Ohne Gefühle läuft nichts!
Einer der wirkmächtigsten Mythen unserer Kultur ist, dass Verhalten und Entscheidungen durch die Rationalität, den Verstand, das Denken, die Vernunft kalkuliert und gesteuert werden. Dabei kann jeder schon am eigenen Leib wissen, dass das Unsinn ist. Was alles wird vermieden aus Angst, wird erstrebt aus Gier und Eifersucht, wird unterbunden aus Schuld, wird untersagt aus Furcht, wird verfolgt aus Zorn und Wut, wird erduldet aus Liebe, wird verleugnet aus Scham, wird geglaubt aus Unsicherheit, wird ertragen aus Stolz, wird abgelehnt aus Unterlegenheit, wird fokussiert aus Eitelkeit, wird bekämpft aus Minderwertigkeit, wird verzögert aus Vorsicht, wird abgelehnt aus Kränkung, wird angestrebt aus Begeisterung, wird gut gemacht aus Freude, wird übertrieben aus Leidenschaft, wird genossen aus Lust, usw. usf.?
Weil das so einfach zu wissen ist, kommt keine Beratung, die etwas auf sich hält, – egal ob Coaching, Team- oder Organisationsberatung – ohne Kompetenz im Umgang mit Gefühlen aus. Wer professionelle Argumente sucht oder braucht, der findet derzeit in den Neurowissenschaften eine Unmenge Belege dafür, dass ohne eine Aktivierung von Gefühlen sich keine synaptischen Strukturen im limbischen System (= emotionsregulierender Teil im Gehirn) verändern können. Wer über Gefühle spricht, aber keine dabei spürt und erlebt, kann 20 Jahre über Ängste sprechen, ohne dass sich an diesen Ängsten etwas ändern wird. (Siehe dazu etwa das neue Buch von Roth/Ryba, Coaching und Beratung in der Praxis)
Das Dilemma bei der Angelegenheit ist: Wer vor den eigenen Ängsten (und anderen Gefühlen) Angst hat, tut sich nicht so leicht, sich auf sie einzulassen. Schon aus diesem Grund brauchen Menschen sowie Teams und Organisationen, die auf Menschen angewiesen sind, Unterstützung durch Beratung, die Gefühle mag und wichtig findet.
Worin besteht nun diese beraterische Kompetenz? Sie hat in jedem Fall zwei Aspekte: Der eine besteht im Umgang mit den eigenen Gefühlen und er andere im Umgang mit den Gefühlen beim Kunden.
Kompetenz mit den Gefühlen beim Berater
Zum ersten ist es wichtig, Gefühle als das wesentliche menschliche Resonanzorgan zu verstehen. Gefühle koppeln uns wahrnehmungsseitig an die Welt. Was Gefühle hervorruft, wird zu unserer Umwelt, also in gewisser Weise Teil unseres Lebens. Personen und ihre Absichten, Teams und ihre Beziehungsmuster, Organisationen und ihre Entscheidungsmuster sind gekoppelt über Gefühle. Daher brauchen die Berater zuallererst selbst einen umfassenden Zugang zu den eigenen Emotionen, damit sie dem Kunden die differenzierte Resonanz zur Verfügung stellen können, die es braucht, um zu günstigen Interventionen zu kommen. Zugang zu den eigenen Gefühlen ist etwas anderes als diese Gefühle zu haben und auszuagieren. Zugang bedeutet, Gefühle unterscheiden zu können, die eigenen Zwecken dienen und die eine Resonanz auf den Kunden sind. Zugang bedeutet, die Gefühle nicht zu bewerten in gute und schlechte, sondern jedes Gefühl willkommen zu heißen, gerade auch unangenehme. Zugang heißt, dem anderen nicht die „Schuld“ an den eigenen (unangenehmen wie angenehmen) Gefühlen zu geben, sondern es als Antwort auf unbewusste Motive zu deuten. Erst dann werden Gefühle zu Indikatoren von Mustern beim Coachee, beim Team, bei der Organisation. Man „erspürt“ in gewisser Weise, wann und wo der Kunde sich seiner Möglichkeiten beraubt, welche Alternativen er ausschließt und welche Gefühle gesucht und vermieden werden. All diese Wahrnehmungen braucht der Berater, um den Kunden auf blinde Flecken aufmerksam zu machen. Ebenso braucht es die Gefühle beim Berater, um „ein Gefühl dafür zu bekommen“, was die „eigentlichen“ (= emotionalen) Gründe für Entscheidungen, Verhaltensweisen und Konflikte beim Kunden sind.
