Klaus Eidenschink
Sollen Organisationen human sein? (Teil 5/8)
Organisationen sind organisational, nicht human. Menschen wollen ja auch nicht organisational sein, sondern als Mitarbeiter menschlich bleiben. Mit diesem Satz könnte man die Diskussion beenden und beiden Seiten ihr Recht lassen. Gleichzeitig fängt sie damit erst richtig an. Im weitläufigen Gelände dieses Themas fokussiere ich mich hier auf die Frage, welche Merkwürdigkeiten es mit der Hoffnung von Menschen auf sich hat, in Organisationen humane Verhältnisse schaffen zu können. Es sind derer im Wesentlichen fünf.
Erste Merkwürdigkeit:
Manche scheinen zu glauben, der Mensch sei nur human
Wenn man sich über inhumane Verhältnisse in Organisationen beklagt, dann drängt sich ja die Frage auf: Woher in aller Welt kommen denn diese beklagenswerten Zustände? Von welchen bösen Mächten stammt den die nicht menschengerechte Organisation eigentlich ab? Wenn doch alle Menschen Interesse an menschlichen Arbeitsverhältnissen haben, müsste es doch menschlich zugehen – oder? Ich bejahe das. Es geht menschlich zu. Allerdings in dem Sinn, dass die konkreten Menschen eben alles Menschliche in Organisationen ausleben. Also Gutes und Schlechtes, Aggression und Liebe, Neid und Mitfreude, Solidarität und Egozentrik, Verständnis und Mobbing, Konkurrenz und Kooperation, Empathie und Verschlossenheit, Angetrieben-sein und Sich-hängen-lassen – die Reihe ist endlos. Es ist irreführend nur die positiv besetzten Begriffe als Ausdruck von Humanität anzusehen. Menschen können mit sich selbst streng und gnadenlos sein. Das sind sie in der Folge auch mit ihren Kollegen und Kolleginnen. Menschen können voller Ängste sein. Die haben sie auch am Arbeitsplatz. Menschen können disreguliert sein. Das sind sie dann auch z.B. im Meeting oder im Mitarbeitergespräch. Es gibt Menschen, die sind schlechte Eltern. Kann man da erwarten, dass sie gute Führungskräfte werden? Es gibt Menschen, die Beziehungstraumata mit Autoritäten haben. Unwahrscheinlich, dass diese sich gut führen lassen können. Es gibt Menschen, die können sich selbst nicht motivieren. Dies wird sich auch durch passende Anreizsysteme und Entfaltungsmöglichkeiten nicht ändern.
Es ist eben (auch) der Mensch, der in Organisationen für ungünstige Verhältnisse sorgt. Den Menschen möchte ich kennenlernen, der konsequent im Privaten mit sich selbst, mit seiner Familie, seinen Freunden „menschlich“ umgeht. Wenn aber Menschen ganz ohne Organisationen schon daran scheitern, dass es „menschlich“ im Miteinander zugeht, wie sollte dies dann organisationalen Prozessen und Strukturen gelingen? Wie kann man glauben, dass es nur menschengerechte Verhältnisse in Organisationen braucht und alles wäre gut? Dann müssten Familien in diesem Land nur ein Hort des Fröhlichen und Liebevollen sein!
Schlussfolgerung: Solange es Menschen mit inneren Konflikten gibt, werden wir in Organisationen mit ungünstigen und dysfunktionalen sozialen Konflikten leben müssen. Das können Organisationen nicht verhindern. Menschen ihrerseits sollten damit rechnen, dass sie ihre eigenen innerpsychischen Thematiken an den Arbeitsplatz mitnehmen und dort auch mit den ungelösten Themen anderer zu tun bekommen. Leben in Organisationen ist unausweichlich genauso anstrengend (oder leicht) wie jedes andere Zusammenleben in anderen sozialen Kontexten. Menschen sind auch als Organisationsmitglieder nicht „erlöst“ und muten sich immer auch wechselseitig etwas zu. Menschen menscheln und suchen sich dafür auch in Rollen und Funktionen die sich bietenden Gelegenheiten.
Zweite Merkwürdigkeit:
Manche scheinen es für möglich zu halten, dass „der Mensch“ im Mittelpunkt stehen könnte
Humanität ist eine Abstraktum. „Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen!“ Fragt sich nur: Welcher der fast 8 Milliarden auf diesem Globus? Wird es konkret, stellt sich zudem die Anschlussfrage: Wenn ein Zweiter im Mittelpunkt stehen will, ist dieser Platz ja schon besetzt. Wer von beiden soll also in die Mitte? Schon an Hand dieser Metapher wird deutlich: Streit darüber, welches konkrete Interesse welches konkreten Menschen im Mittelpunkt welcher konkreten Organisation stehen soll, ist mehr als wahrscheinlich. Wenn dieser Streit ausgetragen wird, ist dies noch Teil einer humanen Organisation oder gilt dies dann schon als Problem?
