprozesse sehr viel wahrscheinlicher werden („Wie kann man nur so denken …, daran zweifeln…, so fühlen …, das nicht einsehen … usw.)! Was passiert, wenn Menschen in Organisationen eine solche Idee von Sinn suchen und leben wollen?
Organisationen sind Sinnaushandlungssysteme und keine Sinnspender
Organisationen sind Viel-Zweck-Systeme. Sie müssen viele unterschiedliche Interessen und Anliegen der verschiedenen Bereiche und Funktionen miteinander kommunikativ verknüpfen und bearbeiten. Sie sind um Konflikte herum gebaut. Das, was sinnvoll ist, wird für Produktentwickler immer anders ausschauen als für den Vertrieb. Was für die Zentrale gut ist, ist für die Region meist weniger sinnvoll und umgekehrt. Wenn Sinn standpunktabhängig ist, dann können und dürfen Organisationen nicht einen Sinn erzeugen. Sie würden sonst „überintegriert“ – wie man das systemtheoretisch nennt. Wenn Menschen nun ihren (einen) Sinn in Organisationen suchen, dann muss sich alles diesem einen Ziel oder Zweck unterordnen. Damit würde allerdings in Organisationen zu viel Komplexität reduziert. Es gäbe ein sinnbehaftetes Ziel, das – weil nur „gut“ – zudem zu zeitstabil wird. Die Organisation würde starr und unbeweglich. Weil alle hinter dem Sinn – neudeutsch Purpose – stehen, besteht auch weniger Anlass und Bereitschaft zur Reflexion. Anpassungen an äußere Verhältnisse und Veränderungen werden schwerer. Da sich die internen Sinnwidersprüche aber nicht tilgen lassen, werden die Konflikte mehr und auch die Enttäuschungen, dass man nicht wie besprochen der vereinbarten Linie treu bleibt und die Ziele umsetzt, werden mehr. Das ist der Grund, warum seit Jahrhunderten Glaubensgemeinschaften sich immer wieder spalten. In allen Religionen kennt man das (Sunniten/Schiiten, Katholisch/Evangelisch/Orthodox, verfeindete Zen-Linien etc.). Einheit spaltet.
Ein gemeinsamer Sinnpool ist unerlässlich
Damit sei hier nicht gesagt, dass Organisationen auf gemeinsame Sinnzuschreibungen verzichten können. Gibt es keine attraktiven Narrative, keine Ankerpunkte, an die sich Mitarbeiter halten können, dann wird es unmöglich, die Organisation auszurichten und Mitarbeiter eine Orientierung für die Richtung ihrer Arbeit zu geben. Umsatz- oder Ergebnisziele reichen dazu oft nicht aus. Organisationsmitglieder müssen sich auch emotional in gemeinsamer Begeisterung verbinden können. Solche Visionen, solche Purpose-Geschichten können einen hohen Nutzen stiften, sofern sie als das gesehen werden, was sie sind: Geschichten, in denen sich Menschen wiederfinden können und gleichzeitig wissen, dass man im Alltag viele Faktoren berücksichtigen muss und diese sich nie alle mit einem (hehren) Ziel vereinbaren lassen.
Fazit
Versuchen Organisationen in die altehrwürdigen Versprechungstraditionen von Kirchen einzutreten, die die Welt besser machen wollen oder ein sinnvolles Leben ermöglichen, dann laufen sie Gefahr genau das zu werden: Überzeugungsgemeinschaften – und damit immer auch Enttäuschungsquellen, wenn die Realität der Selbstwidersprüche offensichtlich wird. Schon die Kirchen leiden seit Beginn daran, dass Glaubensförderung und Geldeinnahmen sich nie haben zur Deckung bringen lassen. Schon aus dieser unseligen Geschichte von Armut und Reichtum der Diener Gottes ließe sich sehr viel darüber lernen, dass Moral am Ende dem Schicksal der Doppelmoral nicht entkommt.
Versuchen Menschen in Organisationen ihrem Leben Sinn zu geben, indem sie sich attraktiven Zielsetzungen verschreiben oder diesen glauben, dann suchen sie das Richtige an der falschen Stelle. Die Suche nach Sinn in dem, was man tut, ist zu fragil, als dass man ihn darauf gründen sollte. Was heute richtig ist, kann morgen falsch sein. Die Hoffnung, dass Organisationen Sinn für die Menschen in die Welt bringen können, überfordert sie. Sie können und müssen eigenen (organisationalen) Sinn produzieren, der für Menschen hinreichend attraktiv ist, um in der Organisation Mitglied zu werden.
Dieser Sinn aber muss beweglich, diskutierbar und damit jenseits von gut und böse sein. Er muss auf Resonanz basieren und nicht auf Überzeugungen, die sich entweder nicht unter einen Hut bringen lassen oder zu viele Köpfe unter einen Hut versammeln wollen. Sinn gibt es nur in der Vielzahl „Sinne“.
Sinn oder Unsinn? Projizieren wir zu viel auf unsere Arbeit? - Charlotte Zehentmeier
[…] “Gibt es keine attraktiven Narrative, keine Ankerpunkte, an die sich Mitarbeiter halten können, dann wird es unmöglich, die Organisation auszurichten und Mitarbeiter eine Orientierung für die Richtung ihrer Arbeit zu geben. Umsatz- oder Ergebnisziele reichen dazu oft nicht aus. Organisationsmitglieder müssen sich auch emotional in gemeinsamer Begeisterung verbinden können.” Klaus Eidenschink […]