Klaus Eidenschink
Sollen Organisationen Freiheit ermöglichen? (Teil 4/8)
Organisationen sind mit dem Wunsch von Mitarbeitern konfrontiert, in Ruhe und selbstbestimmt ihre Arbeit machen zu wollen. Ebenso wollen Mitarbeiter klar zu wissen, wofür die zuständig sind (und wofür nicht). Menschen wiederum sind mit dem Wunsch von Organisationen konfrontiert, eigene Entscheidungen zu treffen und sich dafür verantwortlich zu fühlen. Genauso sollen sie aber auch die Entscheidungen anderer beachten. Beide wollen Gegensätzliches voneinander. Nicht nur die wechselseitigen Erwartungen sind gegensätzlich, auch Mensch und Organisation sind in sich zerrissene Systeme. Ich greife zwei der wichtigsten Punkte in diesem Kontext heraus:
- Nicht alle Menschen wollen frei und selbstbestimmt arbeiten.
- Freiheit zeigt sich in Organisationen wie bei Menschen durch die Akzeptanz von Zwängen.
Freiheit ist nicht für alle Menschen attraktiv
Der Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, prägt Menschen vom ersten Atemzug an. Von Monat zu Monat wachsen die Möglichkeiten, eigene Entscheidungen zu treffen: Köpfchen heben, von A nach B erst krabbeln und dann laufen, Löffel zum Mund führen, Schuhe anziehen, Worte finden…! Mensch sein, heißt an dieser Stelle „Nein! Mache ich alleine!“ Der Wunsch, im eigenen Rhythmus, im eigenen Stil, mit den eigenen Fähigkeiten das Leben zu gestalten, ist uns Menschen eigen. Wir wollen Ziele und Ergebnisse, und wir wollen erleben, dass wir selbst es waren, die dafür verantwortlich sind.
Wie bei allen anderen Bedürfnissen, kann der Wunsch, sich frei zu entwickeln, in seiner Entwicklung scheitern oder ungünstig verlaufen. Es gibt Kinder, die freies, selbstbestimmtes Verhalten mit Angst vor Scheitern, vor Strafe, vor Alleingelassen-Werden, mit Beschämung oder mit Sorge vor Gegängelt-Werden zu verbinden lernen. Wer glaubt, dass solche Kinder als Erwachsene ein Interesse haben, selbstbestimmt zu arbeiten und Verantwortung zu übernehmen, täuscht sich. Menschen mit solchen Erfahrungen neigen sehr viel mehr dazu, Angst vor Entscheidungen zu haben. Sie trauen sich wenig zu. Sie sperren ihre kreativen Innenräume zu, um nicht weiter aufzufallen, lieben Routinen und klare Regeln, die Sicherheit geben.
Wenn nun in Organisationen nur Rollen und Aufgaben zu haben wären, die mit Eigenverantwortung, mit Mitsprachepflichten, mit Partizipation am Risiko, mit Führen und mit Wählen und Gewählt-Werden einhergehen, dann entsteht in Menschen, die Schwierigkeiten mit Freiheit haben, nicht Lust, Motivation und Freude, sondern einzig und allein Stress!
Dieser eigentlich so naheliegende Zusammenhang wird von Beratern – die selbst meist freiheitsaffin sind (sonst wird man nicht Berater) – leider oft übersehen. Man predigt agile, demokratisierte, innovative, veränderungsaffine, fluide, selbstorganisierte Organisationen. Also solche, in denen man sich selbst wohl fühlen würde. Aber was ist mit den Menschen, die sich viel wohler fühlen, wenn sie einer geregelten, fremdbestimmten und sicheren Arbeit nachgehen können? Die keine Entscheidungen treffen möchten? Die gern mit den Konsequenzen der Entscheidungen anderer leben? Denen Verantwortung eher unangenehm ist? Will man diesen allen kündigen? Soll man alle in Personalentwicklungsmaßnahmen schicken? Werden alle zur Freiheit gerufen und in die Freuden der Veränderung geschickt? Das funktioniert nicht.
Organisationen tun aus meiner Sicht gut daran, mit durch Freiheitsmöglichkeiten geängstigten Mitarbeitern zu rechnen. Ich habe in 30 Jahren Organisationsentwicklung wenig Reflexion an diesem Punkt gesehen. Sowohl im Management wie in den HR-Bereichen herrscht ein einseitig auf Selbstbestimmung orientiertes Menschenbild vor. Verständlich. Dennoch führt dies zu Konzepten – insbesondere in der agilen Szene -, die einen Teil der Mitarbeiter außen vor lassen. Wenn Organisationen nur auf Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme setzen, werden sie Ausweichbewegungen, Absicherungsbestrebungen, Rückdelegation, Untertauchen, Aussitzen, Fingerpointing und Entscheidungsstau verursachen. Klagen über den falschen Mindset sind zwangsläufig die Begleitmusik dieser Konzepte. „New Work needs inner Work“. Mag sein. Aber kann und will das jeder im Namen seiner Mitgliedschaft leisten müssen?