Wenn man die Humanität als abstrakten Begriff nicht sozial auflöst (wie oben), sondern sachlich verortet, dann landet man beim „Purpose“ der alle Interessen hinter sich vereinen und bündeln soll. Auch hier wird versucht, Unmengen an Zielkonflikten hinter einem „Gutwort“ oder einem einenden Purpose zu sammeln, welcher dann nicht den Mittelpunkt sondern einen Zielpunkt benennt. Dieses eine Ziel soll alle mit Sinn versorgen.
Systemtheoretisch sind soziale Systeme allerdings Kommunikationsprozesse, die auf der Möglichkeit beruhen, zu etwas „nein“ zu sagen. Ohne die Möglichkeit zu verneinen, könnte gar keine Kommunikation stattfinden bzw. wäre sie überflüssig. Jemand würde sagen „Da geht es lang!“ und die anderen müssten „ja“ sagen. Das Nein ist also konstitutiv für Kommunikation wie für Menschsein als solches. Erst im Widerstand gegen die Sinnangebote anderer („Setz Deine Mütze auf!“) erlebt man sich als frei („Nein, ich will nicht!“), indem man die Folgen des Ungehorsams erforschen kann.
Schlussfolgerung: Die Notwendigkeit von Menschen eigene Identität und Grenzen zu erleben, beruht auf ihrer Fähigkeit „Nein“ zu sagen. Dies schafft notwendigerweise in Organisationen (und anderswo) Verhältnisse, die Konfliktbearbeitung, Frustration, Verlierer und Niederlagen hervorrufen. Eine Welt voller Win-Win ist auch in Organisationen nicht herstellbar. Daher tun Menschen gut daran, dass sie den Wunsch aufgeben, dass sich alles um sie drehen könnte. Organisationen sind Orte der Konfliktbearbeitung und der Interessengegensätze. Der Mensch ist Mittel für seine eigenen Zwecke und die organisationalen Zwecke, die seine Rolle mit sich bringt. Aber er ist in Rollen nie Zweck an sich. Wer diese Versprechung macht oder glaubt, führt sich oder andere an der Nase herum.
Dritte Merkwürdigkeit:
Manche scheinen zu meinen, dass Einigkeit darin besteht, was human sei
Fragt man genauer nach, was Menschen unter Humanität verstehen, stellt man schnell fest, wie unterschiedlich der Begriff gefüllt wird. Es ist überhaupt nicht geklärt (und auch nicht klärbar), was nun „dem Menschen“ gerecht wird und was nicht. Ist es menschlich, jemanden zu fördern oder zu fordern? Mit Verantwortung zu betrauen oder sie ihm abzunehmen? Ihn zur Kreativität anzuhalten oder ihm seine Routinen zu belassen? Ihn zu belohnen oder auf diese Manipulation zu verzichten? Ihn zu bestrafen oder auf das Einhalten von Grenzen zu verzichten? Alle gleich zu behandeln, auch wenn sie ganz Unterschiedliches beigetragen haben? Jemand hervorzuheben, auch wenn man weiß, dass das andere zurücksetzt und schmerzt? Mitarbeiter zu fördern und anderen zu signalisieren, dass aus ihnen nichts wird? Diese Fragenliste ließe sich endlos erweitern. Ich kenne jedenfalls kein einziges Konzept von Humanität, das mit der Unterschiedlichkeit der Situationen und der jeweiligen Menschen zurechtkommt. Statt dessen begnügt man sich häufig mit Appellen zu Humanisierung, indem man auch hier Abstrakta nutzt: Menschenrechte, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Diversität, etc.! Das alles hört sich gut an und dagegen lässt sich scheinbar nichts einwenden. Aber im Konkreten muss dann eben doch entschieden werden,
- ob Rechte eingeschränkt werden müssen, weil sonst Größeres gefährdet ist,
- ob die Würde auch dann noch gewahrt werden kann, wenn jemand Verträge nicht einhält,
- ob die Gerechtigkeit der Konkursabwendung geopfert werden muss,
- ob die Gleichheit von ungleich engagierten Mitarbeitern nicht zur Demotivation führt oder
- ob die Diversität so viel Zersplitterung mit sich bringt, dass die Kommunikation überlastet wird.
