Klaus Eidenschink
Sollen Organisationen ihren Mitarbeitern Sicherheit bieten? (Teil 3/8)
Organisationen und der menschliche Wunsch vor Gefahren geschützt zu werden
Das Problem: Menschen wollen existentielle und emotionale Sicherheit und suchen diese häufig auf dysfunktionale Weise am falschen Ort. Zum Beispiel in Organisationen. Menschen „sollten“ in Organisationen allerdings nicht auf Sicherheit angewiesen sein, besser wäre sie noch nicht einmal zu erwarten. Sie tun dies aber. Daher müssen Organisationen Versprechungen machen, die sie nicht halten können. Denn es gibt keinen Ort auf der Welt, wo Menschen ungefährdet leben können.
Menschen sind biologisch gesehen Beutetiere, also gefährdet und in gewisser Weise immer fragil. Unser Stammhirn weiß das. Daher bedeutet Mensch-Sein mit Ängsten leben lernen. Die Formen, in denen über die Jahrtausende hinweg Menschen ihre Ängste vor künftigen Gefahren, Krankheit und Hunger gemildert haben, sind vielfältig. Zusammenrotten in Clans und Gruppen, Verkriechen in Höhlen, Bewaffnung und Wache halten, Vorräte anlegen, viele Kinder bekommen, Heiler ausbilden etc. Es geht um Wehrhaftigkeit, Robustheit und Bevorratung. Heute nutzt man Versicherungen, Rentenansprüche, Verträge, Sparbücher, Investments, Arbeits- und Sozialämter, Intensivmedizin. Man versucht Gefahren nicht nur durch familiären Zusammenhalt, sondern auch sozialpolitisch, medizinisch, rechtsstaatlich und durch Verträge aller Art abzusichern. Kein Wunder also, dass auch Organisationen zum Adressaten von Absicherungs- und Sicherheitsinteressen ihrer Mitarbeiter werden. Daher ist es sinnvoll, wenn Organisationen etwas vom menschlichen Sicherheitsbedürfnis verstehen. Erst dann können sie angemessen damit umgehen.
Das Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt sich im seelischen Innenraum
Ich habe als Therapeut und Coach mit armen und reichen Menschen gearbeitet. Im Hinblick auf (Zukunfts-)Ängste konnte ich keinen großer (seelischer) Unterschied beobachten. In beiden Lagern gab es Gelassenheit und es gab Panik. In beiden Lagern gab es Zuversicht und ständiges Sich-Sorgen. Es mag erstmal verwundern, dass der Zugriff auf äußere Ressourcen und Absicherungen offensichtlich keine so große Rolle spielt. Das heißt nicht, dass hier die Angst, die eigenen Kinder nicht ernähren oder schützen zu können, mit der Sorge um den Aktienkurs gleichgesetzt werden soll. Es geht mir um den Hinweis, dass die Dimension innerer Ängste oft auffällig abgekoppelt ist von den realen Bedingungen, in denen Menschen leben.
Das Sicherheitsgefühl von Menschen speist sich – grob gesagt – aus vier Kompetenzen.
- Erstens aus der Selbstwahrnehmung, dass man vital, kontaktvoll, kräftig und entschieden auf (unerwartete oder gefährliche) Situationen antworten kann.
- Zweitens aus der Frustrationskompetenz auf gegenwärtige Bedürfnisse zugunsten künftiger Bedürfnisse verzichten zu können.
- Drittens auf der Fähigkeit loszulassen und sich Neuem zuzuwenden, wenn es nötig ist.
- Viertens aus der Fähigkeit sich mit anderen zu verbinden und zu verbünden, wenn Gefahren nicht allein zu bewältigen sind.
Hat man diese Kompetenzen, fühlt man sich so sicher, wie Menschen das möglich ist. Man ist also sicher im Umgang mit Unsicherheit. Denn man kann dann die Realität anerkennen: Das Leben bietet für niemanden Sicherheit, sondern alle müssen mit Ungewissheit zurecht kommen. Leben ist gefährlich.
Die Folgen von mangelnder Kompetenz im Aufbau innerseelischer Sicherheit
Wenn sich diese vier Fähigkeitsbündel nicht oder unzulänglich ausgebildet haben, werden Menschen zwangsläufig fragil und können mit Unsicherheiten schlecht umgehen. Welche Folgen haben solche Kompetenzmängel, wenn Menschen zu Mitgliedern einer Organisation werden?