Freiheit ist Einsicht in Zwang
Nun könnte man meinen, dass zumindest die Menschen, die gern frei und selbstbestimmt arbeiten ,in Organisationen gut aufgehoben sein können. Das hängt allerdings ganz davon ab, welches Verständnis von Selbstbestimmung man hat.
Freiheit entsteht, wenn eine Person, ein Team, eine Organisation eigene Regeln (!) findet, um zwischen unvermeidlichen Alternativen zu wählen. Jedes dieser Systeme hat drei Aufgaben zu lösen:
- Es muss sich in der Welt, in der es sich befindet, zurechtfinden,
- es muss für andere (Systeme) Leistungen erbringen und
- sich selbst in seiner Identität erhalten.
Was ist damit gemeint? Ich mache drei Beispiele:
- Jeder Mensch muss an der Welt durch Kommunikation, Ernährung, Lebensraum etc. teilnehmen. Niemand kann sich vollständig isolieren. Zweitens muss er als Familienmitglied (= Fürsorge), Staatsbürger (= Steuern bezahlen), Arbeitnehmer (= Ziele erreichen), Vereinsmitglied (= Engagement zeigen) etc. Leistungen erbringen, und drittens muss er reflektieren, was ihm wichtig ist, wodurch er sich auszeichnen will und wie er sich in seinen Entscheidungen wiedererkennen und wohlfühlen kann.
- Ein Team muss sich z.B. erstens an die Prämissen seiner Organisation halten, muss zweitens Leistungen für andere Teams erbringen und drittens sich damit beschäftigen, wie es sich selbst organisiert und seine Ziele erreicht.
- Eine Organisation muss sich erstens mit den Gegebenheiten des Wirtschaftssystems auseinandersetzen. Zweitens ist sie mit anderen Organisationen in Konkurrenz, nutzt Lieferanten und stellt eigenen Nutzen anderen zur Verfügung (Kunden). Drittens muss sie sich intensiv mit der eigenen Dynamik beschäftigen und wie sie ihre Zwecke organisiert.
Jeder dieser drei Aufgaben muss beachtet werden und kein System kann alles gleichzeitig und gleichermaßen berücksichtigen. Der Gebrauch von Freiheit schränkt sich selbst ein. Freiheit erzwingt den Gebrauch von Gegenfreiheiten. So ist jedes System frei (zu entscheiden) und bezahlt diese Autonomie dadurch, dass es die Folgen dessen, was es missachtet, tragen muss. Gleichzeitig muss es sich aus Freiheit Zwänge verschaffen, die Spielräume einengen, Absprachen verbindlich und Entscheidungen stabil werden lassen.
Jedes System ist frei zu entscheiden, wie es sich selbst bindet.
In Organisationen sind die Folgen unmittelbar einsichtig. Organisationen sind arbeitsteilig. Darum gibt es sie. Damit entsteht eine innere Komplexität im Gesamtsystem, die durch Einschränkung der Autonomie der Teilsysteme begrenzt werden muss. Parallel laufende Prozesse müssen aufeinander abgestimmt werden. Organisation bestehen immer aus Zwängen, egal ob dies über Verfahrensregeln, Meetingstrukturen, Hierarchie, Demokratie, Partizipation, Rollen oder Funktionen in Erscheinung tritt. Mitgliedschaft in Organisationen geht mit dem Ausfüllen von Rollen einher. Wer dies anschaulich nachlesen will, der findet im Buch von J. Muster, K. Matthiesen und P. Laudenbach „Humanisierung der Organisation“ viele Beispiele. Ob die Menschen mit diesen Strukturen zurechtkommen, hängt nicht so sehr von den Organisationen ab, sondern in höherem Ausmaß von den Formen, in denen Mitarbeiter selbst ihre Freiheit eingrenzen. Also etwa davon, ob sie sich die Freiheit lassen, zu kündigen (oder nicht), oder Wege finden, sich unentbehrlich zu machen (oder nicht).
So lässt sich verstehen, dass es immer ein Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach selbstbestimmtem Arbeiten und organisationsbestimmten Rollen und Funktion geben muss. Wenn der Mensch mit Freiheitsinteressen einseitig das Feld dominieren würde, dann wäre weder den Mitarbeitern noch der Organisation gedient. Im Gegenteil die Organisation würde kollabieren. Spielen wir es mal durch: Was passiert, wenn die Selbstbestimmungsinteressen der Mitarbeiter oberste Priorität haben?