Schlussfolgerung: Was in Organisationen human ist, wird immer strittig sein. Man kann das bedauern oder man kann es als sinnvoll ansehen, dass darüber gestritten und darum gerungen wird. Was die einen für human halten ist für die anderen naiv und schädlich. Zudem – unterschiedliche Menschen brauchen in sozialen Systemen Unterschiedliches. Die Erwartung, dass eine Humanität sich definieren und verwirklichen ließe, führt in Organisationen letztlich in ideologische Diskussionen darüber, was eine menschliche Organisation ist.
Vierte Merkwürdigkeit:
Manche scheinen zu denken, dass humane Werte ein widerspruchsfreies Ganzes ergeben könnten
Schaut man sich an wie humanen Werte definiert werden, dann findet man so gut wie immer das, was in der Philosophie „Nicht-widerspruchsfähige-Begriffe“ genannt werden. Wer kann gegen Toleranz, Gerechtigkeit, Würde, Respekt, Achtsamkeit, Beteiligung, Achtung, Friede, Disziplin, Entfaltung etc. sein? Aber was geschieht, wenn Toleranz und Gerechtigkeit einander widersprechen, weil die milde Toleranz gegenüber nicht eingehaltenen Abmachungen von anderen als ungerecht empfunden wird? Was wenn die Achtung vor der Würde dessen, der sich nicht wie die anderen anstrengt, den Respekt vor dem gemeinsamen verabschiedeten Ziel untergräbt? Was wenn Disziplin und Enthusiasmus einander in die Quere kommen? Viele Konzepte rechnen nicht damit, dass Werte untereinander in Konflikt kommen können und ständig kommen. Allen sind die scharfen Konflikte von Rücksichtnahme und Freiheit im Kontext von Corona in Erinnerung. Werte auf allen Seiten. Organisationen müssen unterschiedliche Werte berücksichtigen, gerade im Kontext von Humanität. Das geht nie glatt auf.
Schlussfolgerung: Menschen tun gut daran, damit zu rechnen, dass es nicht das Gute, sondern mehreres Gutes gibt. Weil der Konflikt gut gegen gut (und nicht gut gegen schlecht) in Organisationen der prägende ist, macht es wenig Sinn, zu erwarten, dass man sich auf das Gute einigen kann. Man sollte es in Organisationen auch nicht erwarten, wo wie man auch von Eltern nicht erwarten kann, dass sie allen Kindern gleichermaßen in jeder Hinsicht gerecht werden.
Fünfte Merkwürdigkeit:
Manche scheinen zu hoffen, dass Organisationen das liefern können, was die Eltern verweigert haben
Alberto Pesso nannte das Phänomen „Holes in Roles“. Eltern, die bestimmte Aspekte der Elternrolle nicht eingenommen haben und Lücken im Aufgabenportfolio der Rolle hinterlassen haben. Viele Menschen haben das erlebt. Man kann das verarbeiten. Vielleicht muss man es auch. Jedenfalls – bleibt es unbearbeitet, dann sucht man ein Leben langt Personen oder Institutionen, die diese Lücke endlich schließen. Organisationen sollen dann ein menschliches Antlitz zeigen, Zuwendung garantieren und Fürsorge sicherstellen. Aspekte davon hatte ich ja in den vorigen Teilen dieser Serie schon beschrieben. Dass man vielleicht eine solches „Hole in Roles“ in sich trägt, sollte man immer dann reflektieren, wenn man voller Eifer, voller Ansprüche oder voller Anklagen ist. Die anderen sollten doch endlich einsehen…, tun…, ablassen…! Ich habe unzählige Coachees erlebt, die sich auf diese Art als Mitglieder von Organisationen unglücklich gemacht haben.
Schlussfolgerung: Wir Menschen neigen dazu, das Richtige am falschen Ort zu suchen. Es lohnt sich, genau darauf zu achten, ob man möglicherweise von Organisationen erhofft, sie mögen den Mangel stillen, dem man schon immer in der Welt ausgesetzt war. Dann wird das eigene Engagement für die gute Sache, ggf. weniger verbissen, angespannt oder aufgeregt.
Fazit
Wenn Menschen Humanität als Zielsetzung für organisationale Ausrichtung erwarten, begeben sie sich auf rutschiges Gelände. Der Begriff ist weder besonders gut definiert, noch besonders ankoppelungsfähig für die Selbstorganisation sozialer Systeme. Da Menschen, die ihre Humanität gewahrt sehen wollen, nur zum Teil diese Humanität selbst im Leben realisieren können, wird es zusätzlich widersprüchlich und verworren. So dient der Begriff sehr leicht als Kampfbegriff zu Verschleierung von Interessen. Da er zugleich aber nicht zu tilgen ist, müssen Organisationen damit umgehen lernen und sich auf derartige Erwartungen einstellen. Ob das der Humanität von Organisationen wirklich dient, kann man durchaus diskutieren. Der Beitrag hier ist dazu ein Angebot.
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