Klaus Eidenschink
Wie bleibt man mit Ausgangsbeschränkungen frei?
Nun hat es uns doch auch ereilt. Jeder muss mit Ausgangsbeschränkungen zurechtkommen. Viele fühlen sich nun unfrei. Das muss nicht sein. Hier finden Sie die Gründe für das Unfreiheitsgefühl und die Hinweise wie es möglich ist, in die Freiheit zu wechseln.
In unserer Gesellschaft herrscht in weiten Teilen ein als selbstverständlich angesehenes Verständnis von Freiheit. Freiheit wird darin gesehen, dass man die Möglichkeit hat, zu tun, was man möchte. Entsteht nun eine Lage, in der man in diesen Möglichkeiten massiv eingeschränkt wird, kommen viele Menschen in große und größere Krisen. Für sie und diejenigen, die solche Menschen kennen und mögen, ist dieser Text geschrieben. Es geht mir darum zu zeigen, dass man die Frage von Sartre: „In Ketten frei?“ sehr klar mit „Ja!“ beantworten kann und muss. Denn – das sei hier gesetzt: Freiheit ist eines der Grundbedürfnisse von uns Menschen. Also braucht jeder eine Antwort auf die Frage „Wie werde ich frei?“!
Frei durch Handeln?
Was ist nun das Problem, wenn man sich aussucht, seine Freiheit in Handlungsfreiheit zu sehen?
Zunächst muss man sich den Selbstwiderspruch vor Augen halten: Wer seine Freiheit darin sieht, zu tun, was er will, der macht sich abhängig davon, dass er tun kann, was er will. Wer die Freiheit in der Möglichkeit erblickt, bestimmte, ausgewählte Handlungen leben zu können, kettet sich an diese Möglichkeiten. Wer sich nur beim Schifahren frei fühlt, muss dafür sorgen, dass er in jedem Fall Schifahren kann. Wer sich nur im Club beim Tanzen frei fühlt, wird es schwer aushalten, abends nicht ausgehen zu können. Jeder kann hier seine eigenen Beispiele – Reisen, Sport, Garten, Kneipe, Bücher, Kunst, Kultur, TV, etc. – wählen. Jeder, der diese Art von Freiheit wählt, wird abhängig von den Ressourcen, die die „freien“ Handlungen ermöglichen.
Nicht umsonst richten deshalb sehr viele Menschen ihr Leben danach aus, sich diese Ressourcen zu erarbeiten. Es wird für Reisen und Hobbies (oft lange) gespart. Es werden Berufe, Stellen und Job-Angebote ausgeschlagen, wenn man dort weisungsgebunden oder sehr eingeschränkt ist. Chefs und Firmen die Freiraum lassen, gelten deshalb als besonders attraktiv und wertvoll. Das Sabbatical wird so zum Inbegriff der Freiheit (zu tun, was man will)! Viele Selfies werden zu Beweisen dessen, dass man frei lebt.
Unfrei durch Handeln!
Entscheidend ist nun, was passiert, wenn die günstigen Bedingungen die Autonomie und freie Handlungswahl wegfallen. Das kann im Leben nämlich passieren. Wir erleben es in der Coronakrise gerade massiv. Aber auch unabhängig davon: Kaum jemand kann ein Leben lang kontrollieren, dass keine Umstände eintreten, die ihn mehr oder weniger in seinen Handlungsspielräumen einschränken. Viele beginnen dann zu klagen, werden unglücklich, trauern den Zeiten, wo man konnte, was man wollte, hinterher, oder man sehnt sich nach dem Zeitpunkt, wo man – endlich – das tun kann, was man will.
Sich auf bestimmte Handlungen, in denen man sich frei fühlt, festzulegen, macht also unfrei. Das ist aber nicht der einzige Nachteil. Etwas tun zu wollen und es nicht zu können, löst bei vielen Ohnmachtsgefühle aus. Ohnmacht ist nun ein unangenehmes Gefühl, welches wiederum über Versuche bearbeitet wird, trotz allem wieder Herr der Lage zu werden. Man versucht die Kontrolle zu erlangen. Kontrollversuche am kurzen Hebel verschärfen die Ohnmacht und paaren sie mit Verzweiflung. Schlussendlich droht man depressiv in die Passivität zu gleiten, wenn das, was man glaubt sein zu müssen, nicht realisierbar ist.
Das wirft die Frage auf, wie es kommt, dass so ein Konzept, das so voraussetzungsreich ist, so viel kostet und so krisenanfällig ist, trotz allem so verbreitet und unangefochten ist? Das hat viele historische Gründe, ganz besonders ist es aber eine Folge der bürgerlichen Gesellschaft. Der „freie“ Bürger definiert sich als jemand, der tun und lassen darf, was er will. Er empfindet alles, was diese Freiheit einschränkt leicht als Gängelei und leitet daraus Empörungsrechte ab. Aber ist das die Freiheit, die wir in der Gesellschaft der Zukunft brauchen? Oder niedriger gehängt: Welche Art von Freiheitskompetenz braucht es in einer Pandemie, die mit Ausgangsbeschränkungen einhergeht?