Völlig frei?
Wollten Mitarbeiter in Organisationen nur frei sein, müssten sie sich kontinuierlich mit Autorität, Führung und bestehenden Machtunterschieden auseinandersetzen. Wenn jeder nur sein Ding auf seine Weise machen wollte, wäre nichts mehr selbstverständlich, einfach und unkompliziert. Eine beständige Auseinandersetzung mit der formellen wie der informellen Hierarchie wie mit Einflussunterschieden im Team wären die Folge. Aktiver und passiver Widerstand gegen Anweisungen und langwierige Konsenssuche würden zur Regel. Sachentscheidung würden zunehmen schwieriger, da Interessen dominieren. Es würde ständig über die Angemessenheit und die Richtigkeit von Entscheidungen (von wem auch immer) reflektiert und diskutiert werden. Eine Überlastung und Überforderung mit „internen Themen“ würde entstehen und die Lust an Mitsprache systematisch unterhöhlen. Das Empfinden, keine Zeit für die eigene, eigentliche Arbeit zu haben, nähme zu. Das würde das Gefühl, selbstbestimmt zu arbeiten, allerdings unterminieren. So würde sich die Paradoxie entfalten: Passte man sich als Mitarbeiter ganz an, würde der Prozess funktionieren, aber man verlöre die Freiheit. Bewahrte man die Freiheit, stimmte das eigene Arbeitsergebnis, aber es wäre mit dem Rest der Organisation nicht koordiniert.
Selbstbestimmtes Arbeiten in Organisationen ist demnach auf Selbstbegrenzung angewiesen. Sonst werden die Verhältnisse nicht frei, sondern chaotisch. Ob diese Begrenzung über Prozesse (z.B. Scrum, Projekte, OKR etc), Strukturen (z.B. Rollen, Hierarchie, Meetings, Kreise etc.), Strategie (z.B. Produkte, Märkte etc.), Kultur (z.B. Werte, latente Normen) oder Personalauswahl erfolgt, ist dabei dann Stilfrage. Das wird in Großorganisationen anders als im Startup sein. Es ist allerdings ausgeschlossen, dass die Selbstbegrenzungen von Person, Team und Organisation so aufeinander abgestimmt werden können, dass sie zu Harmonie führen, da die Interessen immer z.T. gegensätzlich bleiben und der Aufwand der Synchronisierung und Koordination jede Organisation überlasten würde. Entscheiden kann jedes System nur, welche Freiheiten es zu Lasten anderer Systeme ausnutzt und wie viel Zumutungen es anderen Systemen präsentieren kann, ohne dass diese die Zusammenarbeit aufkündigen.
Fazit
Entscheidend aus dem Blickwinkel der Organisation bleibt: Was den einen Mitarbeiter motiviert, wird andere belasten und überfordern. Was in der einen Organisation funktioniert, scheitert anderswo. Daher muss jede Organisation selbst die Einschränkungen und Förderungen von Freiräumen der Mitarbeiter ständig reflektieren und justieren. Ebenso tun Mitarbeiter gut daran, dass Freiheit in Organisationen immer auch „in der Einsicht in die Notwendigkeiten“ besteht – um mit Immanuel Kant zu sprechen.
Abschließend sei noch ein letztes Paradox genannt. Organisationen sind auf Regeln angewiesen. Das ist offensichtlich. Also müssen sich Mitarbeiter anpassen. Organisationen sind aber auch auf die Übertretung von Regeln angewiesen (siehe z.B. S. Kühl, Brauchbare Illegalität), damit all das funktioniert, wo Regelanwendung falsch wäre. Also müssen Mitarbeiter unangepasst sein. Auch hier herrscht also die Uneindeutigkeit, die eine Folge aller Paradoxien ist. Das Gleiche ist richtig und falsch.
Die Regelung von Freiheit und Gehorsam in Organisationen ist folglich nicht rezeptfähig, sondern alles ist aushandlungs- und anpassungsbedürftig. Organisationale Konzepte, die versprechen, dass es den einen Weg gäbe, dieses Paradox zu handhaben, machen sich unglaubwürdig. Den Zauberstab für die „richtige“ Selbstbegrenzung von Selbstbestimmung gibt es in der realen Welt nicht. Organisationen und Menschen lassen sich nicht aussöhnen. Gelänge es, dann bliebe entweder der Mensch oder die Organisation auf der Strecke.
(siehe zu der gesamten Thematik auch den Text HIER)
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