Klaus Eidenschink
Gerechtigkeit
Wie andere Zielpunkte der säkularisierten christlichen Moral ist Gerechtigkeit ein Begriff, auf den sich alle einigen können. Es soll gerecht zugehen oder zumindest nicht allzu ungerecht. Die Einigkeit hält, solange nicht genauer gefasst wird, was mit gerecht gemeint. Ist es gerecht Ungleichheit gleich zu behandeln oder muss auf Ungleiches ungleich reagiert werden? Ist es gerecht, auf Taten blind die versprochenen Konsequenzen folgen zu lassen, oder braucht die Gerechtigkeit das zugedrückte Auge, das Milde walten lässt? Soll Gerechtigkeit nah oder fern, lokal oder global gelten? Ist es gerecht, etwas in der Familie oder im eigenen Land gerecht zu verteilen, aber die Unterschiede zwischen Familien oder zwischen Länder in der Ungerechtigkeit zu belassen? Soll man eigene Vorteile aufgrund von erwiesener Ungerechtigkeit aufgeben, auch wenn das in Summe die Ungerechtigkeit nicht mildert?
Warum ist das mit der Gerechtigkeit so schwer?
Das liegt daran, dass in unserer westlichen Kultur ein Denken in monovalenten – also nur guten oder nur schlechten – Begriffen üblich ist. Gerechtigkeit wird weder mit einem widersprechenden Gegenbegriff (etwa Liebe oder Barmherzigkeit) gedacht, noch als in sich widersprüchlich. Georges Saunders hat mal geschrieben „Solange es Liebe gibt, wird es Menschen geben, die nicht geliebt werden“. Den Satz kann man variieren: „Solange es Gerechtigkeit gibt, wird sie Ungerechtigkeit erzeugen“.
Orientiert sich ein soziales System an Gerechtigkeit, lässt sich sehr häufig beobachten, dass dies zu Ansprüchen an die Instanzen führt, die für eben diese Gerechtigkeit sorgen sollen: Staat, Politik, Verwaltung, Gerichte, Mächtige. Versuchen diese Instanzen dies umzusetzen, machen sie die Erfahrung, die alle Eltern kennen: Man scheitert. Irgendjemand fühlt sich immer zu kurz gekommen oder übersehen. Gerechtigkeitsforderungen tragen also immer das Potential für Spaltungen in sich. Das muss und kann man wissen. Wenn also im sozialen Zusammenleben, Versuche für Gerechtigkeit zu sorgen, nicht problematisch Wirkungen haben sollen, muss man die andere Seite – die Ungerechtigkeit – ebenfalls mit Kompetenz aufzuladen.
Dafür gibt es drei Möglichkeiten:
- Man kann lernen sich mit Ungerechtigkeit anzufreunden, wenn man selbst von Ungerechtigkeiten betroffen ist, aber anderen (!) davon offensichtlich massiv geholfen ist.
- Man übt, für Gerechtigkeit dann einzutreten, wenn man selbst von bestehender Ungerechtigkeit profitiert.
- Man versteht Ungerechtigkeit als Anlass zur Selbstreflexion. Dann muss man sich die Frage stellen, ob es für die Bewältigung der Situation günstig ist, die Unterscheidung von gerecht und ungerecht überhaupt zur Anwendung zu bringen. Denn in vielen Fällen ist genau das das Problem. Gerechtigkeit basiert auf einem Vergleich (mit anderen). Oft ist das schädlich: Wer vergleicht, findet immer jemand, dem es besser geht oder der es besser hat.
Daher ist Gerechtigkeit ist ein sehr zweischneidiges Schwert! Man muss die Ungerechtigkeiten in Gerechtigkeit und die Gerechtigkeiten von Ungerechtigkeit sehen können. Das einzige, was man sicher wissen kann: Die Welt ist ungerecht. So braucht es die Fähigkeit, mit Bevorzugung genauso gut umgehen zu können wie mit Benachteiligung. Die moralische Aufladung von Gerechtigkeit als das „Richtige“ steht dem massiv im Weg und führt zu sehr ungünstigen Folgen.
Gleichzeitig ist es wichtig, dass man Kriterien dafür hat, wann und wo es wichtig ist, den Nutzen und den Wert von Ungerechtigkeit für soziale wie psychische Systeme im Blick zu behalten. Auf der psychischen Seite ist es jedenfalls eine Kernkompetenz seelischen Erwachsenseins mit Ungerechtigkeit ggf. ein gutes Auskommen haben zu können. Sonst entsteht ein Dauerzwang zur Rebellion und Gerechtigkeitseifer.
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.