Kompetenz mit den Gefühlen beim Kunden
Wenn es wahr ist, dass Mitarbeiter aus Ängsten heraus Veränderungen vermeiden, hinauszögern, bekämpfen etc., dann muss Beratung Unterstützung für das Tolerieren von Ängsten anbieten (und nicht versuchen Begeisterungsstürme zu wecken). Wenn es wahr ist, dass Führungskräfte aus Unsicherheit, Scham und Schuld, wichtige Entscheidungen vor sich her schieben, dann braucht es Unterstützung im Umgang mit Unsicherheit, Scham und Schuld (statt Kommunikationsschulungen). Wenn es wahr ist, dass Gremien sich um die Eitelkeit und Kränkbarkeit von Schlüsselpersonen herum organisieren, dann brauchen die Betroffenen Unterstützung besser mit ihrer narzisstischen Not umzugehen (und nicht einen Vision-Mission-Purpose-Strategie-Workshop, der die Eitelkeit der betroffenen Vorstände nur weiter bedient).
Viele Change-Projekte, die Gefühle berücksichtigen, arbeiten mit sogenannten positiven Gefühlen: Dem Wecken von Begeisterung, Wertschätzung, Leidenschaft, Glauben ans Gelingen etc. Daran ist nichts Schlechtes. Allerdings werden in den wenigsten Fällen unangenehme Gefühle wie Angst, Schuld, Scham durch angenehme Gefühle getilgt oder auch nur unwirksam gemacht. Wenn auch die Berater diese Emotionen übergehen und übersehen, bleiben die Kunden weiter mit den Ängsten, Schuld- und Schamgefühlen allein. Sie werden sich weiter sorgen, dass die anderen merken könnten, wie es wirklich in ihnen aussieht, werden weiter andere(s) abwerten, um nicht selbst in die Schusslinie zu kommen, werden weiter sich auf Kosten anderer optimieren, um ihrer eigenen Not zu entkommen. Berater brauchen demnach eine hohe Kontaktfähigkeit mit Menschen, die in emotionale Zustände kommen, die ihnen unvertraut sind und mit denen sie nicht ausgesöhnt sind.
Wer als Berater tabuisierte und vermiedene Gefühle bei Kunden anspricht, und dafür Kontakt, Empathie und Unterstützung anbietet, kommt so gut wie immer an die Faktoren, die beim Kunden dafür sorgen, dass Veränderungen nicht klappen, zu langsam sind, Konflikte sich nicht günstig bearbeiten lassen, Energie und Sinn fehlen oder Neuerungen nicht integriert werden. Tabuisierte, abgespaltene, verleugnete Emotionen sind Garanten für Stagnation und unfruchtbare Dauerkonflikte. Allerdings kann man sich auf Tabus nur beziehen, wenn man als Berater nicht auf die (sofortige) Wertschätzung und Bestätigung vom Kunden angewiesen ist. Die eigene emotionale Unabhängigkeit ist hier von höchster Wichtigkeit.
In Organisationen, in denen das Rationalitätsparadigma offiziell herrscht und damit immer die angeblich unwichtigen und aus der Kommunikation ausgeblendeten Gefühle dominieren, braucht es also Beratung,
- die mit der Aktivierung von Emotionen zurecht kommt,
- die nicht auf nur „gute“ Gefühle fokussiert,
- die genügend Sicherheit mit dem Kunden erarbeitet, um sich mit bislang abgewehrten Gefühlen zu beschäftigen und
bei Kunden, die Zuversicht ausstrahlt, dass sich all das lohnt.
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