Wenn Menschen Einbußen in ihrer Sicherheitskompetenz haben, dann verlagert sich der Fokus ihrer Aufmerksamkeit von Innen nach Außen. Es wird versucht, innere Sicherheit durch äußere Sicherheit zu ersetzen. Ein Beispiel: Aus der (inneren) Zuversicht eine passende Antwort auf die Drohung mit Kündigung zu finden, wird der Versuch eine unerwünschte Kündigung in jedem Fall zu verhindern. Ob dies durch Anstreben einer Verbeamtung, einer Wahl zum Betriebsrat, einer Affäre mit der Chefin, einer Selbstaufopferung in der Arbeitslast, Aushandlung langer Kündungsfristen o.ä. angestrebt wird, ist von Fall zu Fall verschieden. Gelingt es nicht oder nur unzureichend, bleibt der Mensch im Stress. Daher sind viele Menschen ein Leben lang damit beschäftigt, Lebensumstände zu gestalten, die primär das Ziel haben Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln – die es ja wie beschrieben dort nicht wirklich geben kann.
Organisationen – hier als Arbeitgeber gemeint – sind nun „Objekte“, die in ganz besonderem Ausmass Sicherheitserwartungen ausgesetzt sind. Menschen suchen also nicht nur einen Platz um zu arbeiten und ihre Talente einzubringen, sondern sie suchen „Unterschlupf“. Sie hoffen, dort einen sicheren Ort zu finden, da sie ihn in sich nicht vorfinden. Damit überlasten sie jede Organisation, vielleicht sogar jeden Familienbetrieb. Nun gibt es Organisationen, die mit einem solchen Versprechen werben: Manche inhabergeführte Unternehmen („Keiner wird allein gelassen!“), Behörden („Hier werden Sie verbeamtet!“), manche Start-ups („Lasst uns für immer Freunde sein!“). Es erschließt sich, wie attraktiv solche Versprechungen sind. Und man ahnt, dass solche Erwartungen in einem hohen Maße enttäuschungsanfällig sind. So wie Ehen in schlechten Zeiten durchaus gegen alle Zusagen geschieden werden, so erweisen sich auch Organisationen als Orte des Wandels und der überraschenden Wendungen. Damit werden sie auch Orte gebrochener Versprechungen und der mitleidsarmen Austauschbarkeit von Mitgliedern.
Es nimmt also nicht wunder, dass Aushandlungsprozesse (z.B. Arbeitsverträge) zwischen Mitgliedern und Organisation von Seiten der Mitglieder sich oft vornehmlich um Absicherungen drehen. Betriebsvereinbarungen, Kündigungsfristen und Abfindungen sind nur Beispiele, die Sicherheiten sicherzustellen versuchen.
Paradoxie von Sicherheitsbestrebungen
Bei alldem wird auf Seiten der Mitarbeiter häufig vollkommen übersehen, wie paradox diese Sicherheitserwartungen im Außen sind. Sicherheit geht immer auf Kosten von Flexibilität und Freiheit. So wollen alle sicher sein und regen sich gleichzeitig darüber auf, dass ganze Arbeitsbereiche um Personen herum gebaut werden, die nicht kündbar sind. Man wundert sich über Mobbing und übersieht, dass in manchen Kontexten es der einzige Weg ist, jemanden auszuschließen, der sachlich oder sozial für das Team nicht tragbar ist. Minderkompetenz von Kollegen wird beklagt, ohne zu sehen, dass Verbeamtung nicht der beste Motivator für Fortbildungen ist. Man ärgert sich über mangelnde Autonomie und Flexibilität der eigenen Rolle und vergißt, dass die eigene Freiheit für den Kollegen zur Unkalkulierbarkeit werden kann, gegen die dieser sich aus Sicherheitsinteressen wehrt. Man legt sich auf (strategische) Entscheidungen fest und droht stur und verbissen zu werden, weil Unsicherheit droht, wenn der Plan aufgegeben werden müsste. Die Beispiele ließen sich mehren.
Organisationen sind um solche Konflikte herum gebaut (Siehe dazu unser Buch: Entscheidungen ohne Grund. Organisationen verstehen und beraten). Aber auch auf der Seite menschlicher Erwartungen drohen Bedürfniskonflikte. Wenn es im Folgeartikel um die Autonomiewünsche von Mitarbeitern in Organisationen geht, werden die Spannungslinien zum Sicherheitsthema noch deutlicher werden. Was dem einen seine Sicherheit, ist dem anderen dessen Unflexibilität. Was dem einen seine Freiheit, ist dem anderen dessen Unkalkulierbarkeit. Auch deshalb sind Erwartungen der Mitarbeiter illusionär, dass Organisationen unterschiedliche Sicherheitsbedürfnisse in Harmonie und Wohlfühlen auflösen können.
Was können Organisationen daraus ableiten?
- Organisationen dürfen und sollten Ängste von Mitarbeitern, äußere Sicherheiten zu verlieren, nur mit Bedacht übergehen. Wer in existenziellen Ängsten oder mächtigen Sorgen um die Zukunft steckt, arbeitet selten gut. Daher dürfen Organisation alle Errungenschaften der sozialstaatlichen Gesellschaft würdigen. Auch dann wenn das manche Entscheidungen erschwert.