Frei durch Erleben
Freiheit ist ein Bedürfnis. Wie alle Bedürfnisse ist es im Kern ein inneres Erleben, kein äußeres Tun. Man kann die Freiheit haben, alles zu tun, und sich innerlich voller Zwänge und Leere fühlen. Andersherum kann man aber eben auch im Gefängnis, in Ketten, in Ausgangsbeschränkungen frei sein. Warum? Handlungen sind Mittel, um Bedürfnisse zu befriedigen. Sport im Freien ist kein Bedürfnis, sondern eine Art ein Bewegungsbedürfnis auszuleben. Bewegen kann man sich aber auch im kleinsten Zimmer. Gesellschaft mit anderen ist kein Bedürfnis, sondern eine Art sein Bindungsbedürfnis zu gestalten. Verbundenheit zu erleben geht aber auch mit Telefon oder mit Briefe schreiben etc. Das innere Erleben ist in hohem Maß unabhängig von den äußeren Bedingungen.
Viele Menschen kennen das etwa beim intensiven Erleben von Vorfreude. Es ist noch nichts geschehen, aber das Gefühl ist mächtig (oft stärker als bei eigentlichen Ereignis, also der Handlung)! Interessanterweise arbeiten aber viele Menschen nicht an ihrer Erlebnisfähigkeit, sondern versuchen lieber sich Handlungsoptionen zu ermöglichen. Man steht dann am Kilimandscharo, empfindet aber nicht viel. Oder eben, man empfindet nur am Kilimandscharo viel. Der Alltag bleibt grau. Wer Erlebnisfähigkeit intensiviert, der wird unabhängig(er) von äußeren Verhältnissen. Das Gehirn kann – das ist von der Hirnforschung gut belegt – nicht zwischen Wahrnehmung und Vorstellung unterscheiden. Wer sich eine geliebte Person intensiv vorstellt, hat die gleichen Hormon- und Neurotransmitterausschüttung wie beim realen Kontakt.
Frei während Ausgangsbeschränkungen?
Damit sind psychologisch gesehen die nun anstehenden Ausgangsbeschränkungen eine gute Gelegenheit an der inneren Erlebniskompetenz zu arbeiten. Wie geht man da vor?
- Man studiert, was einem äußerlich fehlt. Das kann subtil spürbar sein (Langeweile) oder deutlich (Herumtigern in der Wohnung), weil man irgendetwas nicht tun kann.
- Man versucht herauszufinden, welches Bedürfnis es ist, das wegen des verunmöglichten Mittels zu kurz kommt. Oder, fast häufiger, man studiert, welche unangenehmen Gefühle ins Bewusstsein kommen, weil man sich nicht auf vertraute und geübte Weise beschäftigen oder ablenken kann.
- Wenn man ein Bedürfnis gefunden hat, dann kann man entweder prüfen, ob es auch unter den gegebenen Umständen eine Möglichkeit gibt, es mit einem äußeren Mittel zu befriedigen. Oder aber man kann sich vorstellen, man hätte das, was man möchte, und lässt dann diese Vorstellung innerlich sich ausbreiten. Gezieltes Tagträumen könnte man das auch nennen.
- Wenn man unter 2. entdeckt hat, dass die verhinderten Aktivitäten nicht einem Bedürfnis, sondern der Ablenkung von Angst, Leere, Unsicherheit, Schmerz, Trauer, Schuld o.ä. gedient haben, dann kann man sich ab sofort den ganzen Tag – so man denn will – damit beschäftigen, sich diesen unangenehmen Gefühlen freundlich zuzuwenden. Wenn das allein nicht geht oder sich von den Anwesenden niemand als Gegenüber eignet, dann nutzt auch hier ein Griff zum Telefon.
Wer nun so reagiert, dass er innerlich denkt „Um Himmels Willen, was soll das denn bringen?“, dann könnte das ein ganz besonderer Hinweis dafür sein, dass man bislang ein Leben lebt, wo man sich selbst aus dem Weg geht, indem man ins Tun flüchtet. Gegenfrage von mir wäre, was es denn bringt von Früh bis Spät Netflix-Serien zu schauen?
Ausgangsbeschränkungen werfen alle auf sich selbst zurück. Nicht jedem kann gefallen, was er dann sieht. Nicht jeder wird froh sein, zu entdecken, in welchem Maß er sich von äußeren Verhältnissen abhängig macht. Aber jeder hätte nun auch Zeit, den inneren Spielraum zu erweitern, das ausgangsbeschränkte Leben zu genießen. Denn – im Innen ist man frei!
Wer es so nutzt, dem hat Corona in dieser Hinsicht einen Gefallen getan.
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