Klaus Eidenschink
Sollen Organisationen ihre Mitarbeiter wertschätzen? (Teil 2/8)
Zum Wertschätzungsparadox in Organisationen
Ich starte damit, an das „kleinen Einmaleins“ der Wertschätzungspsychologie zu erinnern:
- Wem tut Wertschätzung gut? Jedem!
- Wer muss Wertschätzung von anderen bekommen? Kinder!
- Wer ist nicht auf Wertschätzung von anderen angewiesen? (Seelisch) Erwachsene!
- Wer ist seelisch erwachsen? Wer sich selbst mit Wertschätzung versorgen kann und zusätzlich die Wertschätzung anderer genießen kann!
Wer in seiner Arbeit zufrieden sein will, kann das ganz einfach dadurch sein, indem er selbst mit seiner Arbeit zufrieden ist. „Das habe ich gut gemacht!“ Auf dieser Basis kann es zusätzlich(!) sehr beglückend, verbindend, motivierend und bereichernd sein, wenn von anderen die eigene Leistung ebenso gewürdigt wird. So entsteht soziales Miteinander und Bindung zwischen Menschen.
Eine ganz andere Geschichte wird jedoch daraus, wenn Menschen sich von der Wertschätzung anderer abhängig machen und daher gelobt und gepriesen werden müssen. In dem Moment wird aus sozialem Miteinander eine Symbiose wechselseitiger emotionaler Abhängigkeiten.
Nun liest man immer wieder, dass Führungskräfte ihre Mitarbeiter wertschätzen müssen und Mitarbeiter eine humane Organisation daran erkennen können, dass sie eine wertschätzende Kultur vorfinden. Diese Annahme verschleiert eine ganze Reihe von Problemen, die Menschen in Organisationen tragen und sich damit selbst und der Organisation schaden.
Durch die Forderung nach Wertschätzung etabliert sich nämlich zwischen Mitarbeiter und Organisation automatisch eine Kind-Eltern-Dynamik. Das Kind malt ein Bild und braucht (für eine gewisse Lebensphase) dafür Lob von den Eltern: „Gut gemacht!“ Validierung nennt die Psychologie dies. Läuft dies regelmässig so, dann wird aus Fremdbestätigung Selbstanerkennung. Dann ist die Abhängigkeit von Lob und das Einfordern von Wertschätzung andere überflüssig. Wenn nun Mitarbeiter Arbeitsleistungen erbringen und dafür neben der Entlohnung zusätzlich Anerkennung einfordern, dann kann das als Hinweis darauf gedeutet werden, dass diese Verinnerlichung von Wertschätzung mißlungen ist: Die Organisation – repräsentiert durch Rollenträger – wird als Instanz angesehen, die für das Spenden von Belobigung zuständig ist. Der Mitarbeiter wird gleichzeitig zum „seelischen Kind“, das diese Spende dankbar empfängt. Das ist so üblich, dass es gar nicht als problematisch auffällt.
Wenn Menschen im Hinblick auf ihre Selbstwertregulation nicht autonom sind, bleiben sie auf der Suche nach einem idealen und wichtigen Außen, welches sie mit Wertschätzung versorgt. Neben Partnern, Kindern und Haustieren eignen sich für diese ungünstige Erwartung ans „Außen“ ganz besonders eben auch Organisationen, repräsentiert durch Vorgesetzte und andere wichtige Rollen. Die Formen, die diese Wertschätzung annehmen kann, sind vielgestaltig: Beförderung, extra Belohnungen, emotionaler Zuspruch, lobende Hervorhebungen vor anderen, Dankbarkeit oder Platzierung in öffentlichen Rankings der besten Mitarbeiter. Also man sieht – Alltag in Organisationen.
Schädigung durch Wertschätzung
Dennoch läuft für den Mitarbeiter wie für die Organisation dabei etwas gewaltig schief. Warum?
Die Erwartung, dass für die Arbeit Lob ausgesprochen werden muss, ist für jeden Mitarbeiter aus mehreren Gründen selbstschädigend und funktioniert zudem schlecht:
- Sie stabilisiert den Mangel an Selbstwertschätzung, weil dieser nicht so auffällt, wenn man es von anderen bekommt. Wer gefüttert wird, merkt nicht so leicht, dass er selbst nicht essen und sättigen kann bzw. leidet darunter nicht so stark.