- Organisationen müssen andererseits gezielt entscheiden, wann sie deutlich machen, wo ihre Verantwortung und Fürsorge endlich ist. Das muss geschehen, ohne (!) dass der Wunsch dahinter schlecht gemacht wird. Denn auch wenn solche Wünsche Ausdruck von Versorgt-werden-wollen sein mögen (wie hier ja auch dargestellt), so dürfen Menschen nicht beschämt werden, weil sie Sicherheit beim falschen Adressaten suchen.
- Organisation müssen damit rechnen, dass Mitarbeiter mehr Angst haben als sie kommunizieren. Daher ist die aktuell so gehypte „psychologische Sicherheit“ in Teams ein relevanter Faktor. Man tut gut daran, grundsätzlich damit zu rechnen, dass Menschen mehr an Beruhigung von Ängsten brauchen, als sie zugeben. Insbesondere Ängste ausgeschlossen zu werden oder den Arbeitsplatz zu verlieren, sind oft stärker als die Betroffenen sich selbst eingestehen wollen.
- Organisationen müssen grundsätzlich mit Widerstand rechnen, wenn stabile, also sichere Verhältnisse geändert werden sollen (vgl. dazu ausführlich Kahnemans Prospect-Theory). Nicht alle Menschen wollen lernen (=Verunsicherung), auch wenn die aktuellen Verhältnisse kritisierbar und suboptimal sind. Man weiß, was man hat. So sind Menschen oft widersprüchlich: Sie wollen lernen und sicher bleiben. Darum ist so wichtig, dass in Changeprojekten nicht nur mit Begeisterung für das Neue, sondern auch mit Erwartungen auf neue Stabilität gearbeitet wird. Fehlende Veränderungswilligkeit anzuklagen hilft nicht, sondern löst weitere Ängste aus, nie Lust auf Neues.
- Organisationen, die auf Dauerchange, Agilität und Flexibilität setzen, müssen sich darüber im Klaren sein, dass dies nur für einen bestimmten Typus von Mitarbeiter passend ist. Andere wollen und können das nicht. So wie auch nicht jeder mit einer Verbeamtung glücklich wäre. Hier geht es nicht um „Mindset“ oder gar dessen Änderung, sondern um Respekt vor Ängsten, die sich willentlich nicht einfach abstellen lassen.
Was heißt das für Menschen als Mitglied einer Organisation?
Wichtig scheinen mir folgende Punkte:
- Sicherheit im Außen gibt es nicht umsonst. Man bezahlt den Preis der Abhängigkeit. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, aber man sollte es wissen.
- Sicherheit im Außen ist nie sicher. Keine Organisation kann Unglück aus dem Leben der Mitarbeiter fernhalten. Man rechne mit Enttäuschungen und lerne diese zu normalisieren.
- Sicherheit im Außen lässt die Fähigkeiten verkümmern, die man in Krisen braucht. Daher könnte man organisationale Veränderungen als eine Art persönliche „Feuerwehrübung“ für andere Krisen begreifen. Das Unangenehme zu umarmen, hilft auch Kompetenzen aufzubauen. Man weiß nie, wann man es im Leben sonst noch so braucht. Denn – die moderne Gesellschaft und die gegenwärtigen Krisen lassen ahnen, dass Zeiten mit weniger Stabilität auf alle zukommen werden.
- Es gibt kein Leben, das risikolos ist. Auch nicht in Organisationen. Selbst nicht als Beamter beim Staat. Wer das vergisst, wird sich ein Leben lang beschweren und beklagen, weil die Verhältnisse nicht so sind, wie sie sein sollten. Man wird zum Nörgler und Zyniker. Demnach tut man gut daran, Skepsis gegenüber der eigenen Empörungsbereitschaft als etwas anzusehen, das man hegen und pflegen sollte.
- Es gilt einen Weg zu finden, für sich zu akzeptieren, dass die Welt gefährlich und Sicherheit eine bestenfalls zeitinstabile Illusion in der Außenwelt ist.
- Man sollte die Kompetenz erwerben, sich Trost in der Unsicherheit und Angst zu holen, weil nur stabile persönliche Beziehungen ein Sicherheitsnetz der (inneren) Verbundenheit aufzuspannen vermögen.
In Summe: Menschen sollten also Organisationen von der Erfüllung ihrer Sicherheitserwartungen so gut es geht entlasten – jedenfalls dann, wenn sie glücklich und entspannt leben wollen. Dazu braucht es einen sicheren inneren Ort. Diesen aufzubauen oder wiederzufinden ist für viele Menschen alles andere als einfach. Dennoch unerlässlich, wenn man nicht ein Leben in Angst verbringen möchte.
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