- Die Wertschätzung anderer wird in der Regel zuallermeist angezweifelt und somit entwertet. Einige Beispiele: „Wenn mich der andere wirklich kennen würde, dann wäre er nicht so nett!“, „Das sagt sie nur, weil sie sich davon etwas erwartet!“, „Das sagt er nur, solange ich xy mache. Wenn ich damit aufhöre, dann ist es mit der Liebe gleich vorbei!“
- Die äußere Wertschätzung wird für die Betroffenen zu wichtig oder gar unersetzlich und damit entstehen mehr oder weniger große Verlustängste. Ungünstige Anpassungsprozesse sind die Folge. Man orientiert sich am anderen und nicht an sich oder den Erfordernissen der gegenwärtigen Situation. Aus Selbststeuerung wird so Fremdgesteuertheit. Man tut das, was dem Chef, der Chefin gefällt, nicht das, was nötig ist.
Daher tun Menschen gut daran, ihre äußere Abhängigkeit zur Stabilisierung ihres Selbstwertes zu reduzieren. Dazu gehört, den eigenen Wert nicht an Leistung zu knüpfen, sich zu mögen, auch wenn andere das nicht tun, die eigene Selbstwahrnehmung auf das zu richten, was einen auszeichnet und nicht auf das, was fehlerhaft scheint – um ein paar Aspekte zu nennen. Ganz besonders aber geht es darum, nicht zu erwarten, dass man in Organisationen sein Wertschätzungsglück findet. Denn selbst wenn man dort viel Anerkennung bekommt: Am nächsten Tag kann sie durch Kündigung oder Konkurs der Firma verschwunden sein. Dann steht man da! Ich kenne Fälle, wo Menschen in den Dax-Vorstand aufsteigen und in die Depression fallen, wenn der Vertrag nicht verlängert wird, oder bei einer Beförderung übergangen werden und die Welt nicht mehr verstehen.
Aber was folgt daraus nun für Organisationen?
Wenn Organisationen mit den Menschen, wie sie nun mal sind, gut zurechtkommen wollen, sollten sie klar vor Augen haben, dass ein Teil der Mitarbeiter, was die eigene Selbstwertregulation anbelangt, in ungünstigen und selbstschädigenden Mustern lebt. So wie also Organisationen in kalten Gegenden gut isolierte und geheizte Gebäude errichten, so sollten sie in Umwelten, in denen Menschen sich auf äußere Wertschätzung angewiesen fühlen, darauf kunstvoll reagieren können. Denn – ignoriert man dieses Phänomen, wird es ebenso ungemütlich, wie wenn man keine Heizung einbaut und der Winter kommt.
- Organisation tun gut daran, damit zu rechnen, dass sie Mitglieder rekrutieren, deren emotionale Bedürftigkeit sich in Form ungünstiger Hoffnung auf „Liebe und Zuwendung“ zeigt. Wenn die Organisation sich auf den eigentlich berechtigten Standpunkt stellt „Geld gegen Arbeitsleistung“, dann wird das zu dysfunktionaler Demotivation solcher Mitarbeiter führen.
- Organisation tun gut daran, nicht der Illusion zu erliegen, alle Mitarbeiter wären intrinsisch motiviert, wenn sie nur die passende Arbeit tun oder angemessen entlohnt werden. Ein großer Teil der Mitglieder braucht eine Umgebung kultivierter Wertschätzung, um sich wohlzufühlen und sich anzuspornen. Das erklärt die Bestrebungen der HR-Abteilungen hierfür das Personal, insbesondere die Führungskräfte zu schulen. Das ist nach dem hier Ausgeführten auch sehr sinnvoll. Zudem kostet das Ausdrücken von Wertschätzung nichts.
- Organisationen tun gut daran, es mit der Wertschätzung nicht zu übertreiben. Je mehr Wertschätzung, desto größer die ungünstigen Nebenwirkungen. Wenn alle überall für alles jederzeit gelobt werden, ist das Lob nichts mehr wert. Zum anderen wiegen sich viele Menschen in Sicherheit, wenn sie gelobt werden. Alles scheint dann in Ordnung. Die Aufmerksamkeit für Schwächen, Fehler und Lücken in der Kompetenz droht zu sinken. Die Mitarbeiter werden sozusagen seelisch leicht und anstrengungslos wohlgenährt. Verwöhnungskultur nannte Freud schon solche Kontexte. Es braucht also auch Prozesse kritischer Rückmeldungen. In den meisten Organisationen gibt es dies daher auch schon lange.
- Organisationen tun gut daran, auf negative Nebenfolgen von Wertschätzung zu reagieren. Wo entsteht selbstausbeuterische Überlastung aus Wertschätzungssymbiosen heraus? Wer opfert sich zugunsten von Anerkennung ungünstig bis zum Zusammenbruch auf? Wo entstehen ungünstige Konkurrenzlagen, weil nicht um die beste Entscheidung gerungen, sondern um die meiste Anerkennung gebuhlt wird? Wenn sich Mitarbeiter emotional an den Wünschen der Führungskraft, orientieren und nicht an dem, was die Situation erfordert, kann das zu ungünstiger Entscheidungsorientierung führen. (Selbst-)Entmündigung durch Wertschätzung könnte man das nennen.
- Organisationen tun gut daran, damit zu rechnen, dass äußere Anerkennung trotzdem bei Mitarbeitern nicht zwangsläufig zu Zufriedenheit führt. Äußere Anerkennung fällt in vielen Fällen in ein Fass ohne Boden. Sie kommt zu spät, für den falschen Fokus, von der falschen Person, an der falschen Stelle etc. Jeder kennt dafür Beispiele. Daher gilt es hier für die handelnden Personen keine falschen Erwartungen im Hinblick auf Dankbarkeit und Gegenwürdigung aufzubauen.
- Organisationen tun gut daran zu wissen, dass die Wertschätzung für den einen immer auch eine Auswirkung auf andere hat. Man kennt das von Geschwistern, die darum kämpfen, dass auch Lob gleichmässig und gerecht verteilt wird. Lobt man das eine, schmollt das andere, wird eifersüchtig und fängt Streit an. So auch in Organisationen. Die Motivation durch Bonuszahlung für den einen demotiviert den anderen, der meint, er hätte sich genauso engagiert. Die Beförderung der einen führt zur Kündigung der anderen. Wertschätzung motiviert und demotiviert in sozialen Systemen meist gleichzeitig.
Fazit
Menschen projizieren ihre inneren Mangelzustände auch auf Organisationen. Wer sich selbst wertschätzt, fühlt sich wertvoll jenseits davon, ob etwas gelingt oder nicht, ob andere das Gelungene sehen oder nicht und ob andere das Gelungene würdigen oder nicht. Diese Form der Selbstregulation ist bei fast keinem Menschen durchgängig zu erwarten und dauerhaft stabil. Es gibt akute und chronische Selbstwertkrisen, die die meisten mal mehr, mal weniger durchmachen. In diesen Krisen neigen Menschen dazu, von Organisationen „Heilung durch Lob“ zu erwarten. Dadurch tragen sie Wünsche in Organisationen, die die Organisation nur sehr unvollkommen erfüllen kann und den Wünschenden in ständigen Frust oder zu starke Abhängigkeit gegenüber der Organisation bringen. Das lässt sich ändern, indem die Mitglieder hier die Verantwortung zu sich zurücknehmen.
Jede Organisation muss mit „unvollkommenen“ Mitarbeitern zurechtkommen. Jedes Organisationsmitglied muss mit „unvollkommenen“ Reaktionen in der Organisation auf seine Wertschätzungswünsche umgehen lernen. Das geht nie glatt auf. Daher müssen Organisationen damit leben, dass über sie geklagt wird – ständig, inbrünstig und im Brustton der Überzeugung. Organisationen werden kritisiert, weil sie Menschen nicht ausreichend das geben, was diese sich selbst nicht oder nicht ausreichend geben können. Sie scheitern daher zwangsläufig an diesen Wertschätzungspflichten und geben ihren Mitarbeitern damit zu erkennen, dass diese andere und bessere Wege finden könnten, um mit sich ins Reine zu kommen. Als Wertschätzungslückenstopfsysteme eignen sich Organisationen nur sehr bedingt. Dennoch wird es von sehr vielen Menschen nachhaltig versucht.
Wir Menschen wiederum tun gut daran, nicht naiv davon auszugehen, dass wir in jedweder seelischen Verfassung organisationstauglich (oder fallweise eltern-, ehe-, vereins-, nachbarschafts-, patienten-, lern-, demokratie-, planeten- oder erleuchtungstauglich) sind.
Denn – wir können an uns arbeiten und die Verantwortung dort belassen, wo funktional mit dem Bedürfnis umgegangen werden kann!
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